Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitfrage: Gehören die deutschen Geheimdienste abgeschafft?

Dr. Rolf Gössner, Jahrgang 1948, ist Publizist, Anwalt und Bürgerrechtsaktivist und u.a. Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und Dr. Max Stadler, Jahrgang 1949, stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestages als auch Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums; Mitglied der FDP-Fraktion.
Die Beiträge erschienen in der Tageszeitung "Neues Deutschland".



Fremdkörper in einer freiheitlichen Demokratie

Von Rolf Gössner *

Fast alle Bundestagsfraktionen und selbst die Bundesregierung halten seit geraumer Zeit eine Reform der Geheimdienste für überfällig. Warum? Weil die bundesdeutschen Dienste im weltweiten Antiterrorkampf immer mehr Macht erhalten haben, so viel wie nie zuvor, und deshalb einer Begrenzung bedürften? Nein! Denn diese Aufrüstung mit neuen Aufgaben, Befugnissen, mehr Personal und technischen Möglichkeiten der Ausforschung steht nicht zur Disposition. Warum also ein »neues« Reformprojekt? Weil angesichts einer nicht abreißenden Serie von Skandalen offenkundig geworden ist, dass diese hochgerüsteten Geheimorgane nur schwer zu kontrollieren sind und in zunehmendem Maße zum Problem werden – das gilt besonders für Bundesnachrichtendienst (BND) und die Verfassungsschutzbehörden (VS) des Bundes und der Länder.

Der Reformeifer ist allerdings eher schwach ausgeprägt: Abgesehen davon, dass sich Regierung und Mitglieder der Großen Koalition am liebsten »bessere« Geheimdienste wünschen, die effizienter, aber geräuschlos arbeiten, dürfte es vielen Reformern darum gehen, wenigstens die offenkundigen Kontrolldefizite zu minimieren und damit auch die Skandalträchtigkeit der Dienste. Sicher ein ehrenwertes Anliegen, wissen doch viele Mitglieder des geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollgremiums um die Vergeblichkeit einer öffentlichen Kontrolle der Geheimdienste. Ihnen ist es kaum vergönnt, einen der zahlreichen Skandale aufzudecken – meist gelingt dies nur Insidern und Medien. Immer wieder bleibt den Kontrolleuren nichts anderes übrig, als mit Verspätung darauf zu reagieren. Gerade die Erfahrungen im BND-Untersuchungsausschuss zeigen deutlich, dass die parlamentarische Kontrolle den verfassungsrechtlichen Anforderungen keineswegs gerecht wird. Also wäre es nur konsequent, die Kontrollbedingungen zu verbessern.

Doch reicht das wirklich aus? Warum fragt niemand nach den strukturellen Gründen dieses Kontrolldefizits. Warum wagt sich kaum jemand ans Eingemachte – nämlich an die Geheim-Strukturen und -Methoden der Dienste, denn gerade sie machen Bürgerrechten und Rechtsstaat schwer zu schaffen, machen die Dienste zu Problemfällen der Demokratie. Mit ihren klandestinen Mitteln zur politischen Überwachung und Infiltration, mit Verdeckten Ermittlern, V-Leuten, Lockspitzeln und technischen Mitteln für Lausch-, Späh- und Trojanerangriffe arbeiten sie in einer abgeschotteten Geheimzone, wo der demokratische Sektor praktisch endet. Sie, die dem Schutz der Demokratie dienen sollen, sind selbst Fremdkörper in einer freiheitlichen Demokratie, weil sie weder transparent noch kontrollierbar sind. Deshalb neigen sie zu Verselbstständigung und Eigenmächtigkeit, Machtmissbrauch und Willkür. Erinnert sei nur an das »Celler Loch«, die systematische Bespitzelung von Journalisten, oder an die größte bundesdeutsche V-Mann-Affäre, die anlässlich des gescheiterten NPD-Verbotsverfahren aufgedeckt worden ist. Geheimdienst-Skandale und Kontrolldefizite haben also System, das für die Grundrechte unbequemer Menschen und oppositioneller Gruppen zur Gefahr werden kann.

Deshalb ist die Grundsatzfrage »Geheimdienste besser kontrollieren oder lieber auflösen?« so bedeutsam – sie gehört dringend auf die politische Agenda. Doch lediglich in Linksfraktion und Linkspartei streitet man noch um diese Frage und um den widersprüchlichen Versuch, sich auf eine akute und perspektivische Linie zu verständigen. Zum einen besteht die Einsicht: Solange in einer Welt voller Geheimdienste auch hierzulande solche existieren, ist es verfassungsrechtlich geboten, zumindest die Kontrolle zu verbessern – zumal in einer Situation, in der es dafür Realisierungschancen gibt. Für alle, die sich am Versuch einer Geheimdienstkontrolle aktiv beteiligen, ist es nur konsequent, für eine Kontrollintensivierung zu streiten. Das ist, bei aller systembedingten Beschränktheit, nicht mehr und nicht weniger als ein Beitrag zur Demokratisierung.

