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Wikileaks-Gründer festgenommen

Julian Assange stellt sich in Großbritannien der Polizei / Visa verweigert Plattform Dienste

Von Gabriel Rath, London *

Scotland Yard hat am Dienstag (7. Dez.) Wikileaks-Gründer Julian Assange festgenommen. Wie es hieß, müsse dieser mindestens eine Woche in Untersuchungshaft bleiben, eine Freilassung auf Kaution wurde abgelehnt. Assange will sich gegen seine Auslieferung nach Schweden wehren.

Der Gründer der Internet-Plattform Wikileaks, Julian Assange, muss bis mindestens 14. Dezember in London in Untersuchungshaft bleiben. Assange wurde am gestrigen Dienstag wegen eines schwedischen Haftbefehls in London festgenommen. In der Verhandlung erklärte der 39-jährige Australier nach Medienberichten, er werde eine Auslieferung an Schweden mit allen rechtlichen Mitteln bekämpfen. Da der Richter eine Kaution ablehnte, muss Assange bis zu der für den 14. Dezember angesetzten nächsten Verhandlung in Untersuchungshaft bleiben.

Assange hatte sich Dienstagmorgen der britischen Polizei wegen des in Schweden gegen ihn erlassenen Haftbefehls gestellt. Obwohl die Unterredung nach Berichten »freundschaftlich und konstruktiv« verlief, wurde er in Gewahrsam genommen und am Nachmittag dem Magistratsgericht von Westminster vorgeführt. Stimmt das Londoner Gericht dem Auslieferungsantrag zu, kann Assange durch Einlegen von Rechtsmitteln eine Ausführung des Beschlusses verzögern. So wehrt sich der Terrorverdächtige Abu Hamzar seit sechs Jahren gegen seine Auslieferung an die USA. Obwohl ihn manche US-Politiker (beinahe) in dieser Kategorie sehen, ist Assange in Schweden nicht des Terrorismus angeklagt. Der Haftbefehl lautet auf Vergewaltigung und sexuelle Belästigung. Assange weist dies zurück, sein Anwalt erklärte der BBC, der Wikileaks-Gründer wolle »seinen guten Ruf wiederherstellen«.

Wikileaks hält seit zehn Tagen mit vertraulichen Depeschen von US-Diplomaten die Welt in Atem. In Washington und vielen westlichen Hauptstädten sind die Veröffentlichungen scharf kritisiert worden. Assange und seine Anhänger hingegen sehen sich als Verteidiger der Informationsfreiheit und erklären, mit den Veröffentlichungen »Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen«.

So wurde seine Festnahme in London gestern auch von Wikileaks als »Anschlag auf die Meinungsfreiheit« verurteilt. Aus Solidarität fand sich auch der Regisseur Ken Loach bei Gericht ein. Auf der Website erschien die Botschaft: »Wir machen weiter. Jetzt noch intensiver.« Ein Sprecher der Plattform erklärte: »Die Entwicklungen rund um Julian Assange ändern nichts an unseren Plänen für die kommenden Tage und Wochen.« Wikileaks bleibe weiter operativ. Die Website hat nach eigenen Angaben mehr als 250 000 vertrauliche US-Depeschen.

Wikileaks lahmzulegen – daran arbeiten offenbar mächtige Kreise intensiv. Das Konto Assanges bei der Schweizer Post wurde eingefroren, der Internetbezahldienst PayPal und der Kreditkartenservice Visa kündigten Assange und Wikileaks die Dienste auf.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) hat die Arbeit von Wikileaks mit der der Staatssicherheit der DDR verglichen. Auf dem IT-Gipfel in Dresden sagte er: »Manches, was ich bei Wikileaks da entnehme, erinnert mich an die Sammelwut, die früher Institutionen im Osten hatten – die Stasi dabei.« Dagegen hat der deutsche Chaos Computer Club die Behinderung von Wikileaks durch Internet-Unternehmen und Banken kritisiert und die Aktivitäten der Enthüllungsplattform verteidigt. »Die Publikationen von Wikileaks entsprechen dem Grundsatz der Hackerethik nach freier Verfügbarkeit von staatlichen Informationen als Basis einer demokratischen Gesellschaft«, heißt es in der Mitteilung des Vereins.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Dezember 2010


Wikileaks unverhaftbar

Von André Scheer **

Für US-Verteidigungsminister Robert Gates war es »eine gute Nachricht« während seines Besuchs in Afghanistan: Die Londoner Polizei hat am Dienstag den Chef des Internetportals Wikileaks, Julian Assange, festgenommen, als dieser sich freiwillig bei einer Wache in der britischen Hauptstadt meldete. Die Metropolitan Police berief sich dabei auf einen Haftbefehl und ein Auslieferungsersuchen aus Stockholm. Dort wirft man dem gebürtigen Australier sexuelle Belästigung und Vergewaltigung vor, was dieser bestreitet.

