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Aachener Friedenspreise 2003 vergeben

Auszeichnung für jüdisch-palästinensische Versöhnungsarbeit in Israel und für die "Ordensleute für den Frieden"

Der Aachener Friedenspreis zeichnet sich in der Preislandschaft vor allem dadurch aus, dass er in der Regel an Persönlichkeiten vergeben wird, die Friedensarbeit "von unten" machen. Es sind häufig Vertreter/innen von Friedensinitiativen oder -organisationen, die mit besonderen Ideen und mit besonderem Engagement zu Werke gehen. Ein weiteres Prinzip der Juroren: Immer werden zugleich Preise für Friedensarbeit in Deutschland und für Friedensarbeit im Ausland vergeben. Zum ersten Mal wurde der Preis vor 1988 gestiftet. 2003 findet die Preisverleihung - wie immer am 1. September, dem Antikriegstag - also zum 15. Mal statt. (Vgl. auch unsere Berichte zu den Preisverleihungen 2001 und 2002.)

Der Aachener Friedenspreis geht diesmal an den jüdischen israelischen Friedensaktivisten Reuven Moskovitz und an die palästinensische Israelin Nabila Espanioly. Beide werden für ihre Verdienste um die schwierige Verständigung zwischen Juden und Palästinensern ausgezeichnet.
Nationale Preisträger sind die "Ordensleute für den Frieden". Dieser Initiative gehören auch Nicht-Christen an.

Anlässlich der Preisverleihung dokumentieren wir im Folgenden drei Interviews mit den Preisträgern.

Das erste Interview mit der Preisträgerin Nabila Espanioly wurde bereits im Mai 2003 aufgenommen. Es ist auf der Homepage des "Aachener Friedenspreises" veröffentlicht.*


Aachen/Nazareth: Nabila Espanioly wurde 1955 in Nazareth geboren und lebt dort als Palästinenserin mit israelischem Pass. Sie hat in Bamberg Psychologie studiert und ist seit 25 Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Sie war Gründungsmitglied der Gruppe "Jüdisch-arabische Frauen für den Frieden", des israelisch-palästinensischen Projekt "engendring the peace process", der Haifa-Gruppe "Women in Black" und ist Vorsitzende von Mossawa, ein Zentrum für Menschenrechte. Zudem gründete sie Institutionen wie das Altufula-Zentrum, das palästinensischen Frauen und Kindern (Fort-)Bildung ermöglicht.

Frage ND: Sie engagieren sich für Frauen- und Familienpolitik und kämpfen für mehr Kindergartenplätze und besseres Lehrmaterial für palästinensische Kinder. Gibt es ein Bildungsgefälle in Israel?

Espanioly Nabila (EN): Ja. Die immer größer werdende Kluft zwischen Bildungsmöglichkeiten für palästinensische und jüdische Kinder ist Folge einer 55-jährigen Diskriminierungspolitik unterschiedlicher israelischer Regierungen. Sie wurzelt auf der Tatsache, dass Israel sich als Staat der Juden definiert. In Israel bilden rund eine Million Palästinenser/innen 20 Prozent aller Staatsbürger. Aber nur 4 Prozent der staatlichen Bildungsausgaben gingen im Jahr 2002 an arabische Schulen und Kindergärten.

ND: Selbst Männer finden kaum Arbeit in den besetzten Gebieten oder Israel. Finden Frauen welche?

EN: Palästinenserinnen haben bis 1948 zu 90 Prozent in der Landwirtschaft gearbeitet. Dann wurde das Land verstaatlicht und wieder an jüdische Einwohner verteilt. Dadurch wurden die Arbeitsmöglichkeiten der Frauen stark beeinträchtigt. Heute arbeiten 16 Prozent der palästinensischen Frauen. Die Arbeitslosigkeit führt zu großer Armut. In Armutsstatistiken befinden sich ohne Ausnahme alle palästinensischen Dörfer und Städte auf den fünf untersten Plätzen. Ein Grund dafür ist der geringe Anteil arbeitender Frauen.