Doch andererseits greifen bloße Kontrollverbesserungen wesentlich zu kurz, denn auch damit kann eine demokratische Vollkontrolle der Dienste nicht erreicht werden – zumindest solange diese mit geheimen Strukturen und Arbeitsmethoden ausgestattet sind, die unbemerkt und tief in die Grundrechte, in das Leben und die Berufsfreiheit der ausgeforschten Betroffenen eingreifen. Denn ein wirklich transparenter und voll kontrollierbarer Geheimdienst ist und bleibt ein Widerspruch in sich. Geheimdienste trachten im Übrigen »gewerbsmäßig« danach, sich auch einer intensiveren Kontrolle zu entziehen. Sie haben die Lizenz zur Täuschung, Manipulation und Desinformation – warum sollten sie ausgerechnet gegenüber ihren Kontrolleuren diese Fähigkeiten nicht nutzen?

Weil also stärkere Kontrollkompetenzen nicht an der problematischen Geheimsubstanz rühren, ergibt sich schon aus demokratischen Gründen die Notwendigkeit, gerade das Geheimdiensttypische in den Strukturen, Befugnissen und Methoden der drei Bundesgeheimdienste und der 16 VS-Behörden der Länder mit ihren insgesamt etwa zehntausend Bediensteten kritisch unter die Lupe zu nehmen und abzubauen – mit dem Ziel einer Entgeheimdienstlichung, einer Zurückdrängung und weitgehenden Aufhebung ihres Geheimdienst-Charakters. Dem stünde das Grundgesetz keineswegs entgegen, denn danach muss etwa der VS nicht notgedrungen als Geheimdienst ausgestaltet werden. Zumindest sollte die systematische Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel unterbunden und gesetzlich zur Ultima Ratio erklärt werden. So fände dann auch das grassierende V-Leute-Unwesen endlich ein Ende – und damit die Verstrickung des Inlandsgeheimdienstes in Neonaziszenen und -parteien.

Skandalgeneigte Institutionen, die Demokratie und Bürgerrechten mehr schaden als nützen, gehören perspektivisch aufgelöst und durch gut ausgestattete interdisziplinäre Forschungsinstitutionen ersetzt – offen arbeitende Einrichtungen, die Gefahren und Bedrohungen für die Gesellschaft seriöser diagnostizieren und analysieren, die Aufklärung und Politikberatung kompetenter und weniger interessegeleitet gewährleisten könnten.

* Dr. Rolf Gössner, 1948 in Tübingen geboren, ist Publizist, Anwalt und Bürgerrechtsaktivist. Er ist Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof in Bremen sowie Mitherausgeber der Zeitschrift »Ossietzky« und des »Grundrechte-Reports«. Rolf Gössner wurde 38 Jahre vom Verfassungsschutz überwacht. Die Beobachtung endete vergangenen November.


Versäumnisse rechtfertigen nicht die Abschaffung

Von Max Stadler **

Selten passt die Redensart, man solle das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, so gut wie auf die Forderung nach der Abschaffung der Geheimdienste. Zwar hat es im Zusammenhang mit der Arbeit der Dienste in den letzten Jahren so viele Probleme gegeben, dass der Deutsche Bundestag einen eigenen Untersuchungsausschuss eingerichtet hat. Aber schon die Bezeichnung »BND-Untersuchungsausschuss« greift zu kurz. Überwiegend geht es um Fehler der politischen Ebene, also der jeweiligen Bundesregierung, nur zum Teil um eigenständiges Fehlverhalten des Bundesnachrichtendienstes.

Es ist nachvollziehbar, dass die Frage nach der Notwendigkeit von Geheimdiensten immer wieder gestellt wird, zumal diese in einem äußerst grundrechtssensiblen Bereich tätig sind. Das gilt aber auch für die Polizei. Trotzdem käme niemand auf die Idee, die Abschaffung der Polizei vorzuschlagen, sondern zu Recht dreht sich die Debatte darum, wie in einem Rechtsstaat die polizeilichen Eingriffsbefugnisse beschaffen sein müssen. Regelungen wie das neue BKA-Gesetz gehen weit über das Ziel hinaus. Die Folgerung kann aber nicht sein, das Bundeskriminalamt abzuschaffen, sondern ihm einen angemessenen Rechtsrahmen vorzugeben.

Ähnliches gilt für die Dienste. Auch die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist in vielen (nicht allen!) Bereichen unerlässlich. Beispielsweise stellt das Erstarken der Neonazi-Szene den Staat vor die Notwendigkeit, Informationen auch schon im Vorfeld von Straftaten zu sammeln. Die Abwehr konkreter Gefahren ist typische Polizeiaufgabe, die Erkenntnisgewinnung im Vorfeld eine Aufgabe für den Verfassungsschutz. Es wäre gerade jetzt nicht zu verantworten, darauf zu verzichten. Selbst die Fehler, die im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren von 2003 begangen worden sind, als es an der Koordination der verschiedenen Verfassungsschutzämter fehlte, sind kein Argument dafür, dass die Beobachtung der rechtsextremen Szene durch den Verfassungsschutz unnötig wäre.

