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Ein Frieden zwischen Menschen

Israelische und palästinensische Friedensaktivisten sind dieses Jahr die Preisträger der Carl-von-Ossietzky-Medaille

Von Irina Berger *

»Zu Beginn hatten wir kaum eine Strategie bei unseren Protesten«, erinnert sich Mohammed Khatib. Der 34-jährige Palästinenser sitzt an diesem Samstagmorgen an einem langen Tisch im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Er ist stellvertretend für seine Organisation nach Deutschland gekommen, um eine Auszeichnung in Empfang zu nehmen. Die Internationale Liga für Menschenrechte hat gestern dem Bürgerkomitee von Bil'in, dem er angehört, und den israelischen »Anarchists against the Wall« die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Die beiden Gruppen erhalten die Auszeichnung, mit der jährlich besondere Verdienste um die Menschenrechte gewürdigt werden, für ihren gemeinsamen gewaltfreien Widerstand gegen den Bau der Mauer zwischen israelischen und palästinensischen Gebieten.

Seit dem 20. Februar 2005 demonstrieren die Bewohner des Dorfes Bil'in, das etwa 12 Kilometer von Ramallah entfernt in der Westbank liegt, und die israelischen Aktivisten kontinuierlich jeden Freitag gemeinsam gegen den Bau der Mauer und die israelische Besatzungspolitik.

Ein Umdenken auf beiden Seiten

Israel begründete den Bau ursprünglich damit, seine Einwohner vor terroristischen Anschlägen schützen zu wollen. Der insgesamt etwa 720 Kilometer lange Zaun, der streckenweise bereits durch acht Meter hohe Betonmauern ersetzt wurde, schafft aber auch Fakten über die Grenzen zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat. Diese verlaufen zum Teil nicht entlang der »grünen Linie« von 1949: Die Mauer verschluckt etwa 12,6 Prozent des Territoriums der Westbank.

Die rund 2000 Bewohner von Bil'in werden durch den Zaun von fast 60 Prozent ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen getrennt, auf die viele zum Verdienst ihres Lebensunterhalts angewiesen sind. Zudem baut Israel eine neue Siedlung in dem Gebiet, der viele uralte Olivenbäume, die den Bil'inern gehören, zum Opfer gefallen sind. Mohammed Khatib war vor vier Jahren einer von denen, die das Bürgerkomitee von Bil'in gründeten, um gegen den Bau des Zauns und für die Rückgabe von Land zu kämpfen. »Als Palästinenser bist Du gezwungen, politisch zu sein«, sagt der 34-Jährige, dessen wache Augen von Lachfältchen umgeben sind.

Khatib, der seinen Sohn mit nach Berlin gebracht hat, lebt seit seiner Geburt in Bil'in, hat die erste und die zweite Intifada miterlebt. Ein einschneidendes Erlebnis brachte ihn 2003 dazu, seine bisherigen Sichtweisen in Frage zu stellen. Damals arbeitete Mohammed Khatib in Ramallah, jeden Morgen musste er auf dem Weg zur Arbeit einen Checkpoint passieren. »Man kann nicht mit dem Bus durchfahren und sie haben ein Seil gespannt, etwa so hoch«, beschreibt er mit der Hand einen Abstand von etwa einem Meter vom Boden. »Du musst Dich bücken, wenn Du hindurchgehen willst, musst Dich erniedrigen.«

An einem Tag war er dabei, als sich ein befreundeter Kollege weigerte, sich zu bücken. Ein israelischer Soldat habe dem Mann daraufhin ins Bein geschossen, erzählt der Palästinenser. Niemand rief einen Krankenwagen oder half dem Verletzten. Innerhalb weniger Stunden war er verblutet. »Am nächsten Tag stand in der Zeitung, dass er ein Terrorist war, der das Leben eines israelischen Soldaten riskierte«, sagt Khatib verächtlich.

Kurze Zeit später töteten Mitglieder der Al-Aksa-Brigaden am selben Checkpoint sieben israelische Soldaten. Als Mohammed Khatib davon hörte, habe er sich zunächst sogar gefreut, gibt er zu. »Ich dachte, sie kriegen zurück, was sie verdienen.« Doch dann fand er heraus, dass die Armeeeinheit, die den Grenzposten bewachte, erst kurz vor dem Anschlag gewechselt hatte. Die Soldaten, die dabei ums Leben gekommen waren, traf keine Schuld am Tod seines Freundes. »Das hat mich traurig gemacht und ich begann zu verstehen, dass die Besatzung einen Kreislauf der Gewalt in Gang setzt«, erklärt Khatib und seine Augen, aus denen oft eine gewisse Spitzbübigkeit leuchtet, wenn er redet, blicken ernst. Er habe damals begriffen, dass es darum gehen muss, diesen Kreislauf zu durchbrechen, erklärt er.

Das Bürgerkomitee bot eine Chance für einen solchen anderen Widerstand ohne Gewalt, an dem sich jeder beteiligen kann. In anderen Dörfern waren damals schon solche Komitees ins Leben gerufen worden. Auch die Anarchists against the Wall hatten zu jener Zeit bereits Erfahrung mit direkten Aktionen gegen den Mauerbau gesammelt. Die Gruppe war 2003 aus einem Zeltlager entstanden, das Aktivisten direkt auf der geplanten Bauroute des Zauns zwischen dem arabischen Dorf Dorf Mas'ha und der israelischen Siedlung Elkana aufgeschlagen hatten. v Den Kontakt zwischen den Anarchisten und dem Bürgerkomitee von Bil'in stellte schließlich der Koordinator der Komitees für die Ramallah-Region her. Anfangs machte die Idee einer Kooperation Mohammed Khatib misstrauisch. »Wir hatten Israelis bislang nur als Feinde im Kampf um unsere Rechte wahrgenommen«, erklärt er.