ND: Sie und Ihr Preisträger-Partner Reuven Moskovitz setzen sich dafür ein, dass Friedensinitiativen aus Juden und Palästinensern zusammengesetzt sind?

EN: Ja. Wir stehen beide auf einer Seite, wir sind beide israelische Bürger. Wir suchen gemeinsam nach Alternativen zur jetzigen Situation. Ich glaube, dass es diese immer noch gibt. Beide Völker müssen aber zu Kompromissen bereit sein.

ND: Glauben Sie, der neu gewählte palästinensischen Ministerpräsidenten Mahmud Abbas und die Anfang Mai von den USA, der EU, UN und Russland skizzierte Vision von zwei in Frieden lebenden demokratischen Staaten tragen zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes bei?

EN: Ich bin fest davon überzeuget, sollte diese Lösung wirklich durchgesetzt werden, dann könnte endlich Frieden in unsere Region einkehren. Aber meine Sorge ist nicht, ob Abbas das richtige tun wird. Meine Verdacht ist, dass Scharon versucht, eine Lösung zu verhindern.

ND: Moskovitz wird in Israel auch als "Verräter" angesehen, weil er die Politik von Ministerpräsident Ariel Scharon scharf kritisiert und mit Ihnen kooperiert. Erleben Sie von palästinensischer Seite ähnliches?

EN: Ich werde nicht als Verräterin bezeichnet, aber es gibt viele, die meinen Glauben an den gemeinsamen politischen Kampf für Frieden und Freiheit nicht teilen. Es gibt Menschen, die den Glauben an eine friedliche Zukunft verloren haben, andere jedoch respektieren unsere Arbeit. Auch in den besetzten Gebieten bewerten Menschen die Arbeit der Friedensbewegung in Israel sehr positiv. Sie haben großen Respekt vor Juden, die dazu bereit sind, eher ins Gefängnis zu gehen, als in einer Besatzungsarmee zu dienen.

ND: Sie und Moskovitz werden vom Friedenspreis auch geehrt, da sie gemeinsam Hilfstransporte ins Westjordanland und den Gazastreifen organisieren. Ist Ihre Arbeit problemlos möglich?

EN: Hunderte von Männern und Frauen arbeiten, um die Aktionen zu organisieren, und sie versuchen, darauf aufmerksam zu machen, welches Ausmaß von Elend und tägliches Leiden in der besetzen Gebieten herrscht. Eine solche Arbeit kann nicht problemlos verlaufen. Wir versuchen aufzudecken, was die Armee zu verheimlichen versucht. Wir versuchen, die Botschaft der Hoffnung zu vermitteln und eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen. Die israelische Armee versucht das zu stören. Dabei erleben wir am eigenen Leib, was die Palästinenser unter der Besatzung täglich erleben: Gewalt. Unsere Demonstrationen und Transporte werden an den Check Points behindert, etwa mit Tränengas. Aber wir finden Umwege.

ND: Sie unterstützen ebenso Job- und mittellose Familien in den besetzten Gebieten finanziell. Wer finanziert Ihre Arbeit?

EN: Viele Menschen spenden Geld und Lebensmittel. Und nicht nur Reuven Moskovitz und ich organisieren diese Aktion, es engagieren sich viele Initiativen - etwa die Frauen für gerechten Frieden, Tayousch, Rabbiner für Menschenrechte und andere. Israelische Kinder spenden etwa Spielzeug für palästinensische Kinder. Unsere ehrenamtliche Arbeit ist jeweils ein individueller Beitrag unterschiedlicher Personen. Größere Aktionen unterstützen manchmal Spender, oft Juden aus den USA. Die Arbeit des Altufula-Zentrum wird von Stiftungen in Deutschland, den USA und Europa unterstützt - etwa Brot für die Welt, Ford Foundation, Word University Services und Weltgebettag der Frauen.

ND: Was dachten Sie, als man Ihnen mitteilte, man verleiht Ihnen den Aachener Friedenspreises?