Legitim ist auch das Interesse der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise außenpolitische Entscheidungen auf einem Fundament umfassender und zuverlässiger Nachrichten treffen zu können. Auch die Informationsgewinnung mit nachrichtendienstlichen Mitteln kann zur Qualität politischer Entscheidungen beitragen. Der umstrittene Einsatz des BND vor und während des Irak-Kriegs in Bagdad ist daher nicht schon aus dem Grunde kritikwürdig, weil die damalige rot-grüne Bundesregierung ein eigenständiges Lagebild haben wollte. Es lag vielmehr im deutschen Interesse, bei der Lagebeurteilung nicht etwa auf die Amerikaner oder Briten angewiesen zu sein. Die berechtigte Kritik setzt vielmehr an der Tatsache an, dass durch den BND militärisch relevante Informationen an die USA als Kriegspartei geliefert wurden, während der eigenen Bevölkerung gegenüber der Anschein der Nichtbeteiligung erweckt worden war. Diese zwiespältige Politik ist aber der Bundesregierung und nicht dem BND anzulasten.

Ein weiteres Faktum ist völlig unverständlich. Die Vertreter der damaligen Bundesregierung berufen sich darauf, sie hätten für die Informationsweitergabe an die Amerikaner einschränkende Kriterien formuliert. Dann wäre zu erwarten gewesen, dass die Einhaltung dieser restriktiven Kriterien strengstens kontrolliert worden ist. Das Gegenteil war der Fall: Kanzleramt und BND-Spitze überließen nach eigenen Angaben die Auswahl der weiterzuleitenden Informationen einem Referatsleiter beim BND. Dieses Kontrolldefizit belegt nicht, dass der Dienst unkontrollierbar sei, sondern besagt, dass das Kanzleramt seine Aufsichtsfunktion auch tatsächlich wahrnehmen muss.

Der Untersuchungsausschuss hat sich des Weiteren ausgiebig mit dem Fall Murat Kurnaz befasst. Der gebürtige Bremer war fünf Jahre ohne stichhaltige Beweise in Guantanamo inhaftiert und der Folter ausgesetzt. Gegen ihn ist eine Wiedereinreisesperre nach Deutschland verhängt worden, obwohl nur vage Verdachtsmomente vorlagen. Das war rechtsstaatlich verfehlt und ist später gerichtlich beanstandet worden. Die BND-Spitze war an der Vorbereitung dieser Entscheidung beteiligt, indem sie an den Beratungen in der sogenannten Präsidentenrunde im Kanzleramt mitgewirkt hat. Verfügt wurde die Einreisesperre jedoch letztendlich nicht vom BND, sondern vom Bundesinnenministerium. Dort ist daher die politische Verantwortung festzumachen.

Problematisch sind auch Befragungen im Ausland, wenn die befragten Personen zuvor gefoltert worden sind (Guantanamo), oder wenn sie unter folterähnlichen Umständen inhaftiert waren. Beamte des BKA haben sich im Fall Kafaghy geweigert, unter solchen Umständen eine Vernehmung durchzuführen. Die Dienste hielten später nicht denselben rechtsstaatlichen Maßstab ein. Es wäre aber (auch) Sache der politischen Ebene gewesen, Kriterien für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Befragungen zu entwickeln. Somit steht fest, dass manche der skandalösen Ereignisse sich zwar in Mitverantwortung des BND, aber in hauptsächlicher Verantwortung der Politik ereignet haben. Es ist zu hoffen, dass der BND-Untersuchungsausschuss dazu beiträgt, dass gerade das Kanzleramt als Aufsichtsbehörde wieder zu strikt rechtsstaatlichen Vorgaben für das Agieren des BND findet.

Gleichwohl muss jeder BND-Präsident und jede Bundesregierung penibel darauf achten, dass sich nicht Teile des Dienstes verselbstständigen und damit der These von der Unkontrollierbarkeit Nahrung geben. Es ist völlig inakzeptabel, dass Weisungen, die Bespitzelung von Journalisten zu unterlassen, kurz darauf im bekannten Fall der »Spiegel«-Journalistin Susanne Koelbel missachtet worden sind. Gerade solche Skandale zeigen, dass vor allem die Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle effizienter ausgestaltet werden müssen. Die Vorschläge hierfür liegen auf dem Tisch, sind aber von der Großen Koalition bisher vor sich hergeschoben worden. All diese politischen Versäumnisse rechtfertigen jedoch nicht die Abschaffung der Dienste.

** Dr. Max Stadler, Jahrgang 1949, sitzt seit 1994 für die FDP im Deutschen Bundestag. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestages als auch Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Max Stadler ist außerdem Vorsitzender des Arbeitskreises Innen- und Rechtspolitik der FDP-Fraktion und seit April 2006 Obmann der FDP im BND-Untersuchungsausschuss.

Beide Beiträge aus: Neues Deutschland, 9. Januar 2009 (Rubrik: "Debatte"


Zurück zur Themenseite "Geheimdienste"

Zur Deutschland-Seite

Zurück zur Homepage