Auch für die israelischen Aktivisten erforderten die gemeinsamen Proteste zunächst ein Umdenken. Zwei von ihnen, Adi Winter und Yossi Bartal, sind ebenfalls in Berlin, um die Medaille entgegenzunehmen. Eine dritte Person, Sahar Vardi, konnte nicht kommen, weil sie bis vor Kurzem noch eine Gefängnisstrafe verbüßte. Vardi weigert sich, ihren Pflichtdienst beim israelischen Militär anzutreten.

»Die meisten aus unserer Gruppe sind in liberalen Familien aufgewachsen, in denen ein Frieden unterstützt wurde«, beschreibt Yossi Bartal, was die Zusammenarbeit mit dem Bürgerkomitee bedeutet. »Die Palästinenser als Menschen waren dabei aber nicht präsent«, erzählt er weiter. »Mit ihnen wurde nicht gesprochen.« Als der Israeli das erste Mal in Palästina war, habe er zum ersten Mal den Menschen anerkannt, der sonst immer nur »der Palästinenser« war. Er sah den Vater, den Sohn, »die Person«. Diese Anerkennung, so glaubt Yossi Bartal, ist der große Verdienst der Arbeit, die die Anarchists against the Wall machen.

Zusammenarbeit lässt Hürden zerbrechen

Mohammed Khatib erzählt von einer der ersten gemeinsamen Aktionen des Bürgerkomitees und der Anarchisten. Seine Idee war es damals gewesen, sich an Olivenbäume zu ketten, erzählt er. Ziel der Aktion sollte es sein, die Bagger für eine Weile zu stoppen und auf kreative Weise Aufmerksamkeit auf das Problem der Besatzung zu lenken. »Aber es war schwierig, die Bewohner von Bil'in davon zu überzeugen«, erzählt Khatib und das Lächeln kehrt zurück in sein Gesicht.

Morgens in aller Frühe sollte die Aktion starten, bevor die Soldaten auf ihre Posten kommen würden. Khatib befürchtete jedoch, dass viele der Palästinenser Angst davor haben würden, den israelischen Soldaten mit der Aktion so nah ausgeliefert zu sein. »Also habe ich Kontakt zu den Israelis aufgenommen«, beschreibt er. »Sie waren ja jetzt unsere Partner und konnten nicht mehr Nein sagen.« Als sich die Gruppe bereiterklärte, sich an die Bäume zu ketten, trug er schließlich dem Bürgerkomitee die Idee vor. Freilich veränderte er einige Details. »Ich habe erzählt, dass die Israelis vorgeschlagen hätten, sich an die Bäume zu ketten.« Es würden nun auch auf palästinensischer Seite Freiwillige gesucht, erklärte er den Dorfbewohnern. Ermutigt durch die Tatsache, dass die Anarchisten die Unterstützung zugesagt hatten, meldeten sich schließlich auch in Bil'in viele Freiwillige für die Aktion, die ein großer Erfolg wurde. »Die Zusammenarbeit hat die Hürden zerbrechen lassen«, sagt Mohammed Khatib.

Weil der Zaun bei Bil'in faktisch nicht mehr zu verhindern sei - er ist längst gebaut -, beteiligten sich die Anarchisten in letzter Zeit stärker an den Protesten in anderen Dörfern, erzählt Adi Winter. Zudem versucht die Gruppe aber auch, das Problem der Besatzung in die israelische Gesellschaft hineinzutragen. Einmal etwa brachten sie Stacheldraht aus der Westbank mit nach Tel Aviv und legten ihn in der Innenstadt über die Straße, um den Verkehr zu blockieren.

Adi Winter merkt man die anarchistischen Wurzeln an, wenn sie den Kerngedanken der Zusammenarbeit in ihren Worten formuliert. »Ein wahrer Friedensprozess kann nur zwischen Menschen und nicht zwischen Regierungen stattfinden«, sagt die Israelin.

Bei der Zeremonie zur Medaillenverleihung ist es Usus, dass auch die Preisträger des Vorjahres eine Laudatio halten. Verina Speckin steht deswegen vor dem Publikum im gut besuchten Auditorium im Haus der Kulturen der Welt. Die Rechtsanwältin engagierte sich beim Anwaltsnotdienst, der 2007 bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm Unterstützung für Betroffene leistete.

In keiner anderen Rede an diesem Tag wird so einfach auf den Punkt gebracht, warum dieses Jahr gerade das Bürgerkomitee und die israelischen Anarchisten die Auszeichnung erhalten. Und es ist still im Saal, als Verina Speckin diese Worte spricht: »Bil'in steht für den Traum, dass Menschen Brüder und Schwestern sein können.«

* Aus: Neues Deutschland, 8. Dezember 2008


Hier geht es zu einigen Reden der Preisverleihung: Fanny-Michaela Reisin, Uri Avnery, Anna Luczak u.a.: "Sie demonstrieren bewusst, dass ein Zusammenleben in Freiheit und Frieden möglich ist"




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