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Aspekte der politischen und historischen Entwicklungen der Friedensbewegung der Bundesrepublik Deutschland*

Von Willi van Ooyen

Das "Nie wieder Krieg" von 1945 war der politisch-moralische Anknüpfungspunkt für die Friedensbewegung und eine in vielfältigen Formen des Pazifismus auftretende gesellschaftliche Grundströmung in Deutschland. In ihr fokussieren die grundsätzlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Brüche in der Geschichte Nachkriegs-Deutschlands. Seit Bekanntwerden der Aufrüstungspläne des westdeutschen Staates, gab es Alternativen zu dieser Außen- und Militärpolitik. Organisationen, Gruppen oder auch Parteien, die sie vortrugen, wurden abhängig von der jeweiligen politischen Situation, manches Mal wenig oder auch deutlicher wahrgenommen. Manchmal agierten sie gänzlich gegen die herrschende Meinung in schier auswegloser Situation. Zu ihren Aktivitäten unter weitgehendem Ausschluss des Publikums fühlten sie sich moralisch verpflichtet.

Dann wiederum wuchs ihre Zahl an, sie konnten nicht mehr ignoriert werden. Und manchmal wurde der entfachte Druck auf die Regierenden so groß, dass man sie wahrnahm, zunächst als Illusionisten beschimpfte, um sich schließlich mit ihren Argumenten ernsthaft auseinander zu setzen. So wuchs die Friedensbewegung in der Raketenauseinandersetzung sprunghaft an, trat über sich selbst hinaus, jenes bunt gemischte Lager aus vielfältigen Gruppierungen vom linken Spektrum bis hin zu religiös motivierten Anhängern des Prinzips der Gewaltfreiheit. Durch ihren Anspruch, mit Überzeugungsarbeit eine Mehrheit der Bevölkerung für ihre Ziele zu gewinnen, wurde sie kampagnefähig und erreichte zeitweilig Einfluss auf politische Entscheidungen.

So darf es niemanden wundern, dass in der Öffentlichkeit die Frage nach dem Verbleib der Friedensbewegung immer wieder gestellt und der Zahlenvergleich mit den großen Aktionen im Bonner Hofgarten stets aufs Neue vorgenommen wird. Immer wieder muss neuen Generationen von Journalisten, etwa im Zusammenhang mit den Ostermärschen, verständlich gemacht werden, dass die Friedensbewegung Überzeugungsarbeit nach außen, aber auch nach innen zu leisten hat. Friedensbewegte Menschen beteiligen sich dann an Aktionen, wenn sie den Eindruck haben, damit etwas in ihrem Sinne verändern zu können. In die Friedensbewegung tritt man nicht ein oder auch wieder aus. Man macht mit oder bleibt einfach weg. Das besondere Kennzeichen der deutschen Friedensbewegung ist ihre Kontinuität. Dabei geht es weniger um die großen landesweiten Strukturen wie früher etwa der Koordinierungsausschuss oder die Krefelder Initiative. Gemeint sind damit die zahlreichen örtlichen Initiativen, die ihre Arbeit nie eingestellt haben und die immer wieder recht kurzfristig eine größere Zahl friedensbewegter Menschen ansprechen können. In den Hochzeiten der Friedensbewegung gehörte man einfach dazu, hatte sein Logo irgendwo angebracht, und verbreitete eine Stimmung des Miteinander und des sich gegenseitig Respektierens. So bleibt für viele Beteiligte das Protesterlebnis, die Erfahrung der großen Schar, eine markante Erinnerung, als Moment in ihrer Biographie, in dem sie aus ihrem Alltag herausgetreten sind und für sie Ungewöhnliches getan haben. Um so wichtiger ist es, sich des Kontextes von Friedensbewegung in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik zu vergewissern und die Bedeutung der Friedensbewegung in deren Schlüsselphasen abzuwägen.

Der politische Weg der Bundesrepublik ist geprägt durch scharfe innenpolitische Auseinandersetzungen über sicherheitspolitische Fragen: Zu Beginn der fünfziger Jahre über die Frage der Wiederbewaffnung, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre über die Atombewaffnung der Bundeswehr und 25 Jahre später der Streit um die Mittelstreckenraketen. Besonders in den ersten beiden Auseinandersetzungen kam es im Bundestag zu Sternstunden des neuen deutschen Parlamentarismus, wenn in rhetorisch eindrucksvollen Beiträgen Kritiker der Regierungspolitik mit Blick auf die Geschichte Grundfragen zum Verständnis deutscher Politik in diesem Jahrhundert aufwarfen und ihre Gegner mit nicht minder großer Anstrengung den Weg der Regierung zu verteidigen suchten.

Es ging um große Fragen: die Neubestimmung der Rolle Deutschlands in der internationalen Politik, nach der Naziherrschaft und nach dem Terror des Ersten Weltkrieges. Würde Deutschland, nach der Erfahrung der Niederlage in zwei Weltkriegen, zu einem Revanchekrieg antreten, stünde den Deutschen ein Sonderweg zu, etwa ihre Neutralisierung zwischen Ost und West (und damit womöglich die staatliche Einigung, so eine der Optionen bis ins Jahr 1990), oder wäre die weitgehende Westintegration der Bundesrepublik der beste Weg? Man wird die Bitterkeit der Auseinandersetzungen um den Kurs der deutschen Militärpolitik Anfang und Mitte der 50er Jahre nicht verstehen können, wenn man solche fundamentalen Dimensionen nicht mit in den Blick nimmt. Es ging und es geht um die Rolle der Deutschen in der Welt, die sich heute, wie es heißt, ihrer "größeren Verantwortung" stellen müssen.

