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Nicht wiederholbar, aber: Erinnern lohnt sich!

30 Jahre Krefelder Appell – "Der Atomtod bedroht uns alle – Keine Atomraketen in Europa"

Von Horst Trapp und Reiner Braun *

Der Krefelder Appell, der am 16. November 1980 öffentlich vorgestellt wurde, war ein Aufruf an die damalige Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa – Stichwort: NATO-Doppelbeschluss – zurückzuziehen und innerhalb der NATO auf eine Beendigung des atomaren Wettrüstens zu drängen. Er wurde von fast fünf Millionen Bundesbürgern unterzeichnet. Ein Rückblick auf die Ereignisse von vor 30 Jahren und deren Wirken bis in die Gegenwart. Der Nobelpreisträger Heinrich Böll, gehörte vor 30 Jahren zu den Unterzeichnern des Krefelder Appells. In einem Schreiben begründete er seinen Schritt. »Der uralte strategische Begriff Angriff ist die beste Verteidigung – den notfalls beide Seiten für sich in Anspruch nehmen würden –, macht Nach- und Aufrüstung im Zeitalter des Overkill zur Absurdität«. Weise Worte eines geachteten Literaten, die den Lebensnerv einer anwachsenden Zahl der Deutschen berührte.

Damals, im Zeitalter gegeneinander atomar hochgerüsteter Weltsysteme, galt, wer als erster schießt, stirbt als zweiter. »Die neuen Atomwaffen setzen das Rüstungsgleichgewicht außer Kraft«, so die Kritiker dieses neuerlichen Aufrüstungsschrittes, wodurch die Kriegsgefahr in Europa erhöht würde.

Es entwickelte sich breiter Widerstand, der im Krefelder Appell seinen deutlichsten Ausdruck fand. Der im Laufe weniger Monate millionenfach unterzeichnete Appell bestand nur aus einem einzigen Satz: Ich schließe mich dem Krefelder Appell an die Bundesregierung an, »die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen«. Die knapp 1000 Teilnehmer des Gesprächs vom 15. und 16. November 1980 hatten einen längeren Text beschlossen, dessen oben genannter Kernsatz zum Inbegriff des Friedenswillens vieler Menschen wurde.

Der von dem damaligen Bundeswehrgeneral Gert Bastian verfasste Text bildete die Grundlage des Gesprächs im Krefelder Seidenweberhaus, zu dem neben Bastian u.a. Petra Kelly, Martin Niemöller, Helmut Ridder, Christoph Strässer, Gösta von Uexküll und Josef Weber eingeladen hatten. In der Einladung hieß es: »Die Situation erscheint uns so dringlich, dass wir bisherige Vorbehalte im Gespräch zurückstellen sollten. Denn der Atomtod bedroht uns alle gleichermaßen«.

Der Krefelder Appell war Ergebnis der damaligen Bedrohung und der daraus resultierenden Ängste der Menschen. Er brachte die Probleme auf den Punkt, war unter Friedensbewegten konsensfähig und trug zur Polarisierung zwischen Rüstungsbefürwortern und Rüstungsgegnern bei. Die dabei erfolgte Politisierung ist aus den heutigen Auseinandersetzungen nicht mehr wegzudenken. Viele wünschen sich eine inhaltliche und strukturelle Wiederholung. Bis dahin nicht gekannte Allianz

In der Krefelder Initiative trafen drei Generationen zusammen, wie der Schriftsteller Dieter Lattmann beobachtete und Martin Niemöller immer wieder bewundernd bemerkte. Mit ihrem Appell entstand eine bis dahin nicht gekannte Allianz. Dass der General, die grüne Umweltaktivistin, ein sozialdemokratischer Abgeordneter und traditionelle »Friedenskämpfer« aus dem christlichen und linken Spektrum gemeinsam auftraten, war 1980 eine politische Sensation und eine Voraussetzung für die Ausstrahlungskraft dieser Initiative. Die Unterschriften wurden gezählt, notariell bestätigt, und der Bundesregierung und der Öffentlichkeit schubweise bis zum Stand von fünf Millionen mitgeteilt.

