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EU-Streit am Kriegsschauplatz

Beim Gipfel in Ypern werden alte und neue europäische Konflikte bearbeitet

Von Katharina Strobel, Brüssel *

Zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg tagen die EU-Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag in Ypern. Erst am Freitag geht es in Brüssel vor allem um den Streit um die EU-Spitzenposten.

Nach außen demonstrieren die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsstaaten Geschlossenheit im Angesicht des Grauens, das Europa vor 100 Jahren überfiel. Deutsche und Briten, die sich in der Region von Ypern über Jahre einen blutigen Grabenkampf lieferten, stehen an diesem Donnerstag gemeinsam vor den Gräbern einer halben Million Soldaten. Der kleine Ort nahe der belgischen Küste symbolisiert die Schrecken des Ersten Weltkrieges auf besondere Weise. Am 22. April 1915 setzten deutsche Truppen dort zum ersten Mal Chlorgas ein. Nun soll in Ypern ein Konflikt gelöst werden, nämlich jener, der die Europäische Union seit Wochen in zwei Lager teilt: pro und contra Jean-Claude Juncker als nächsten Chef der EU-Kommission.

Dabei geht es gar nicht um die Person Juncker. Der 59-Jährige ist über seine Ernennung als Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der größten Fraktion im EU-Parlament, ins Kreuzfeuer geraten. Bei der Frage um die Besetzung des Brüsseler Spitzenpostens geht es um Macht und die künftige Ausrichtung der EU. Der britische Premier David Cameron sprach sich von Anfang an kategorisch gegen Juncker aus. Cameron plädiert für einen Kandidaten, der die EU »modernisiert«. Notfalls will er eine Abstimmung erzwingen – das wäre ein Novum im Rat.

Eingeweihte vermuten allerdings, dass Cameron – der die Europawahl im eigenen Lande gegen die EU-feindliche Unabhängigkeitspartei (UKIP) verloren hat – dem Volk mit einer harten Haltung beweisen will, dass Großbritanniens Wort im Rat noch etwas zählt. Die Briten planen ein Referendum zum Verbleib in der EU, das 2017 stattfinden könnte. Nichts fürchten sie mehr als eine vermeintliche Machtübernahme durch Brüssel.

Fraglich blieb bis zuletzt auch, ob einzig die Personalie Juncker behandelt wird. Das zumindest berichteten EU-Diplomaten am Mittwoch gegenüber der dpa. Der italienische Regierungschef Matteo Renzi und seine sozialdemokratischen Kollegen hatten hingegen jüngst gefordert, der Gipfel müsse über ein umfassendes Personalpaket entscheiden. Für ihre Unterstützung für Juncker verlangen sie, andere Spitzenposten zu besetzen sowie eine Neuverhandlung der strikten EU-Sparpolitik. »Die bisher verfolgte Wirtschafts- und Finanzpolitik hat den Euro erhalten, aber hat kein Wachstum zugelassen«, kritisierte Renzi.

Auch Brüssel-intern ist ein Machtgerangel im Gange. Das EU-Parlament will endlich aus dem Schatten des Europäischen Rats heraustreten und als gleichberechtigtes Organ im europäischen Gesetzgebungsprozess wahrgenommen werden. Auch wenn es das formal noch nicht ist, gelang es der Institution mit der Ernennung der Spitzenkandidaten zur Europawahl, sich prominent in den Prozess der Rollenverteilung einzubringen, der bislang strikt den Regierungschefs vorbehalten war. Die Abgeordneten bestehen darauf, dass einer der Spitzenkandidaten den Kommissionsvorsitz bekommt, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gibt.

Was sagt das Ringen um Macht über den Zustand der EU aus? Die Debatte um die Spitzenkandidaten und die Personalie Juncker seien Ausdruck einer neuen Dynamik, glaubt Janis Emmanouilidis, Studiendirektor beim unabhängigen Brüsseler Think Tank European Policy Centre. Im Umgang damit agierten die Verantwortlichen nicht immer nachvollziehbar, fast tollpatschig. »Angela Merkel zeigte sich Juncker gegenüber erst kritisch, um sich später, auf Druck der Medien, hinter ihn zu stellen«, so der EU-Experte.

Nicht alle Politiker lassen sich auf die Juncker-Debatte ein und fordern stattdessen eine inhaltliche Diskussion. »Diskutieren Sie nicht nur über Menschen und die Jobs, die sie bekommen sollten, sondern konzentrieren Sie sich auf Politikinhalte für die Menschen,« ließ EU-Justizkommissarin Vivian Reding verlauten. Auf der Ratsagenda stehen noch weitere Themen: die Koordinierung der EU-Wirtschaftspolitik, die zukünftige Energie- und Klimapolitik und der Ausbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

Dass Machtfragen im Zentrum des Gipfels stehen, der auf den ehemaligen Schlachtfeldern zusammenkommt, gibt der Veranstaltung eine besondere Note. So geschlossen, wie es bei der Gedenkzeremonie den Anschein haben mag, sind die EU-Staatenlenker nicht. Das weiß auch EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy. »Wir sind nicht perfekt, aber für viele Leute außerhalb Europas sind wir ein Modell des Friedens«, sagte er. Wie vor 100 Jahren dominieren allerdings nationale Interessen die Agenda. Die neue Kraft, die in Form des EU-Parlaments in den Vordergrund drängt und sich als Vertretung aller europäischen Nationen versteht, macht heute immerhin einen Unterschied.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 26. Juni 2014


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