Friedensbewegung war nie neben der später an Bedeutung gewinnenden Ökologiebewegung, Dritte Welt-Gruppen oder der Frauenbewegung eine weitere Einpunkt-Bewegung. Eine solche Auffassung würde den Grundstreit um den künftigen Weg Deutschlands nie verstehen können. In der Friedensbewegung lässt sich der Bürgerstreit um die Grundorientierung des politischen Gemeinwesens Bundesrepublik in Fragen der Außen- und Militärpolitik zusammenfassen. In der Raketenauseinandersetzung war es daher völlig klar, dass es verschiedene Zugänge der Betroffenheit zum Mitmachen gab. Gegen den Atomtod brachte die Friedensbewegung im Jahre 1958 bei ihren Demonstrationen über 300 000 Teilnehmer auf die Beine. In den 60er Jahren erreichten die jährlichen Ostermärsche im Jahre 1968 einen Höchststand von 150 000 Teilnehmern. In den 70er Jahren gab es Demonstrationen kleineren Umfangs, die sich im wesentlichen mit Fragen der Abrüstung und der europäischen Sicherheit beschäftigten. Angesichts der erfolgreichen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ging es nunmehr vorrangig um die Umsetzung der Verträge, als deren wichtigster Bestandteil die Abrüstung angesehen wurde. Solche Ziele auch über Parlament und Regierung zu realisieren, waren Hoffnungen, die mit der Kanzlerschaft von Willy Brand verbunden waren. Die Aussöhnung mit dem Osten, das "Demokratie wagen" (trotz der einsetzenden Berufsverbotepolitik) weckte Hoffnungen, die außerparlamentarische Aktivitäten verlangsamten.

In den 80er Jahren zogen die Demonstrationen gegen die Pershing II und die Cruise missiles im Jahre 1981 300.000, im Jahre 1982 500.000 und im Jahre 1983 etwa eine Million Menschen an.

Während es anfangs noch die Kriegsgeneration war, die sich mit dem "nie wieder" auf die Straße begab, waren es in den achtziger Jahren solche Menschen, die in den vielfältigen Auseinandersetzungen wie Ostermarsch, gewerkschaftliche Kämpfe oder Ökologiebewegung ihre Erfahrungen gesammelt hatten. Das besondere Motiv war die Bedrohungsangst, die auch später im Zweiten Golfkrieg jüngere Menschen auf die Straße trieb.

Die 50er Jahre brachten zwei zentrale sicherheitspolitische Fragestellungen: die Frage nach der Wiederbewaffnung selbst und die nach Atomwaffen. 1955 trat Westdeutschland der NATO bei und stellte eine neue Armee auf; 1958 gestattete Bonn den USA die Stationierung von taktischen Atomwaffen. Zusätzlich zur Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten in Fragen der Sicherheitspolitik schloss die militärische Integration in den Westen für Deutschland für die Dauer des Kalten Krieges die Wiedervereinigung aus. Die Regierung versagte darin, die Ängste der Bevölkerung im Hinblick auf diese Fragen abzubauen, ebenso wie dies die SPD in ihrer oppositionellen Rolle nicht zu leisten vermochte. Die Mobilisierungsfähigkeit der Friedensbewegung profitierte zudem vom Fehlen konkurrierender außerparlamentarischer Bewegungen.

Eine beträchtliche Mehrheit der Bevölkerung nahm die sowjetische Bedrohung als durchaus konkret wahr. Demgegenüber wurden die Vereinigten Staaten als "Führer der freien (demokratischen) Welt" und als Quelle der militärischen Sicherheit wahrgenommen. So ergab es sich, dass trotz der Sorge in der Bevölkerung über die Wiederbewaffnung und die Atomwaffen die Neutralisierungsvorschläge der Friedensbewegung dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit nicht ausreichend entsprachen. Letztlich erhielt Adenauers Regierung die breite Zustimmung der Wähler für eine Politik, die zu wirtschaftlichem Wohlstand geführt hatte. Auch dies wirkte der Mobilisierungsanstrengung entgegen.

In den 70er Jahren kamen die Entspannungspolitik und Rüstungskontrolle etwaigen Befürchtungen in der Bevölkerung entgegen. Obgleich das Protestpotential anstieg, sorgte es nicht für ein Anschwellen der Friedensbewegung, da andere Fragen wie Ökologie und Feminismus in der außerparlamentarischen Auseinandersetzung eine beachtliche Rolle spielten. Außerdem war während Willy Brandts Kanzlerschaft die Regierungspolitik relativ populär, besonders bei den Friedensbewegten. Die Auflösung der gesellschaftlichen Verkrustungen, die in dieser Zeit durch die Auseinandersetzung der 60er Jahre (68er) erreichbar schienen, führten zu einer gewissen Abwartehaltung.

In den 80er Jahren ergaben sich hingegen für die Friedensbewegung außerordentlich günstige Gelegenheiten, so dass es zur Formierung der größten Friedensbewegung kommen konnte, die Westdeutschland jemals gesehen hatte. Indem die NATO ankündigte, unter bestimmten Umständen neue Raketen zu stationieren, sorgte sie dafür, dass Atomwaffen im öffentlichen Bewusstsein enorme Bedeutung gewannen. Außerdem verschaffte die Entwicklung der internationalen Politik der Friedensbewegung größere Beachtung als in früheren Jahren. Rüstungskontrolle, Entspannung und Ostpolitik hatten dazu beigetragen, die Furcht vor der Sowjetunion abzubauen; zudem wurden von der Bevölkerung diese Politikoptionen der militärischen Konfrontation vorgezogen. Gleichzeitig erlitt die Politik der Vereinigten Staaten einen empfindlichen Ansehensverlust. An die Erfahrungen des Vietnamkriegs anknüpfend, stellten viele Deutsche die amerikanische Führungsrolle während der 70er und 80er Jahre in Frage; dies galt besonders für den Beginn der Präsidentschaft Reagans, weil dessen Politik von vielen als militärisches Abenteurertum wahrgenommen wurde.

Angesichts der Tatsache, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt den "NATO-Doppelbeschluss" initiiert hatte, waren die wichtigsten Regierungs- und Oppositionsparteien nicht bereit, sich der in der Bevölkerung verbreiteten Ängste vor der nuklearen Vernichtung wirklich anzunehmen. Statt dessen wurde die Friedensbewegung zum wichtigsten Faktor für die Opposition gegen die neuen Raketen. Die Grünen waren wichtige Akteure in der Friedensbewegung; ihr Aufstieg fiel tatsächlich eher mit dem der Friedensbewegung zusammen, als dass sie mit dieser um das Protestpotential konkurriert hätten. Darüber hinaus hatte sich in der Gesellschaft insgesamt ein hohes Protestpotential aufgebaut, welches sich in den neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre niederschlug. Günstig dafür, dass die Friedensbewegung erfolgreich um das Protestpotential der Gesellschaft konkurrieren konnte, war zudem der Umstand, dass die Ökologie und der Feminismus im Hinblick auf ihre Mobilisierungsfähigkeit ihre Höhepunkte bereits überschritten hatten. Zu guter Letzt hatte die Regierungspolitik der sozialliberalen Koalition Anfang der 80er Jahre Teile ihrer Wählerschaft sichtlich enttäuscht, was die von Willy Brandt in Aussicht gestellte Demokratisierung der Gesellschaft und die Reform der Wirtschaft anbelangte. Zugleich waren Entspannung und Ostpolitik in die Sackgasse geraten. Der Friedensbewegung kam eine wachsende Unzufriedenheit mit der Innen- und Außenpolitik zugute.

