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Vor der Wahl zum Europäischen Parlament – Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur ein Randthema?

Ein Beitrag von Jerry Sommer in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
In der kommenden Woche wird ein neues Europäisches Parlament gewählt. Der Wahlkampf verläuft eher verhalten. Es gibt kein hervorstechendes Thema. Und auch die so manches Mal beschworene Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik spielt praktisch keine Rolle. Warum das so ist, dieser Frage ist Jerry Sommer nachgegangen:


Manuskript Jerry Sommer

Angesichts der Wahlen zum Europaparlament bekennen sich die meisten Parteien zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU – der sogenannten GSVP. Sie bekräftigen, diese weiter ausbauen zu wollen. Das Europäische Parlament hat allerdings in diesem Bereich nichts zu sagen – die GSVP ist ausschließlich Sache der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Trotzdem seien diese Positionierungen zu begrüßen, sagt Ronja Kempin von der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“:

O-Ton Kempin
„Es ist richtig von den Regierungschefs und Parteien, ganz gezielt auch mit der Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa zu werben. Denn die Integration im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich ist sicherlich das große Integrationsprojekt der Zukunft.“

Die EU-Mitgliedsstaaten verfügen insgesamt über 1,5 Millionen Soldaten. Die jährlichen Verteidigungsausgaben betragen 190 Milliarden Euro. Damit, so die Einschätzung des EU-Instituts für Sicherheitsstudien „ist die Europäische Union als Ganzes de facto immer noch die zweitstärkste Militärmacht der Welt“.

Allerdings nur auf dem Papier. Denn die sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation der EU-Staaten kommt nur im Schneckentempo voran. Zwar gibt es gegenwärtig 15 EU-Missionen, doch nur bei fünf spielen auch Militärs eine Rolle. Kampfeinsätze sind nicht darunter. Und auch die EU-Battle-Group, ein seit Jahren bestehender multinationaler Eingreifverband von rund 1.500 Mann, ist noch nie zum Einsatz gekommen. Denn alle Entscheidungen im sicherheitspolitischen Bereich müssen von den Regierungen der 28 EU-Staaten einstimmig getroffen werden. Das habe die EU-Missionen deutlich eingegrenzt, erklärt Hans-Georg Ehrhart vom Hamburger „Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“:

O-Ton Ehrhart
„Es ist kein Zufall, dass sich die EU nicht an größeren Kampfmaßnahmen beteiligt hat, sondern eher zivil-militärische Missionen macht oder solche, wo es eher um Ausbildung und kleinere Einsätze geht.“

Zum Beispiel werden bei den militärischen EU-Operationen in Mali, Somalia und Bosnien-Herzegowina vorwiegend lokale Streitkräfte und Polizisten von EU-Soldaten ausgebildet. Erst kürzlich hat die EU eine Mission für die Zentralafrikanische Republik beschlossen. Nachdem dort Frankreich im Alleingang vorgeprescht war, hatte der EU-Rat im Februar entschieden, eine 800 Mann starke Truppe zu entsenden, um dort im Rahmen eines UN-Mandates den Flughafen der Hauptstadt und Zivilisten zu schützen.

In den Programmen zur EU-Parlamentswahl sprechen sich CDU/CSU wie auch die SPD langfristig für eine Europäische Armee aus. Für Bruno Schoch von der „Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ ist das ein Reflex auf die globalen Machverschiebungen in der Welt:

O-Ton Schoch
„Dahinter steckt das Bewusstsein, dass in Zukunft nicht mehr die Amerikaner für alles zuständig sind und wir können 25 Jahre lang abrüsten. Das ist ein richtiger Punkt. Aber das heißt noch lange nicht, dass das Wichtigste eine europäische Armee ist. Es gibt ja einen riesigen Bereich an Aufgaben für aktive Außen- und Sicherheitspolitik.“

Auch wenn man dem Militärischen keine Priorität einräumen sollte, hält Bruno Schoch die Idee einer europäischen Armee prinzipiell für richtig. Wenn man das wolle, seien politische Hürden wie zum Beispiel der Besitz von Atomwaffen durch Großbritannien und Frankreich überwindbar. Schoch:

O-Ton Schoch
„Es ist ja außerordentlich schwierig für die beiden Länder ihre Force de Frappe und die Atom-U-Boote zu finanzieren – wieso kann man das nicht europäisieren - nach und nach?“

Die französischen und britischen Atomwaffen hält Ronja Kempin von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ hingegen für das größte Hindernis auf dem Weg zu einer europäischen Armee:

O-Ton Kempin
„Denn weder sind diese Staaten geneigt, diese Fähigkeiten zu vergemeinschaften, also allen 28 Mitgliedsstaaten die Kontrolle über ihre Atomwaffen zur Verfügung zu stellen. Noch sind die Mehrheit der übrigen Staaten geneigt, dieses Dispositiv politisch und finanziell zu unterstützen.“

Auch aus einem anderen Grunde hält Hans-Georg Ehrhart vom Hamburger „Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ eine Europäische Armee für nicht realistisch:

O-Ton Ehrhart
„Wer soll die Europäische Armee kontrollieren? Soll das Europäische Parlament ein ähnliches Kontrollinstrument bekommen, wie es der deutsche Bundestag hat? Das ist aus deutscher Sicht zu bejahen, aber aus Sicht der Franzosen und der Briten ist das undenkbar.“

Auch weitere Fragen werden von den Befürwortern einer Europäischen Armee nicht angesprochen oder gar beantwortet. Zum Beispiel: Welche Auswirkungen hätte eine Europäische Armee auf die NATO, in der die USA einen eigenständigen europäischen Pfeiler strikt ablehnen? Wie wären die völlig unterschiedlichen Sicherheitskulturen in Europa zwischen mehr interventionsfreundlichen und eher zurückhaltenden Staaten, zwischen NATO-Mitgliedern und neutralen EU-Staaten vereinbar? Und, so fragt Hans-Georg Ehrhart weiter:

O-Ton Ehrhart
„Welche Rolle spielt ein UN-Mandat? Besteht nicht die Gefahr, dass die EU sich zu einer traditionellen Großmacht entwickelt und damit anheizt, was sie eigentlich nicht will, nämlich Rüstungswettläufe mit den Nachbarn und Kontrahenten, die dann automatisch entstehen würden, wenn ein neuer starker Militärblock entstünde?“

Als ein Argument für eine Europäische Armee wird die Möglichkeit zu Einsparungen und größerer Effizienz angeführt. Doch schon beim sogenannten „Pooling and Sharing“, der gemeinsamen Planung und Beschaffung von Waffensystemen, wie sie von NATO und EU seit Jahren propagiert werden, gibt es gravierende Probleme. Denn kein Land möchte auf seine Rüstungsindustrie und ihre Arbeitsplätze verzichten. Außerdem wird angesichts der Krise in der Ukraine im Westen wieder verstärkt nach einer Ausweitung der Rüstungsausgaben gerufen. Das gegenwärtige Verhalten Russlands wird die zukünftige gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU auf jeden Fall beeinflussen, vermutet Ronja Kempin:

O-Ton Kempin
„In der EU dominiert die Sichtweise, dass militärische Fähigkeiten, die im Rahmen der GSVP eingesetzt werden, zunächst einmal ein friedenssicherndes Instrument und kein machtpolitisches Instrument sind. Jetzt muss man lernen, dass diese Sichtweise nicht überall so geteilt wird und sich zumindest einmal damit auseinander setzen, ob die Antwort, die man sich bis dato im Konzert der 28 gegeben hat, noch zeitgemäß oder richtig ist.“

Bruno Schoch erwartet ebenfalls, dass die Frage der Aufrüstung in der EU auf der Tagesordnung stehen wird, wenn sich die Ukraine-Krise weiter verschärft – auch unabhängig vom Thema Europäische Armee:

O-Ton Schoch
„Es wird aus den baltischen Staaten und Polen und den USA einen Druck geben zu sagen: wir brauchen auch militärische Mittel, um dieser Form von - ich sage jetzt einmal ‚ imperialem Expansionismus‘ - Einhalt zu gebieten.“

Eine solche neue Aufrüstung sei angesichts der Stärke der NATO-Staaten aber unnötig, meint Konfliktforscher Bruno Schoch. Auswirkungen der Ukraine-Krise auf die gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik erwartet auch der Konfliktforscher Hans-Georg Ehrhart. Die EU steht vor neuen Fragen:

O-Ton Ehrhart
„Will sie weiterhin wie bisher mit kleinen Missionen, meist die UNO-unterstützend - in Afrika in erster Linie -, intervenieren? Oder muss sie das Potenzial wieder umstellen im Sinne einer Bündnisverteidigung klassischer Art, wo der große potenzielle Gegner im Osten liegt? Ich würde das für falsch und überzogen halten. Aber ausschließen will ich das nicht.“

Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden kaum Auswirkungen auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU haben. Die Ukraine-Krise könnte aber ein Anstoß zu mehr Integration auch in diesem Bereich sein. Allerdings bleibt die Kernfrage, mit welcher Politik eine verstärkte Integration gefüllt wird. Ob diese friedenspolitisch wünschenswert ist oder nicht – darüber werden die Meinungen auseinandergehen.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 17. Mai 2014; www.ndr.de/info


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