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NSA-Überwachungsskandal soll vor Gericht

Datenschützer und Menschenrechtler haben Strafanzeige gegen Kanzlerin Merkel gestellt

Von Johanna Treblin *

Ein Ermittlungsverfahren soll die Verantwortung deutscher Politiker und Behörden in der Ausspähung von Deutschen durch US-Geheimdienste klären.

Wenn es nach der Bundesregierung ginge, wäre die NSA-Spähaffäre längst Legende. Schon im August hatte der damalige Kanzleramtschef Ronald Pofalla den US-Geheimdienstskandal für beendet erklärt. Zum kurzen Aufruhr unter den Politikern der Regierungsparteien kam es lediglich, als bekannt wurde, dass Kanzlerin Angela Merkels Handy angezapft worden war. Die Aufregung klang schnell ab, und in der vergangenen Woche erklärte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen gar, es gebe keine validen Erkenntnisse, dass US-Geheimdienste jemals Merkels Telefongespräche mitgehört hätten.

Wenn die verantwortlichen Politiker und Behördenleiter sich lieber wie die drei berühmten Affen verhalten – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen –, dann hilft hoffentlich die Justiz weiter: Am Montag hat die Internationale Liga für Menschenrechte gemeinsam mit dem Chaos Computer Club und dem Verein Digitalcourage Strafanzeige beim Generalbundesanwalt erstattet: gegen Merkel und Maaßen sowie gegen Bundesinnenminister Thomas de Maizière und den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes Gerhard Schindler.

Die Datenschützer und Menschenrechtler werfen der Regierung vor, Strafvereitelung im Amt begangen und den persönlichen Lebens- und Geheimbereich von Millionen Menschen in Deutschland verletzt zu haben. Die Anzeige richtet sich außerdem gegen die Leiter der Landesämter des Verfassungsschutzes und US-amerikanische, britische und deutsche Geheimdienstagenten, die an den Überwachungsmaßnahmen beteiligt sind und waren.

Dass die deutschen Dienste ein Mitwissen oder gar eine Mittäterschaft bestreiten, liegt an ihrer weitgehenden Autonomie, so Rolf Gössner, Vize-Präsident der Liga für Menschenrechte. »Sie wissen, dass die parlamentarische Kontrolle der Dienste nicht funktioniert«, sagte er gegenüber »nd«.

Ziel der Initiatoren der Anzeige ist es zunächst, dass durch Ermittlungen Informationen über strafbare Aktivitäten in- und ausländischer Geheimdienste öffentlich werden. »Als wichtigster Zeuge muss auch Edward Snowden angehört werden«, sagte Rechtsanwalt Eberhard Schultz, der die Initiatoren der Anzeige vertritt, gegenüber »nd«. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Snowden hatte im vergangenen Jahr den Skandal aufgedeckt. Sollte er vorgeladen werden, wäre das bereits ein erster Erfolg, so der Anwalt. Während der Ermittlungen werde sich herausstellen, dass deutsche Stellen Mitverantwortung an der Spähaffäre tragen. »Wenn sich der Verdacht bestätigt, muss Anklage erhoben werden.«

Parallel zur Strafanzeige in Deutschland wurde auch in Belgien und Frankreich Anzeige gegen Verantwortliche in Regierungspositionen und Behörden erstattet. Die Internationale Liga für Menschenrechte geht davon aus, dass der Fall letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen wird.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4, Februar 2014



Pressemitteilung

Internationale Liga für Menschenrechte initiiert Strafanzeige gegen Geheimdienste und Bundesregierung wegen geheimdienstlicher Massenüberwachung und –Ausforschung durch NSA & Co.

Heute hat die Internationale Liga für Menschenrechte zusammen mit
  • dem Liga-Vizepräsidenten und Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner,
  • dem Chaos Computer Club e.V., Hamburg, und seiner Sprecherin Dr. Constanze Kurz
  • dem Datenschutzverein digitalcourage e.V. (Bielefeld) und den Vorstands­mitgliedern Rena Tangens und padeluun
Strafanzeige beim Generalbundesanwalt erstattet.


Die anlasslose Massenüberwachung und Ausforschung der Bevölkerung, die systematische Digitalspionage durch den US-Geheimdienst NSA und andere Geheimdienste und die damit mutmaßlich verbundenen Bürgerrechts- und Strafrechtsverstöße müssen endlich gerichtlich überprüft und ggf. geahndet werden. So etwa die Straftatbestände der verbotenen Geheimdiensttätigkeit, der Verletzungen des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs, des Ausspähen von Daten und der Strafvereitelung.