Neben diesem "Minimalkonsens", der mehr oder minder von der gesamten Bewegung geteilt wurde, formierten sich viele Gruppen um die Friedensbewegung, nachdem sich für sie die enger definierte Friedensfrage in einem Prozess des "Überlappens von Anliegen" oder der "Vermischung" mit den Fragen verbunden hatte, die ihnen ansonsten politisch am Herzen lagen. In Phasen intensiver Mobilisierung verschaffte dieser Prozess der Bewegung einen zwar heterogenen, aber doch soliden Kern entschlossener Mitstreiter. Die zahlreichen Initiativen und Aktionen von Organisationen und Parteien der Linken (wie der KPD) gegen Aufrüstung und Kriegspolitik werden hier nicht gesondert aufgeführt. Besondere Erwähnung finden solche Organisationsstrukturen, die im Zusammenhang mit dem Krefelder Appell entstanden und in besonderer Weise sein Anliegen unterstützten.

I Remilitarisierung

Meinungsumfragen zufolge favorisierte bis zur Kubakrise 1961 eine Mehrzahl ihrer Bürger die politische Neutralität der Bundesrepublik, und nur eine Minderheit trat für eine strikte Westintegration ein. Der mit Schärfe ausgetragene Streit über die Wiederbewaffnung und die deutsche Mitgliedschaft in der NATO geriet nicht nur zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Grundlinien der künftigen Sicherheitspolitik, sondern über das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik im allgemeinen. Die Regierung Adenauer hatte ein Jahrzehnt lang den Spagat zwischen der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung und ihren eigenen Intentionen in der Sicherheitspolitik zu meistern.

Widerstand kam nicht nur von der traditionellen Linken in vielfältiger Form, u.a. durch die Bewegung für Volksbefragung gegen die Wiederaufrüstung. Auch das nationalliberale Lager meldete sich vehement zu Wort. Rudolf Augstein, Herausgeber des Spiegel, resümierte in einem Beitrag "Waffen statt Politik": "Die neue Armee wurde nicht gegründet, um den Bonner Staat zu schützen, sondern der neue Staat wurde gegründet, um eine Armee gegen die Sowjets ins Feld zu stellen - mag diese Ratio den Paten im In- und Ausland auch nicht voll bewusst gewesen sein." (Augstein 1961: 48)

Für Augstein wurde somit "militärischer Druck die Quintessenz bundesrepublikanischer Staatsraison". (ebenda)

Widerstand gab es aus SPD und Gewerkschaften. Wichtiger Ausdruck war das "Deutsche Manifest" der Paulskirche, das der Regierung das Recht absprach, über den Beitritt in das militärische System des Westens und damit gegen die Wiedervereinigung zu entscheiden. Zu den zahlreichen prominenten Kritikern der Wiederaufrüstung gehörten auch Gustav Heinemann und die Gesamtdeutsche Volkspartei. Wichtig bleibt der Befund, dass der Dissens mit der regierungsoffiziellen Sicherheitspolitik in den frühen fünfziger Jahren von wortgewaltigen Meinungsbildnern angeführt wurde.

II Kampf dem Atomtod

Die Pläne der Regierung Adenauer, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten, waren sehr viel konkreter, als allgemein bekannt geworden ist. Besonders Arbeiten französischer Historiker, die aus nunmehr offenen Akten zitieren, haben hier Neues ans Licht gebracht. Verteidigungsminister Strauß nahm seinerzeit zu diesen hochgeheimen Verhandlungen keine Begleitung mit, er fertigte handschriftlich Notizen, die er nicht einmal mit in sein Ministerbüro in Bonn nahm.

Für Konrad Adenauer überschattete der Streit um die Atomrüstung der Bundeswehr, so seine Erinnerungen, "im Sommer 1957 das gesamte Feld der Politik" (Adenauer 1967: 296). Im April dieses Jahres hatte der Kanzler durch einen verharmlosenden Vergleich einen Sturm der Empörung ausgelöst: Taktische Atomwaffen seien doch nichts anderes als "eine Weiterentwicklung der Artillerie" (ebenda). Auf einer Fachtagung kamen 18 prominente deutsche Kernphysiker am 11. April 1957 zu dem Entschluss, ein öffentliches Manifest gegen die Atomrüstung zu verfassen, welches der Nobelpreisträger Otto Hahn am Folgetag der Presse zugänglich machte. Der Kernsatz des Manifestes: "Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen zu beteiligen." (Bopp/ Born/ Fleischmann u.a. 1957)

Kanzler Adenauer bestellte die 18 Protestierenden ins Kanzleramt ein. Die Professoren hörten Vorträge der Generale Heusinger und Speidel über die militärische Lage, in denen das Problem betont wurde, unterschiedlich ausgerüstete NATO-Streitkräfte einheitlich zu führen. Die bald so benannten "Göttinger 18" hielten jedoch an ihrer Erklärung fest und gründeten in der Folge gar eine eigene Organisation, um ihrem Dissens zur Nachhaltigkeit zu verhelfen, die "Vereinigung Deutscher Wissenschaftler" (VDW). Da im Frühjahr 1957 in Vorbereitung des trilateralen französisch-deutsch-italienischen Bombenprojektes auch einzelne Kernphysiker angesprochen worden waren, wussten die Göttinger, dass sie sich nicht gegen ein Phantom wandten. Der Schritt der gutbürgerlichen Professoren wurde zum Auslöser einer breiten Volksbewegung gegen die atomare Ausrüstung der Bundeswehr und gegen die Gefahren des Atomtods überhaupt. Dass "die Wissenschaftler selbst die Öffentlichkeit alarmierten" (Kurscheid 1981: 18), war die eigentliche Sensation. Die Göttinger stärkten entscheidend die Friedensbewegung, unter dem Eindruck der 18 entzündete sich noch im Mai 1957 die leidenschaftlichste außenpolitische Debatte der fünfziger Jahre. Die sozialdemokratische Opposition forderte nicht nur, die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu unterlassen, sondern verweigerte auch die Zustimmung zur Lagerung und Stationierung von Atomraketen durch die NATO-Partner. Politische Streiks begleiteten die Ostermärsche des folgenden Jahres. "72 Prozent der Bevölkerung sprachen sich in Umfragen gegen eine Atombewaffnung aus." (Jogischies 1987) Auch 1957 brauchte die Friedensbewegung augenscheinlich, wie bei ihrem Anlauf gegen die Wiederaufrüstung, Leitfiguren, diesmal achtzehn Professoren.