Die Liste prominenter Unterzeichner reichte von Wolfgang Abendroth und Heinrich Albertz bis Heidemarie Wieczorek-Zeul und Peter Zadek. Einfacher wäre es aufzulisten, wer aus dem linken und demokratischen Lager nicht unterzeichnet hatte. Die Sozialdemokraten Erhard Eppler und Peter Glotz gehörten dazu. Sie warnten vor dem kommunistischen Einfluss, ohne allerdings damit große Wirkung zu erzielen. Der gewissermaßen als Staatsdoktrin herrschende Antikommunismus konnte die Wirkung des Appells zwar behindern, verhindern konnte er seinen Einfluss auf die bundesdeutsche Gesellschaft jedoch nicht. Trug er doch dazu bei, dass die Mehrheit der Deutschen bis heute »kriegsunwillig«, ja pazifistisch eingestellt ist.

Wie so oft bei derartigen Kampagnen entwickelte sich die Zustimmung von unten nach oben; bei der SPD, den Gewerkschaften wie auch den Kirchen. Es ging dabei nicht nur um eine Unterschrift, sondern um ein großes Gespräch sowie einen allgemeinen Lernprozess. Die Menschen waren hoch motiviert und mobilisierten sich selbst. Demokratische Selbsttätigkeit wurde zu einer neuen Erfahrung. Die Gründung von Friedensinitiativen, die wie Pilze aus dem Boden schossen, war für viele eine wichtige Erfahrung der Selbstorganisation und des eigenen Engagements.

Der Appell wurde von Anhängern aller Parteien im Bundestag, den Grünen und der DKP getragen; von vielen Jugendorganisationen; von Mitgliedern der Gewerkschaften und Angehörigen der Verbände beider Konfessionen; von der Ökologiebewegung und der Deutschen Friedensunion (DFU); von Frauenorganisationen aller Richtungen, Studentenverbänden, Jugendringen und Schülervertretungen; von Künstlern, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Publizisten.

Trotz immer wiederkehrender Angriffe blieb es beim überparteilichen Charakter des Krefelder Appells. Den respektierte auch die DKP, die engagiert mitwirkte und deren Mitglieder sich beachtlich für den Appell einsetzten. Die DKP war ebenso wie die DFU Bestandteil – nicht Stichwortgeber – dieses breiten gesellschaftlichen Bündnisses für den Frieden. Im Kreis der Initiatoren fielen die politischen und organisatorischen Entscheidungen.

Besonders spektakulär war der Einfluss des Krefelder Appell auf dem Hamburger Evangelischen Kirchentag 1981. 55 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterzeichneten den Appell. »Weil Christus kein Killer ist, haben die Apostel des Overkills mit seinem Evangelium nichts zu tun«, so Uta Ranke-Heinemann.

Die Veränderungen der friedenspolitischen Positionen der SPD vom Ja für zum Nein gegen die Atomwaffen ist sicherlich auch dem Krefelder Appell zuzurechnen. Veränderungen auch von festgefahren Positionen sind durch das Engagement vieler Menschen, das seinen organisatorischen und politischen Ausdruck finden muss, möglich.

Die Krefelder Initiative verstand sich auch als inspirierendes und einigendes Dach der neu entstehenden berufsbezogenen Friedensinitiativen. Über deren Funktion schrieb Professor Peter Starlinger von der Naturwissenschaftler-Initiative, dass sie spezifische berufliche und fachliche Erfahrungen in die politische Diskussion einbringen können. Die Krefelder Initiative stellte in einer Veröffentlichung 20 »Berufsbezogene Initiativen« vor. Sie reichten von Architekten für den Frieden und Betrieblichen Friedensinitiativen bis Sportler gegen Atomraketen und Sprachwissenschaftler für den Frieden. Viele bestehen noch heute.

Die Krefelder Initiative stand weiter für vielfältigen Aktivitäten wie große Foren, Künstlerfeste, ein deutsch-amerikanisches Friedensfest, eine internationale Friedensstafette, Aktionen der »Berufsbezogenen Friedensinitiativen« und örtliche Diskussionsrunden. Politische Foren gab es 1981 in Dortmund, 1983 in Bonn und 1984 wiederum in Dortmund. Bei den Künstlerfesten 1981 in Dortmund und 1982 in Bochum mit über 200 000 TeilnehmerInnen, 1984 in Dortmund und 1985 in Hannover beteiligten sich namhafte Künstler wie Harry Belafonte, Gitte Haenning, Miriam Makeba, Udo Lindenberg, Hannes Wader und André Heller.