Die Strafanzeige richtet sich gegen US-amerikanische, britische und auch deutsche Geheimdienste (Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst) und namentlich gegen die jeweils zuständigen Leiter, die über enge Kooperationen in diese flächendeckenden Geheimdienstaktivitäten verstrickt und mit uferlosen Datenübermittlungen an diesem globalen Ausforschungssystem und den Datenexzessen unmittelbar und mittelbar beteiligt sind. Die Anzeige richtet sich auch gegen die Bundeskanzlerin und den Bundesinnenminister als Verantwortliche für die mutmaßliche Mittäter- und Gehilfenschaft bundesdeutscher Geheimdienste. Die Anzeige richtet sich schließlich gegen die gesamte Bundesregierung sowie gegen alle zuständigen Amtsvorgänger während der letzten beiden Jahrzehnte.

Liga-Vizepräsident Dr. Rolf Gössner zu seiner Motivation, die Anzeige mit zu erstatten:

„Dieser Schritt ist der Versuch, die allenthalben spürbare Ohnmacht und Duldungsstarre angesichts der Überwachungsdimension und der täglichen Enthüllungen zu durchbrechen und die politisch und strafrechtlich Mitverantwortlichen in Bundesregierung und Geheimdiensten endlich ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Und zwar für deren enge Kooperation und den intensiven Datenaustausch mit der NSA und anderen Geheimdiensten und dafür, dass bundesdeutsche Geheimdienste, wie der BND, sogar Überwachungsinstrumente und –Infrastrukturen mit der NSA teilen, wie Edward Snowden vor kurzem dargelegt hat.“

Die inzwischen bekannt gewordenen Geheimdienst-Praktiken und Strukturen jenseits demokratischer Kontrolle haben gravierende Auswirkungen auf die betroffenen Bürger_innen, auf zivilgesellschaftliche Vereinigungen, auf Staat und Gesellschaft, auf Politik und Wirtschaft auf die Substanz von Grund- und Bürgerrechten sowie auf Bewusstsein und Verhalten der Menschen.

Rolf Gössner: „Das von der Verfassung garantierte Recht des Einzelnen, unkontrolliert zu kommunizieren, ist unverzichtbare Grundvoraussetzung einer offenen demokratischen Gesellschaft – wird aber unter den Bedingungen dieser Massenüberwachung schwer verletzt. Doch sowohl die alte als auch die neue Bundesregierung haben es bislang, sträflich unterlassen, mit der Massenüberwachung verbundene Straftaten und Bürgerrechtsverletzungen zu unterbinden und die Bürger_innen und von Wirtschaftsspionage betroffene Unternehmen pflichtgemäß vor diesen feindlichen Attacken zu schützen - obwohl es zu ihren Kernaufgaben gehört, diesen Schutz zu gewährleisten und der Erosion des demokratischen Rechtsstaates und der Bürgerrechte wirksam Einhalt zu gebieten.“

Liga-Präsidentin Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin ruft aus all diesen Gründen dazu auf, sich kollektiv zu widersetzen und die Strafanzeige zu unterstützen:

„Wir brauchen dringend eine straf- und verfassungsrechtliche Klärung der Verantwortlichkeiten in dieser Affäre – ohne Rücksicht auf (außen-)politische Interessen. Deshalb hat die Liga die Strafanzeige gegen Verantwortliche der Massenüberwachung initiiert - parallel zu unseren Schwesterligen in Frankreich und Belgien und koordiniert durch unsere gemeinsame internationale Dachorganisation FIDH in Paris.

Unsere Initiative soll die Zivilgesellschaft eindringlich dazu ermuntern, sich diesen bürgerrechtsfeindlichen Angriffen auf geltendes Recht mit aller Kraft zu widersetzen - ehe es zu spät ist. Wir rufen Vereinigungen sowie Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich zahlreich der Anzeige anzuschließen und sie öffentlichkeitswirksam zu unterstützen!“


Für weitere Informationen verweisen wir auf beigefügte Pressemitteilung der Anwälte Eberhard Schultz und Claus Förster in Berlin, die die Strafanzeige für die Liga und im Namen der beteiligten Anzeigeerstatter_innen gefertigt haben.

INTERNATIONALE LIGA FÜR MENSCHENRECHTE, Berlin
03. Februar 2014





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