Der Atomprotest war gewiss nicht, auch vorrangig nicht, eine deutsche Angelegenheit. Vielmehr entwickelte die Friedensbewegung in dieser Phase gemeinschaftliche Handlungsformen in verschiedenen Ländern. Tonangebend (wie auch in der folgenden Protestbewegung der achtziger Jahre) wurde die britische Protestbewegung, mit der im Frühjahr 1958 begründeten "Campaign for Nuclear Disarmament" (CND). CND entwickelte sich 1959 zur größten politischen Massenbewegung Englands seit 25 Jahren. Beispielhaft wirkte vor allem der erste "Ostermarsch" hin zum britischen Atomwaffenzentrum Aldermaston, dem Urmuster für bald folgende Ostermärsche in einer Vielzahl europäischer Länder. Umfragen zufolge waren seinerzeit 85 Prozent der Briten gegen die Nuklearpolitik ihrer Regierung eingestellt. Die Implementierung der Idee, solche Märsche in der Bundesrepublik anzugehen, ist mit dem Namen Martin Niemöller aufs engste verbunden, der in den 60er Jahren zu einer Leitfigur der deutschen und internationalen Friedensbewegung wurde.

III Neutronenbombe

Die Debatte über die "Nachrüstung" mit Mittelstreckenraketen fand eine Parallele im Streit über die so genannte Neutronenbombe. Egon Bahr formulierte in der Parteizeitung der SPD die bald weit verbreitete Schlagzeile: "Ist die Menschheit dabei, verrückt zu werden? Die Neutronenbombe ist ein Symbol der Perversion des Denkens." (Bahr 1977: 4) Kanzler Schmidt und sein Verteidigungsminister Leber hatten eine schwere Zeit, den Deutschen die Notwendigkeit der Einführung der Neutronenbombe plausibel zu machen. Der Streit um die Neutronenwaffe entwickelte sich rasch zu einem Anwachsen einer entsprechenden Gegenbewegung, die vor allem von den Niederlanden ausging.

Im April 1978, nach einem halben Jahr heftiger Kontroverse, überraschte US-Präsident Carter Kanzler Schmidt mit der Entscheidung, das Projekt Neutronenwaffen nicht weiter zu verfolgen. Ebenso plötzlich, wie sie entstanden war, endete die Auseinandersetzung um die Neutronenwaffe und mit dieser die Protestbewegung gegen sie.

IV "Nachrüstung" mit Mittelstreckenraketen

Kanzler Helmut Schmidt war der erste, der die Frage nach einem Ausgleich für die sowjetische Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen aufbrachte. Er nutzte die Situation, seinem ungeliebten Allianzführer in Washington zu verdeutlichen, dass der den Vorgang nicht angemessen begreife, und suchte im Westbündnis die Meinungsführerschaft in dieser Auseinandersetzung gegen Washington durchzusetzen.

Es kam in der Bundesrepublik zu einer breiten Kampagne zur besseren Information der Allgemeinheit über Kernwaffen. Die Raketenkrise stellte sich als Doppelkrise dar. Zum einen als gefährlich eskalierende Krise im Ost-West-Wettrüsten. Deren Eindämmung durch arms control schien in Instabilität unterzugehen. Zum anderen handele es sich um eine Krise im Verhältnis von weiten Teilen der Bevölkerung und engagierten Vertretern der Medien auf der einen Seite und mit den Sicherheitseliten und der von diesen in der Raketenfrage getragenen Regierung auf der anderen Seite. Bei der Nagelprobe des Doppelbeschlusses, Nachrüstung zu betreiben, um Verhandlungen zu erreichen, versagte ein gewichtiger Teil der politischen Öffentlichkeit, eben die neue Friedensbewegung, den Regierenden den Gehorsam und fand das Spiel viel zu riskant. Das Motto war, wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter:
Auch Teile der "Eliten" gingen auf Distanz. Bekannt wurden vor allem vormalige Generale, die nach ihrer Pensionierung wissen ließen, dass sie den offiziellen Kurs für falsch hielten und dass sie nunmehr der Friedensbewegung zugehörig seien.

Politisch waren in der Friedensbewegung der achtziger Jahre ferner Persönlichkeiten engagiert, die anderthalb Jahrzehnte später zum Spitzenpersonal der Bundesregierung zählten. Neben Gerhard Schröder ist auf Oskar Lafontaine zu verweisen, der seinerzeit im Vorwort zu einem der Nachrüstung kritisch gegenüberstehenden Taschenbuch - die Motivation der Friedensbewegung souverän einfangend - festhielt:
"Die Diskussion um die ‚Nachrüstung' in der Bundesrepublik Deutschland hat vielen Menschen die atomare Bedrohung bewusst gemacht. Es ist wichtig, dass wir die Tatsache nicht verdrängen, dass jede Minute das Ereignis eintreten kann, dass das Leben auf der gesamten Welt vernichtet. Es ist wichtig, dass wir die letzte Chance ergreifen, dem atomaren Selbstmord der Menschheit entgegenzutreten." (Lafontaine 1982: 7)

Von großer Bedeutung war ferner das Auftreten führender Naturwissenschaftler, denen man zutraute, über die Wirkung moderner Massenvernichtungswaffen kompetent Auskunft geben zu können. Nicht nur Kirchenleitungen und Direktoren Evangelischer Akademien begriffen damals, dass die bundesdeutsche Gesellschaft sich angesichts einer Herausforderung in einer Weise zu artikulieren suchte, die man nicht einfach beiseite schieben könne. Die Absolutheit des Vernichtungswillens wirkte besonders alarmierend. Die Alternativlosigkeit, welche das fortgesetzte Nuklearrüsten augenscheinlich charakterisierte, wirkte provozierend (vgl. Senghaas 1972).