Die schwedischen Behörden hatten bereits am 20. August einen Haftbefehl gegen Assange erlassen. Zwei Tage zuvor hatte die US-Administration ein Angebot von Wikileaks zurückgewiesen, vor der Verbreitung von weiteren 15000 Dokumenten über den Afghanistan-Krieg sensible Passagen zu schwärzen. »Wir sind nicht an Verhandlungen interessiert«, erklärte damals das Pentagon, und der Sprecher der NATO-Truppen in Afghanistan, Josef Blotz, warnte, die Veröffentlichungen seien »strafrechtlich relevant«. 48 Stunden später folgte in Stockholm der Haftbefehl, der jedoch bereits am folgenden Tag wieder aufgehoben wurde. »Es gibt für mich keinen Grund zu dem Verdacht mehr, daß er eine Vergewaltigung begangen hat«, zitierte Spiegel online damals die schwedische Justizsprecherin Eva Finné.

Schon im August sprach Assange in diesem Zusammenhang von »schmutzigen Tricks«. Auch die jetzige Verhaftung fällt mit der angelaufenen Verbreitung einer Viertelmillion Depeschen der US-Diplomatie zusammen, die derzeit weltweit für Aufregung sorgen. Hinzu kommen Unregelmäßigkeiten bei der schwedischen Justiz. So konnten die Briten Assange in der vergangenen Woche nichts anhaben, weil der Haftbefehl unvollständig war. Erst nachdem Stockholm nachgearbeitet hatte, konnte London tätig werden.

Zuvor waren bereits die Server von Wikileaks durch US-amerikanische und französische Unternehmen abgeschaltet worden, Spendenkonten wurden gesperrt, die Kreditkartenunternehmen Visa und Mastercard verweigern Zahlungen und auch die Hauptdomain wikileaks.org ist seit Tagen nicht mehr erreichbar. Darauf reagierten die Macher des Portals mit der Bitte um Solidarität gegen die Zensur. Möglichst viele Betreiber von Internetservern sollten sogenannte Mirrors einrichten, um die komplette Seite zu »spiegeln«. Bislang wurde dieser Aufruf bereits von 750 Betreibern befolgt. Als erster Bundestagsabgeordneter hat auch Andrej Hunko (Die Linke) einen solchen Mirror eingerichtet. »Gern folge ich dem Aufruf von Wikileaks, Webspace zur Verfügung zu stellen, um die ›Cables‹ auch weiterhin öffentlich einsehbar zu halten«, teilte Hunko mit. »Die Repression gegen Wikileaks ist politisch motiviert. Der Feldzug illustriert eine Praxis, unliebsame Informationen aus dem Netz tilgen zu wollen.«

In London lehnte das zuständige Gericht am Nachmittag eine Freilassung Assanges gegen Kaution ab, so daß er mindestens bis zum kommenden Dienstag in Haft bleiben muß. Seine Anwälte haben angekündigt, eine Auslieferung an Schweden verhindern zu wollen, weil dort die Überstellung an die USA drohe, wo Assange kein faires Verfahren erwarte. Wikileaks selbst teilte über den Internetdienst Twitter mit, die »Aktionen« gegen Assange würden die Arbeit nicht beeinträchtigen: »Wir werden heute abend mehr Depeschen veröffentlichen als gewöhnlich.«

** Aus: junge Welt, 8. Dezember 2010


Wikileaks: »Wir lassen uns nicht mundtot machen« ***

Trotz der Festnahme von Wikileaks-Gründer Julian Assange hat die Enthüllungsplattform in der Nacht zum Mittwoch 46 weitere Geheimdokumente veröffentlicht. Aus den Depeschen von US-Diplomaten geht unter anderem hervor, dass Libyen Großbritannien vor der Freilassung des Lockerbie-Bombers stärker unter Druck gesetzt hat als bislang bekannt. In einer Nachricht bekräftigte ein Wikileaks-Sprecher, dass die Organisation weitermachen will: »Wir lassen uns nicht mundtot machen, weder von juristischen Aktionen noch von Zensur durch Firmen«, schrieb Kristinn Hrafnsson.

Die Hälfte der jetzt veröffentlichten Dokumente stammt aus der US-Vertretung in Madrid. Daraus geht unter anderem hervor, dass Spanien sich 2009 um eine Normalisierung seiner angespannten Beziehungen zu den USA bemühte. In einer anderen Depesche steht, dass Großbritannien im Streit um die Freilassung des Lockerbie-Bombers Abdel Basset al-Megrahi »harte und sofortige Maßnahmen« von Libyen befürchtet hatte, falls der Mann im Gefängnis gestorben wäre. Das berichtet die britische Zeitung »Guardian« unter Berufung auf die Dokumente.

Wikileaks gab sich in einer über Twitter verbreiteten Nachricht angriffslustig. Assanges Festnahme werde die Organisation nicht lähmen, die Veröffentlichung von US-Depeschen gehe weiter, schrieb Sprecher Kristinn Hrafnsson. Die Depeschen seien an mehr als 500 Stellen im Netz zu finden, die Dokumente würden täglich 50 Millionen Mal aufgerufen.

*** Aus: Neues Deutschland, 8. Dezember 2010


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