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"Deutsche Spionagehauptstadt"

Enthüllungen über neue US-Geheimdienstzentrale in Wiesbaden-Erbenheim führt zu Diskussionen

Von Johannes Birk *

Auf einer Website der US Army, www.eur.army.mil, findet sich jetzt in dürren Worten der offizielle Hinweis darauf, daß derzeit eine neue Geheimdienstzentrale (Consolidated Intelligence Center, CIC) am neuen Hauptquartier der US-Landstreitkräfte in Europa in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden errichtet wird. Die Fertigstellung ist bis Ende 2015 vorgesehen. Das CIC soll der US Army zuarbeiten und bei der Durchsetzung »strategischer Interessen« in über 40 Ländern in Eurasien behilflich sein.

»Wiesbaden ist im Begriff, deutsche Spionagehauptstadt zu werden«, heißt es in einer Erklärung der örtlichen Linkspartei. Schließlich hätten neben den US-Militärs und ihren Geheimdiensten auch mehrere Rüstungsfirmen einen Sitz in der hessischen Landeshauptstadt – so etwa der Drohnen-Produzent Parker Hannifin oder eine Tochterfirma der Sophos AG, die unweit des Wiesbadener Hauptbahnhofs Spionagesoftware zur Bekämpfung von Aufständischen produziere, die derzeit auch in Angola und Syrien eingesetzt würden. Zudem ist im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel auf einem US Army-Gelände, der sogenannten »Storage Station«, mit der »485th Intelligence Squadron« seit 1995 eine Geheimdiensteinheit stationiert. Hier vermutet die Bevölkerung entsprechende Anlagen, die teilweise weit unter der Erde installiert seien.

Neben der Linkspartei forderten nun auch SPD und Grüne in Hessen Ende vergangener Woche die CDU-FDP-Landesregierung auf, sich kritisch zur massenhaften Internetüberwachung durch die US-Geheimdienste zu äußern und daraus Konsequenzen zu ziehen. Zwei Monate vor der gleichzeitig mit der Bundestagswahl anberaumten hessischen Landtagswahl am 22. September haben damit die Oppositionsparteien offenbar ein weiteres Thema identifiziert, mit dem sie die amtierende CDU-FDP-Landesregierung vor sich hertreiben wollen. Ob diese Debatte bis zum Wahltag anhält, wer davon profitiert und ob angesichts eines von Wahlforschern vorhergesagten Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen dem Regierungslager und den oppositionellen Wunschpartnern SPD und Grüne dieses Thema sogar den Ausschlag geben könnte, ist derzeit allerdings schwer vorherzusagen.

Auf jeden Fall geben sich SPD und Grüne in Hessen derzeit kritischer gegenüber den US-Einrichtungen als in früheren Tagen. So hatte die Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung im Frühjahr 2008 mit der Mehrheit der damaligen »Jamaika«-Koalition aus CDU, FDP und Grünen die Verlegung des Europäischen Hauptquartiers der US-Landstreitkräfte von Heidelberg nach Wiesbaden begrüßt. Damals brach nur eine grüne Stadtverordnete die Fraktions­disziplin und stimmte gemeinsam mit der Fraktion Linke Liste (LiLi) und wenigen anderen mit Nein.

»Wir haben all dies immer wieder thematisiert und problematisiert, jedoch sind Abtauchen, Wegsehen, Sich-dumm-stellen leider das Mittel der offiziellen Politik in Wiesbaden und im Bund«, kritisiert die Wiesbadener Linkspartei. Inzwischen macht sich in der Bevölkerung allerdings zunehmend Ernüchterung breit. Dafür sorgen neben den Meldungen über ein systematisches Ausspähen der elektronischen Kommunikation und scheinbar »ahnungslose« Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker auch die mit den Ansiedlung von Soldaten und ihrem zivilen Troß zunehmende Anspannung auf dem Wohnungsmarkt sowie der vom Militärflughafen Erbenheim ausgehende Fluglärm. »An ausreichend Schlaf ist nicht zu denken«, schrieb der konservative Wiesbadener Kurier dieser Tage über die Nöte einer lärmgeplagten Erbenheimer Anwohnerin, die sich bitter über den von »Knatterkisten« ausgehenden »Schlafentzugsterror« beschwert und von den Nachtflügen von US-Kampfhubschraubern um ihre Ruhe gebracht sieht. Von »Ohrenzeugen für den Krach« und »aus dem Schlaf gerissenen, schreienden Kindern« berichtet ein Bewohner im Wiesbadener Stadtteil Biebrich. Wiesbadens neuer Oberbürgermeister Sven Gerich und Bürgermeister Arno Goßmann (beide SPD) wollen am Dienstag der US-Garnison einen Besuch abstatten und über den Lärm reden. Goßmann schraubte allerdings vorab alle Hoffnungen auf eine Lärmreduzierung herunter.

* Aus: junge Welt, Montag, 22. Juli 2013


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