Die Friedensbewegung proklamierte folglich die Abkehr vom Gebäude nuklearer Abschreckung. Dieses Bild wurde mehr und mehr ersetzt vom "Europäischen Haus", in dem alle europäischen Nationen miteinander auszukommen hätten. "Zum ersten Mal wurde der sonst nur Expertenkreisen vorbehaltene Bereich Sicherheitspolitik und Militärstrategie öffentlich breit diskutiert und die in Politik und Militär Verantwortlichen mussten ihre Entscheidungen vor der wachsamen und wachsenden Kritik der Bevölkerung mit großem Aufwand legitimieren. Doch durch das außerparlamentarische Engagement der Friedensbewegung und auch indirekt die Aufklärungsarbeit der Friedensforschung wurde ein bis dato der öffentlichen Kontroverse verschlossener Bereich im großen Maße demokratisiert, d.h. für die Bevölkerung transparenter." (Wasmuht 1998: 344)

V Krefelder Appell

Neben der Krefelder Erklärung aus rund zwei Seiten gab es eine Kurzfassung als Krefelder Appell. Die Kurzfassung wurde in den Unterschriftenlisten, die seit Dezember 1980 zirkulierten, aufgeführt. Ihr Text stammte aus den politischen Forderungen in der Langfassung. Zugleich zielte die Kurzfassung vom 16. November 1980 auf den politischen Kern:
"Wir appellieren an die Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen."

Trotz zahlreicher Versuche aus den damaligen Regierungsparteien, diesen Appell als einseitig abzuqualifizieren, machten sich Friedensbewegte praktisch aller politischen Richtungen die damit verbundene Initiative zu eigen, was in der Folgezeit zur millionenfachen Unterzeichnung des Appells führte.

Zu Recht konnte gesagt werden, dass hiermit eine neue Form der Zusammenarbeit der Friedensbewegung über bisherige Grenzen erreicht wurde. In der genannten Formulierung, verschiedentlich abwertend als Minimalkonsens bezeichnet, ließ sich das zusammenfassen, worum es vorrangig ging: die weitere atomare Aufrüstung zu stoppen. Die Bereitschaft der Staaten des Warschauer Vertrages zu Abrüstungsverhandlungen und zur einseitigen Abrüstung wurden in weiten Kreisen ernst genommen und trugen zum Anwachsen der größten Protestbewegung der Nachkriegszeit bei.

VI Berufsbezogene Friedensinitiativen

Die Krefelder Initiative verstand sich auch als organisatorisches Dach für die "berufsbezogenen Friedensinitiativen". Im Mitteilungsblatt der Initiative wurden sie wie folgt charakterisiert:
"Seit einigen Jahren existieren die berufsbezogenen Initiativen. In dieser Zeit haben sich unterschiedliche Strukturen herausgebildet: Einige haben Vereine mit einer festen Mitgliedschaft gebildet, wie die IPPNW und die Naturwissenschaftler-Initiative, andere arbeiten als lose Zusammenschlüsse. Alle Initiativen arbeiten in einem bundesweiten Gremium. Bei einigen, wie z.B. der Sportler-Initiative, gibt es darüber hinaus noch örtlich arbeitende Initiativen. Neu war, dass sich hier Menschen zusammenfanden, die aus einer Berufsgruppe kamen und sich zwar als Teil der Friedensbewegung verstanden, ihre Hauptaufgabe aber darin sahen, die Friedensthematik Kolleginnen und Kollegen nahe zubringen und mit ihrer speziellen fachlichen Kompetenz Beiträge für die Friedensbewegung zu liefern." (Krefelder Initiative 1989: 11)

VII Nahostkrieg und Bosnien

Das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Vereinigung haben die Rahmenbedingungen verändert, in der die deutsche Friedensbewegung ihre Aktivitäten entfaltete. In der Welt schienen sich bessere Bedingungen für eine friedliche Zukunft herausgebildet zu haben. Die Erwartungen hinsichtlich einer Friedensdividende waren groß, zumal die Rüstungsausgaben weltweit erheblich sanken.

Andererseits wurde die Welt von einer zunehmenden Welle regionaler, meist innerstaatlicher Kriege und Gewaltkonflikte heimgesucht. Die entwickelten Staaten der Ersten Welt trafen erste Vorkehrungen, sich vor den negativen Folgen dieser Prozesse zu schützen. Das Wort von der "Festung Europa" griff um sich. Innenpolitisch setzte sich eine Entwicklung zur Entsolidarisierung fort und begünstigte eine Entpolitisierung, was es der Friedensbewegung erschwerte, gegen die veröffentlichte Meinung anzugehen. Angst, wie schon zuvor bei den Atomraketen, war denn auch das vorrangige Motiv, das Anfang 1999 massenhaft junge Menschen gegen den drohenden Nahostkrieg auf die Straße trieb.

Das vereinigte Deutschland war dabei, neue Leitlinien für seine Außenpolitik zu formulieren. Einer der umstrittensten Punkte betraf die deutsche Teilnahme an multilateralen Militäreinsätzen. Dabei waren zwischen 1990 und 1995 der II. Golfkrieg und das Eingreifen der NATO in Bosnien die brennendsten Fragen.

Der Friedensbewegung gelang es zwar, in beachtlichem Umfang gegen den Golfkrieg mobil zu machen. Es gelangen aber keine größeren Demonstration gegen die deutsche Beteiligung am Kriegseinsatz in Bosnien. Dies war um so erstaunlicher, wenn man in Rechnung stellt, wie tief der Bruch war, den dieser Einsatz im Verhältnis zu der bisherigen politischen Praxis Deutschlands darstellte. Seit dem II. Weltkrieg hatte sich die westdeutsche Regierung der Teilnahme an militärischen Aktivitäten "out-of-area" enthalten, welche die Grenzen der NATO überschritten. Seit 1990 hatte die Kohl-Regierung diese Praxis zwar stückchenweise modifiziert. Trotzdem stellte die Entsendung von Truppen nach Bosnien aber das erste Mal dar, dass deutsche Truppen in ein Gebiet entsandt wurden, das einstmals von der Wehrmacht besetzt gehalten worden war. Der fehlende Mobilisierungserfolg der Friedensgruppen war auch im Hinblick auf eine öffentliche Meinung erstaunlich, die sich Anfang der 90er Jahre - die Mehrheitsmeinung in der SPD und bei den Grünen eingeschlossen - in beträchtlichem Maße gegen "out-of-area"-Einsätze ausgesprochen hatte. Das Tor zu einer deutschen Beteiligung wurde jedoch von einem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts aufgestoßen. Es stellte 1994 fest, dass das deutsche Grundgesetz eine solche Beteiligung tatsächlich zuließ.