EN: Ich war voller Freunde. Aber ich würde gerne zu der Preisverleihung am 1. September alle Mitstreiter mitbringen. Ich dachte, warum ich, wo es doch so viele Menschen gibt, die vielleicht noch mehr für die Frieden kämpfen. Nun, ich hätte nie gedacht, dass meine Aktivitäten belohnt werden. Die einzige Belohnung, auf die ich warte, wäre ein wirklicher Frieden.

* Interview: Michael Klarmann für ND (Neues Deutschland). IM ND wurde eine gekürzte Version abgedruckt. Der "Aachener Friedenspreis" veröffentlichte die Langfassung, der wir ebenfalls folgten.

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Ebenfalls im "Neuen Deutschland" erschien am 1. September anlässlich der Preisverleihung ein Interview mit Reuven Moskovitz ("Kann es Frieden geben in Nahost?", das wir im Folgenden dokumentieren:

Der 74-jährige Überlebende des Holocaust ist in Friedensinitiativen in Israel und Deutschland aktiv. Er erhält heute mit anderen den Aachener Friedenspreis.

ND: Die Gewalt zwischen Juden und Palästinensern eskaliert. Warum?

Moskovitz: Es ist das Ergebnis einer unverantwortlichen Politik aller israelischen Regierungen. Sie alle wollten seit der Staatsgründung die Palästinenser als einen Faktor, der sich politisch selbst bestimmen könnte, ausschalten. Nicht weniger verantwortlich sind die USA und die Vereinten Nationen, die sich nicht genug dafür einsetzen, den Palästinensern zu helfen, so dass sie selbstbestimmt in ihrem Teil Palästinas leben könnten. Der Grund für die schlimme Eskalation ist also auch, dass die Welt nicht den Mut hat, ein freundliches Machtwort an Israel zu richten: Genug ist genug!

Sie kritisieren die israelische Politik. Tragen nicht auch die militanten Palästinenser zur Eskalation bei?

Israel und Palästina gleichzusetzen, wäre, als würden Sie einen Elefanten gleichsetzen mit einer Maus, auf die er tritt. Die Palästinenser sind seit mehr als fünfzig Jahren Opfer von Verfolgung, sei es in Jordanien, sei es in Israel. Man kann und darf daher die Geschichte nicht bei den Selbstmordattentätern beginnen. Selbstverständlich sind das Verbrecher, aber ich frage: Woher kommen sie? Warum haben sie sich vor 20 Jahren nicht in die Luft gesprengt? Weil sie hoffnungslos geworden sind. Man redet in Israel davon, die Infrastruktur des Terrors zu beseitigen. Aber die Infrastruktur des Terrors ist die Besatzung.

Sie engagieren sich gemeinsam mit Nabila Espanioly in der israelischen Friedensbewegung. Wie stark ist diese heute?

Sie ist genauso stark oder schwach wie die deutsche. Zu Zeiten von Ministerpräsident Ehud Barak war die Friedensbewegung sehr erfolgreich. Dann aber hat sie sich fast aufgelöst, weil die Menschen dachten, der Mann vertritt ihre Meinung. Aber Barak hat diese Erwartungen zwischen Mai 1999 und Februar 2001 nicht erfüllt. Er hat gesagt, mit den Palästinensern ist nicht zu reden. Aber das ist nicht die Wahrheit. Die Palästinenser sind auch an Frieden interessiert. Niemand hätte einmal zu träumen gewagt, dass die Palästinenser das Existenzrecht Israels anerkennen würden. Sie taten es, aber das scheint den Nationalisten unter Baraks Nachfolger Ariel Scharon noch nicht zu reichen. Der palästinische Ministerpräsidenten Mahmud Abbas wollte doch den Frieden, und er wollte die Extremisten bekämpfen. Aber was wollte Scharon? Einen Bürgerkrieg, und zwar einen, der alles nur verschlimmert und ihn vielleicht berechtigt, die Palästinenser zu vertreiben.