Auch Anstöße zu weiteren Aktionen gingen von den »Krefeldern« aus. So entstand ein neuer friedenspolitischer Diskurs von unten, der nicht nur Atomwaffen prinzipiell ablehnte, sondern die NATO als Zentrum des Militarismus generell infrage stellte. Zivile Konfliktbearbeitungsstrategien wurden verstärkt entwickelt. Dabei spielte die (damals noch) pazifistische Partei »Die Grünen« eine wichtige Rolle. Ihr erstmaliger Einzug in den Bundestag 1983 war ein Meilenstein auch für parlamentarische Veränderungen.

Nach dem Scheitern der Regierung Schmidt 1982 stimmte der Bundestag unter Kanzler Kohl im Jahr 1983 mehrheitlich der Stationierung der neuen Atomraketen zu. Die »Krefelder« entwickelten daraufhin im November 1984 die neue Kampagne »Hiroshima mahnt – Stoppt den Rüstungswahnsinn«. Die atomare Aufrüstung sollte demnach gestoppt, die militärische Nutzung des Weltraums verboten und der Rüstungshaushalt eingefroren werden.

Atomkriegsgefahr auch heute nicht gebannt

Zwar gaben die friedenspolitischen Vorschläge Michail Gorbatschows der Perspektive einer Welt ohne Atomwaffen neue Impulse. Doch heute, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, ist die Gefahr eines Atomkrieges nicht gebannt. Völkerrechtswidrige Kriege um politischen und wirtschaftlichen Einfluss drohen zu eskalieren, Atomwaffen lagern einsatzbereit nach wie vor auch auf deutschem Boden, und der Einsatz atomarer Waffen ist weiterhin Bestandteil der Kriegsführungsstrategien.

Widerstand entwickelt sich konkret, 1980 wie heute. Gegen Stuttgart 21, die Atomenergie oder auch gegen neue Kriege. Spontan oder organisiert. Dabei werden grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Aktionstätigkeit deutlich. So durch das Internet und die gesamte elektronische Kommunikation, durch die viel stärkere internationale Vernetzung des Protestes, aber auch durch das deutlich erkennbare kurzfristige und projektorientierte Engagement der handelnden Akteure.

Heute sollen die Deutschen im Zuge einer Neujustierung der deutschen Außen- und Militärpolitik wieder an den Krieg gewöhnt werden. Neue Propagandamuster ersetzen den historischen Antikommunismus, genannt seien nur die Stichworte »Terrorismus« und »Islam«. Da ist es angebracht, sich zu erinnern. Der Krefelder Appell und die Bewegung, die sich um ihn herum entwickelte, brachten zwar nicht das unmittelbar angestrebte Ergebnis. Sie führten jedoch zu einem Bewusstseinswandel und dem Glauben an die eigene Kraft, wie sich in zahlreichen aktuellen Auseinandersetzungen zeigt. Die damaligen Auseinandersetzungen verweisen aber auch darauf, dass außerparlamentarische Initiativen die gesellschaftliche Hegemonie in politischen Fragestellungen gewinnen können.

Für die Friedensbewegten unterstreicht der Rückblick auf den Krefelder Appell: Es ist gut und wichtig, sich organisationsübergreifend auf überschaubare Ziele zu einigen, und um diese eine Auseinandersetzung zu führen. Das ist bekanntlich nicht immer einfach, weil die zahlreichen Organisationen und Initiativen breit gefächerte spezifische Ziele verfolgen. Im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan ist das Zusammenführen mit dem gemeinsamen Appell jedoch ebenso gelungen wie beim Kampf gegen die Atomrüstung.

Der Krefelder Appell ist nicht wiederholbar, aus den dabei gemachten Erfahrungen lernen können wir allemal. Erinnern lohnt sich.

* Horst Trapp und Reiner Braun gehörten der Krefelder Initiative an

Aus: Neues Deutschland, 13. November 2010



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