Warum gelang es den Friedensgruppen, gegen den Golfkrieg mobil zu machen, nicht aber gegen die deutsche militärische Beteiligung in Bosnien? In der außerparlamentarischen Arena konkurrierte keine andere wichtige Frage mit dem Golfkrieg oder dem deutschen Einsatz in Bosnien. Abgesehen vom Vollzug der Wiedervereinigung konnte sich die Politik der Kohl-Regierung in den 90er Jahren zudem keiner besonderen Popularität rühmen. Wenn überhaupt, dann hätte die Wiedervereinigung den Protest der breiten Öffentlichkeit gegen den Golfkrieg stärker beeinträchtigen müssen als gegen die deutsche Beteiligung in Bosnien.

Im Unterschied zu den frühen 80er Jahren zollten die deutschen Parteien in den 90er Jahren den Themen der Friedensbewegung jedoch erheblich mehr Aufmerksamkeit. Viele Positionen der Friedensbewegung hatten Eingang in die Programmatik der SPD und der Grünen gefunden. Man kann daher sagen, dass diese "Institutionalisierung" in den 90er Jahren die Begeisterung für eine außerparlamentarische Mobilisierung dämpfte. Aber warum wirkte diese Dämpfung im Falle Bosniens erheblich stärker als beim Golfkrieg? Die "Institutionalisierung" hielt zahlreiche Sozialdemokraten und Grüne nicht davon ab, sich an den Protesten gegen den Golfkrieg zu beteiligen. Sehr viel wichtiger war statt dessen die relative Geschlossenheit, mit der sich Grüne und Sozialdemokraten gegen den Golfkrieg wandten, während beide Parteien im Falle Bosniens zutiefst gespalten waren. Anlässlich der Abstimmung im Bundestag, im Dezember 1995, stimmte die SPD-Fraktion mehrheitlich und die Fraktion der Grünen immerhin zur Hälfte für eine deutsche Beteiligung am NATO-Einsatz in Bosnien.

Die Besonderheiten des Golfkrieges erlaubten der Friedensbewegung, auf der Grundlage der Parallelen zwischen diesem Krieg und den 80er Jahren mobil zu machen. Die Friedensbewegung appellierte an die Betroffenheit - diesmal mit Hinweis auf die ökologischen Gefahren, die von den brennenden Ölquellen ausgingen. Ein weiterer Ansatzpunkt betraf den "Armageddon-Effekt" der hochtechnologischen Kriegsführung. Wie die potentiellen Zerstörungen eines Atomkrieges, so unterstrichen auch die Scud-Raketen und die "Fasern-Bomben" des Golfkrieges die Notwendigkeit einer nichtmilitärischen Lösung. Zudem stand zu befürchten, dass es sich beim Golfkrieg um den Beginn eines globalen Krieges zwischen Erster und Dritter Welt handeln könnte. Um einen Krieg, bei dem es um die Neuverteilung von Einflussgebieten und Ressourcen handelt. Eine Befürchtung, die sich bald bestätigte.

Im Gegensatz zum Golfkrieg waren die Fragen, die Bosnien aufwarf, von einer ganz anderen Natur. Frühere Friedensproteste verdankten ihre Durchschlagskraft zu einem nicht unwesentlichen Teil der Anprangerung des amerikanischen "Militarismus". Im Gegensatz dazu glänzten die Amerikaner in Bosnien bis auf die letzten paar Monate durch Abwesenheit. Die deutsche Regierung bewegte sich überdies nur sehr zögerlich in Richtung auf einen Einsatz in Bosnien. Die Friedensbewegung konnte deshalb kaum glaubwürdig von dem Argument Gebrauch machen, der Westen habe sich in Bosnien um einen militärischen Einsatz "gerissen". Außerdem ging die veröffentlichte Meinung davon aus, dass der Einsatz von westlicher Militärmacht gegen die Stellungen der Serben 1995 wahrscheinlich eher für eine beschleunigte Beendigung des Krieges als für eine "eskalierende Spirale der Gewalt" sorgte. Es war also recht schwierig, dagegen zu halten.

Ein zweiter Punkt betraf die Forderung der Bewegung nach Verhandlungen. Sowohl in den 80er Jahren als auch im Golfkrieg forderte die Friedensbewegung vom Westen, dass dieser der Diplomatie eine wirkliche Chance geben möge, bevor er zu militärischen Maßnahmen Zuflucht nähme. Im Falle Bosniens spiegelte der Einsatz westlicher Truppen einen diplomatischen Durchbruch wider, nachdem die Verhandlungen zuvor wieder und wieder in einer Sackgasse gelandet waren. Ein anderes Rezept der Friedensbewegung, ein wirtschaftlicher und militärischer Boykott, hatte ebenfalls keine feststellbare Abschwächung der Kampfhandlungen bewirkt. 1995 konnte der Krieg in Bosnien nur noch wenig Betroffenheit in dem Sinne mobilisieren, als dass eine Bedrohung der deutschen Sicherheit bestanden hätte. Es gab ferner keinen Konflikt zwischen dem Westen und einem Land der Dritten Welt, außerdem gab es keinerlei offensichtliche ökonomische Interessen, zu deren Durchsetzung - wie im Falle des Öls - eine westliche Intervention hätte dienlich sein können. Außerdem fielen Frauen dem bereits tobenden Krieg in viel stärkerem Maße zum Opfer, als dies von jedem denkbaren Einsatz westlicher Truppen zu erwarten gewesen wäre.

Die Zeit nach dem II. Golfkrieg brachte den ersten wesentlichen Einschnitt für die Friedensbewegung. Dabei wurde die Absage der Grünen an ein grundsätzliches Zusammenarbeiten mit der Friedensbewegung zum ersten Mal deutlich formuliert. Sie traten beispielsweise aus regionalen Ostermarschkreisen und Friedensinitiativen aus. Dies geschah durch die SPD-Kreise erst einige Jahre später.