Ihr jahrzehntelanger Kampf für den Frieden wurde und wird wiederholt von Rückschlägen erschüttert. Woher nehmen Sie Ihre Energie?

Die Vorstellung, dass das am meisten verfolgte Volk in der Geschichte ein anderes Volk verfolgt und dass in meinem Staat Menschen mitregieren, die offen rassistische Vorstellungen aussprechen - das lässt mir keine Ruhe. Und im Judentum heißt es: ein Held ist nicht jemand, der seinen Feind umbringt, sondern jemand, der seinen Feind zum Freund macht.

Fragen: Michael Klarmann
Aus: ND, 1. September 2003


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Ebenfalls am 1. September 2003 erschien in der Tageszeitung "junge Welt" ein Interview mit Gregor Bökermann, dem Sprecher der "Ordensleute für den Frieden". Das Interview führte Thomas Klein.

F: Seit wann gibt es Ihre Initiative?

Seit etwa zwanzig Jahren. Wir haben Anfang der achtziger Jahre bereits an den Protesten gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluß teilgenommen und thematisieren seit vielen Jahren das kapitalistische Wirtschaftssystem als Quelle dauernder Ungerechtigkeit und Ausbeutung. In der IOF sind übrigens nicht nur Ordensleute aktiv, sondern auch Nichtchristen.

F: Bis heute beteiligen Sie sich immer wieder an Protestaktionen?

Darauf wird jedenfalls in der Begründung Bezug genommen. Erinnert wird an unsere Mahnwachen vor der Deutschen Bank. Unsere "intensive und engagierte Friedensarbeit" sowie das "gewaltfreie Eintreten für soziale Gerechtigkeit" seien ein nachahmenswertes Beispiel in einer Zeit, in der Gewalt vor allem als Fortsetzung gescheiterer Politik gesehen und praktiziert werde.

F: Wie in den letzten Jahren wird es auch diesmal neben einem inländischen auch einen ausländischen Preisträger geben. Um wen handelt es sich dabei?

Es sind der Holocaust-Überlebende Reuven Moskovitz und die Palästinenserin Nabila Espanioly. Als wir erfahren haben, daß diese beiden ebenfalls ausgezeichnet werden, haben wir uns sehr gefreut. Es ist für uns eine Ehre, neben diesen beiden, die zusammen mit vor Ort tätigen Friedensgruppen unter oft schwierigsten Bedingungen Hilfstransporte in die Westbank und nach Gaza organisieren und sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, ausgezeichnet zu werden.

F: Inwiefern ist die heutige Preisverleihung für Sie ein Ansporn?

Schon die Erkenntnis, daß unser Wirtschaftssystem mitverantwortlich für Gewalt und Krieg ist, bietet mit Grund genug, weiter aktiv zu bleiben. Deswegen wollen wir am Donnerstag vor der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main wieder eine Mahnwache durchführen. Am Samstag kommender Woche werden wir auf Einladung der Pax-Christi-Gruppe in Dresden vor der dortigen Niederlassung der Deutschen Bank protestieren. Die Aktion steht unter dem Motto: "Die BRD war schlauer, das Geld ist jetzt die Mauer."

F: Diese Aktionen enden nicht immer friedlich. Demnächst wird gegen Sie ein Prozeß eröffnet.

Zu der Anklage kam es, weil ich zusammen mit zwei weiteren Mitgliedern im Frühjahr aus Protest gegen den Irak-Krieg den Zaun zur Frankfurter US-Airbase durchschnitten habe, um auf das Gelände zu gelangen. Gegen den Strafbefehl haben wir Einspruch eingelegt. Am 24. Oktober soll die Hauptverhandlung am Frankfurter Amtsgericht stattfinden.

F: Wie lautet die Anklage?

Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Aber was ist das schon? Im Irak wurden um der Macht willen viele Menschen getötet. Gegen diese Politik wollten wir genau an dem Ort ein Zeichen setzen, von dem der Tod in den Irak geflogen ist.

Aus: junge Welt, 1. September 2003


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