VIII Deutsche Militärpolitik unter Rot-Grün

Das Engagement für eine andere Politik und als Voraussetzung dafür eine andere Regierung war im Wahljahr 1998 beträchtlich. Entsprechend groß waren die Erwartungen und Hoffnungen, als die Regierung Kohl abgewählt war. Viele derer, die sich vor der Wahl engagierten, hielten sich angesichts der SPD-geführten neuen Bundesregierung zurück, um den Neuen eine Chance zu geben. "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik", so hieß es denn auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen und beflügelte die Träume von einem wirklichen friedenspolitischen Neuanfang. Dies schien zunächst realistisch, hatte doch ein Koalitionspartner seine Wurzeln in der Friedensbewegung, Teile der Regierungsmannschaft waren selbst in der Friedensbewegung aktiv.

Die Ernüchterung kam sehr schnell. Die Regierung war noch kein halbes Jahr im Amt, da beteiligten sich deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg. Tornados der Bundeswehr bombardierten unter Bruch des Völkerrechts die Republik Jugoslawien. An die Stelle des versprochenen Einsatzes für Krisenprävention und friedlicher Konfliktregelung rückte das Streben nach militärischer Mitsprache und Machtdemonstration, auch außerhalb des NATO-Gebietes. Weder die UNO noch die OSZE wurden vor der Bombardierung gefragt und damit entscheidend geschwächt. Statt, wie versprochen, zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen beizutragen, wurde der Krieg wieder zur Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Zur Legitimierung des Krieges wurden Fakten verschwiegen und Gräueltaten erfunden. Von Konzentrationslagern in Stadien, aufgeschlitzten Bäuchen schwangerer Frauen und gegrillten Föten war die Rede, vorgetragen von Leuten, die Unterstützung verlangten, weil man sich kannte und angeblich nach wie vor für die Sache des Friedens und der Menschenrechte stritt. Dieser Bruch in der deutschen Nachkriegspolitik führte auch zum Bruch innerhalb von Organisationen, lähmte den Widerstand und bewirkte beträchtliche Zerwürfnisse etwa innerhalb der Gewerkschaften und der Kirchen. Es kam in der Folgezeit zu zahlreichen Aktionen der Friedensbewegung, zu einem Anschwellen der Beteiligung an den Ostermärschen und zu einer größeren Kundgebung in Berlin. Alles in allem aber erschwerte die Tatsache, dass das Trio Schröder, Scharping, Fischer dem Irrglauben verbreitete, politische Lösungen ließen sich mit militärischen Mitteln erzwingen, wenig Raum für friedliche Konfliktlösungen.

IX "Antiterrorkrieg"

Nach den Terroranschlägen des 11. September erklärte Kanzler Schröder für die Bundesregierung die uneingeschränkte Solidarität mit den USA im "Krieg gegen den Terror". Da US-Präsident Bush diesen Krieg so lange führen will, bis alle Terroristen "ausgeräuchert" sind, droht Deutschland mit dieser Zusage in einen permanenten lang anhaltenden Krieg einbezogen zu werden. Der Bundestag hat dieser "Ermächtigung" zum Einsatz der Bundeswehr am 16. November 2001 zugestimmt. Inzwischen sind über 10.000 deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes stationiert. Die Bundeswehr ist auf dem besten Weg, kriegsführungsfähig zu werden und sich im Kernbereich zu einer Interventionsarmee zu entwickeln.

Wahlkampfbedingt wollen sich Schröder und Fischer jetzt wieder in die Reihen der Kriegsgegner begeben. Sie lehnen verbal den angekündigten Einsatz der USA gegen den Irak ab. Das würde dann glaubwürdiger, wenn die deutschen Truppen und Spürpanzer aus Kuweit abgezogen sind.

Hat sich durch die geografische Ferne der Kriegsschauplätze und die Technisierung des Kriegshandwerks die Betroffenheit der Deutschen anlässlich der letzten Kriege in Grenzen gehalten, so haben die Anschläge vom 11. September in weiten Kreisen sehr stark emotional gewirkt. Politik und Medien sind seitdem damit beschäftigt, die Angst vor dem internationalen Terrorismus aufrecht zu erhalten und gleichzeitig Sicherheit zu suggerieren. Die Dauerthematisierung allgegenwärtiger terroristischer Gefahren wird ergänzt durch die Vortäuschung wirksamen Schutzes in Form neuer Sicherheits- und Antiterrorgesetzen. Der Krieg gilt jetzt nicht mehr als humanitäre Intervention wie im Falle Jugoslawiens, sondern als Kampf gegen den Terror.

X Aktuelle Situation der Friedensbewegung und Schlussfolgerungen

Angesichts des wieder verstärkten Auftretens der Friedensbewegung am 13. Oktober 2001 und beim Bush-Besuch in Berlin am 21. Mai 2002 und bundesweit einen Tag später, konnte diese Propaganda ein gutes Stück zurückgedrängt werden. Eingeprägt hat sich das Argument, wonach Vergeltung oder Rache zu weiterer Gewalt führt (Gewaltspirale) und dies kann auf dem Kriegsschauplatz Naher Osten täglich veranschaulicht werden. Auch die Formel vom Nährboden des Terrorismus, der trocken zu legen ist, um dauerhafte Erfolge zu erzielen, beherrscht die politische Diskussion. Möglicherweise ist die massenhafte Ablehnung weiterer "Antiterroreinsätze" durch die Deutschen und das verbale Einschwenken der Regierung auf die so erzeugte Stimmung zurückzuführen. Auch der Bundeskongress des DGB hätte ohne die Aktionen der Friedensbewegung nur schwerlich zu der bekannten, in einem Initiativantrag ausgedrückten, Ablehnung weiterer Kriegsabenteuer kommen können. Der vorgelegte Leitantrag war demgegenüber ziemlich wolkig.

Die Friedensbewegung ist jetzt dabei, sich wieder besser zu formieren, sich zu verbreitern und eine längerfristige Perspektive zu entwickeln. Wichtig ist es, den Protest gegen den Krieg in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und dort zu verankern. Es gilt, ähnlich wie das in der Vergangenheit der Fall war, "Leitfiguren" zum Mitmachen zu ermuntern. Erschwert wurde das bisher durch die Zerrissenheit unserer Gesellschaft in der Frage Krieg und Frieden, ausgelöst durch die Kriegsabenteuer ehemaliger Friedensbewegter, was auch negative Auswirkungen auf die Strukturen der Friedensbewegung hatte, wenn parteipolitische Präferenzen ein Zusammengehen erschwerten. Dennoch gelang es über verschiedene Friedensorganisationen das Friedensthema öffentlich zu machen und eine örtliche Verankerung über lokale Initiativen zu erhalten. Friedensbewegung fand dadurch auch bundesweit statt, ohne dass es in den Vorjahren zu einer Großdemonstration kam.

Durch den Friedensratschlag gelang dann ab 1994 wieder eine Vernetzung aktiver Friedenszentren, um gemeinsam eine aktuelle Lageanalyse mit wissenschaftlicher Kompetenz zu erreichen, programmatische Positionen zu finden und diese informativ und in Aktionen öffentlich zu vertreten. Die regelmäßigen Ratschläge mit einer stabilen Beteiligung haben den Bundesausschuss Friedensratschlag als eine wichtige Formation der Friedensbewegung herausgebildet. Der Friedenspolitische Ratschlag hat sich inzwischen zum zentralen Bezugspunkt der Friedensbewegung in der BRD entwickelt, wobei dies stets als Ergänzung anderer Strukturen verstanden wurde. Der Schwerpunkt des Friedensratschlages liegt heute zweifellos in der basisorientierten Verankerung: Hier kommen die Gruppen der Friedensbewegung zusammen, tauschen sich über die aktuellen politischen Entwicklungen sowie die Arbeit der Initiativen aus und planen gemeinsame Schwerpunkte und Kampagnen. Darüber hinaus ist der Friedensratschlag zu einem festen Forum geworden, wo sich Friedensbewegung, Friedenswissenschaft und Gewerkschafter, aber auch Vertreter von Kirchen, Parteien und internationale Friedensaktivisten austauschen.

Das Ziel ist, die zentrale Frage Krieg und Frieden wieder zur politischen Entscheidungsfrage zu machen. Deshalb ist es wichtig, der gesellschaftlichen Militarisierung entgegenzutreten, damit friedenspolitische Arbeit in Zukunft wieder an Gewicht gewinnt.

Die Friedensbewegung muss, wie auch in der Vergangenheit, der Tendenz, mit Parteien nichts anfangen zu können, gegensteuern. Die Parteien müssen mit friedenspolitischen Alternativen konfrontiert, und den Kritikern innerhalb der Parteien muss die Chance zur aktiven Mitarbeit in der Friedensbewegung gegeben werden. Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik und damit die Verankerung von friedenspolitischen Alternativen in der Regierungspolitik sind am ehesten mit Bündnis 90/Die Grünen und SPD durchzusetzen, nicht gegen sie. Da es eine fatale Entscheidung wäre, hierauf zu warten, sollte in der aktuellen Situation gehandelt werden. Dies heißt, dass weiterhin das außerparlamentarische Engagement für die Friedensbewegung im Mittelpunkt steht und die Strukturen der Arbeit bestimmt. Die außerparlamentarische Arbeit und die Zusammenarbeit mit Parteien aus dem Parlament bzw. Abgeordneten sollten nicht als Gegensätze begriffen, sondern als notwendige Ergänzungen verstanden werden. Mit der PDS hatte die Friedensbewegung auch im Parlament einen verlässlichen Partner.

Angesichts der gewachsenen Kriegsgefahr und der erkennbaren Aussichtslosigkeit militärischer Gewaltpolitik, ist mit einem erneuten Anwachsen der Friedensbewegung zu rechnen. Dabei wird der angekündigte Krieg gegen den Irak im Zentrum stehen. Die Friedensbewegung wird ihre Kraft aus der Vielfalt schöpfen. Durch die globalisierungskritische Bewegung Attac ist dabei eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Kraft entstanden, deren Optimismus die nachlassende Energie und den Pessimismus mancher "Altgedienter" überwinden hilft. Wenn ein Paradigmenwechsel in der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und eine reale Abrüstung durchgesetzt werden soll, kann dies nicht über den parlamentarischen Weg allein realisiert werden. Von zentraler Bedeutung bleibt, dass es gelingt den Widerstand bis in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.

Literatur

Adenauer, Konrad 1967: Erinnerungen, Bd. 3; Stuttgart.
Augstein, Rudolf 1961: Waffen statt Politik, in: Magnum (Sonderheft); S.48.
Bahr, Egon 1977: Ist die Menschheit dabei, verrückt zu werden? Die Neutronenbombe ist ein Symbol der Perversion des Denken, in: Vorwärts (Nr. 29, 21. Juli); S. 4.
Bopp, Fritz/ Born, Max/ Fleischmann, Rudolf u.a. 1957: Manifest der 18, in: Archiv der Gegenwart vom (12. April); S. 6385 (auch in: Wissenschaft und Frieden/ Dossier Nr. 25; Bonn 1997; S. 7).
Jogischies, Rainer B. 1987: Eine aufrührerische Idee, in: Rheinischer Merkur (24. April).
Krefelder Initiative 1989: Zur Information (Nr. 1, März).
Kurscheid, Raimund 1981: Kampf dem Atomtod; Köln.
Lafontaine, Oskar 1982: Vorwort, in: Albrecht, Ulrich: Kündigt den Nachrüstungsbeschluss; Frankfurt a.M.; S.7-9.
Senghaas, Dieter 1972: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit; Frankfurt a.M.
Wasmuht, Ulrike C. 1998: Geschichte der Friedensforschung; Münster.

Willi van Ooyen ist Diplom-Pädagoge, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlags, Ostermarschbüro (Frankfurt a.M.)

* Der Beitrag erschien in der Festschrift für Werner Ruf:
Michael Berndt und Ingrid El Masry (Hrsg.): Konflikt, Entwicklung, Frieden. Emanzipatorische Perspektiven in einer zerrissenen Welt, Kassel 2003 (Kasseler Schriften zur Friedenspolitik, Bd. 8), Verlag Winfried Jenior (ISBN 3-934377-83-1)
Bezugsadressen:
Verlag Winfried Jenior, Lassallestr. 15, D-34119 Kassel; Tel.: 0561-7391621, Fax 0561-774148; E-Mail: Jenior@aol.com
oder
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