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Berlin, 16. Mai – Die Friedensbewegung war dabei

Zum Zusammenhang von Kapitalismus, Krise und Krieg

Von Peter Strutynski

Dass die Großdemonstration der Gewerkschaften am 16. Mai in Berlin gegen die Krisenfolgen und für ein soziales Europa ein Erfolg war, sei ihnen und uns allen von Herzen gegönnt. Angesichts einer beispiellosen Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise, einer wieder ansteigenden Massenarbeitslosigkeit, Kurzarbeit mit entsprechenden Lohneinbußen der Beschäftigten und einer mehr als stümperhaften Krisenreaktionspolitik der Regierung, war es höchste Zeit, dass die Gewerkschaften europaweit auf die Straße gehen. Viele Mitglieder, Betriebsräte und Vertrauensleute sowie die Funktionäre auf der unteren und mittleren Ebene haben auf ein solches Signal gedrängt. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften waren von Links unter Druck geraten. Die beiden, von den sozialen Bewegungen organisierten Demonstrationen, die am 28. März in Berlin und Frankfurt/M. stattfanden, hatten dem DGB vor Augen geführt, dass es nicht nur nötig, sondern auch möglich sei, deutlichere Antworten auf die Krise des neoliberalen Kapitalismus zu formulieren. Die Parole der März-Demos war einprägsam und richtig: „Wir zahlen nicht für eure Krise“. Das Motto der Mai-Demo in Berlin war etwas länger, gipfelte aber – nur anders formuliert - in der Forderung der sozialen Bewegungen: "Die Krise bekämpfen. Sozialpakt für Europa! Die Verursacher müssen zahlen."

Wer aber von „Verursachern“ spricht und sich weigert, deren Zeche zu bezahlen, muss auch in der Lage und bereit sein, sie beim Namen zu nennen. Das geschah am 16. Mai in unterschiedlicher Weise. Banker und Vorstände großer Konzerne wurden wegen überzogener Bonuszahlungen gescholten, die sie sich genehmigt hätten, Spekulanten und Börsenzocker wurden an den Pranger gestellt wegen ihrer unverantwortlichen Jagd nach Spekulationsgewinnen und die Arbeitgeber realwirtschaftlicher Unternehmen wurden kritisiert, weil sie die Krise zur verstärkten Ausbeutung der Beschäftigten ausnutzten und auch vor Massenentlassungen nicht zurückschreckten. Grundsätzliche Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem wurde dagegen kaum geübt – dem widerspricht nicht, dass in manchen Reden schon einmal gegen den Shareholder-Kapitalismus gewettert wurden. Wer im Shareholder-Kapitalismus die Wurzel allen Übels dieser Welt erblickt, spricht doch gleichzeitig den Kapitalismus von jeder Schuld frei und müsste zudem erklären, wie ein Kapitalismus ohne Shareholder, d.h. ohne Aktionäre, je existieren könnte. Die Masse der Demonstranten sah das schon klarer: Auf zahlreichen Transparenten und Plakaten und in vielen Sprechchören wurde der Kapitalismus zu Grabe getragen. Auffallend aber hier die große Zurückhaltung, Alternativen zum Kapitalismus zu benennen. Der Realsozialismus des 20. Jahrhunderts ist offenbar so nachhaltig desavouiert worden, dass die Kapitalismuskritiker nicht einmal mehr das Wort „Sozialismus“ in den Mund nehmen wollen.

Auf einer anderen Ebene liegt der schonende Umgang mit der Politik. Der Protest des DGB vermied es sichtlich, die jetzige Bundesregierung wegen ihrer verfehlten Krisenpolitik, insbesondere der einseitigen Schutzschirm-Politik für Banken und andere „Not leidende“ Unternehmen, und wegen der nur halbherzigen und zudem ökologisch nicht flankierten Konjunkturpolitik frontal anzugreifen. Man darf getrost annehmen, dass dies vor allem aus Rücksicht gegenüber der Koalitionspartei SPD geschah. Auch vermied man peinlichst jede Kritik an der früheren rot-grünen Bundesregierung, obwohl die für die vielen Grausamkeiten verantwortlich zeichnete, die heute und in Zukunft ganze Generationen von Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Rentnern ins soziale Abseits manövrieren. Nirgends war darüber hinaus deutlicher zu spüren, dass wir uns in einem „Super“-Wahljahr befinden, als in dem Umstand, dass hinter dem Leittransparent in der ersten Reihe der Demonstration die Gewerkschaftsspitze zusammen mit den Parteispitzen von SPD und Grünen marschierte. Dieser Kuschelkurs mit den Urhebern des Umbaus der deutschen Sozialsysteme zu Lasten der sozial Schwachen, der Arbeitslosen und Rentner/innen kann nicht anders interpretiert werden als der Versuch, zur alten rot-grünen Politik zurückzukehren und alternative Politikansätze – wie sie etwa von der Partei Die Linke vertreten werden – abzuwehren.

Ähnlich verhält es sich mit der Ausklammerung von Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Weltpolitische Gegenwartsfragen wie die nach der Zukunft der NATO, dem zunehmenden Konflikt zwischen NATO und EU auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite, der Abschottung EU-Europas vor Kriegsflüchtlingen und Migrantinnen und Migranten vor allem aus Afrika oder dem ungelösten Konflikt im Nahen Osten fanden weder Eingang in den Aufruf des DGB noch in die zahlreichen Reden der Abschlusskundgebung. Die Friedensbewegung hatte versucht, wenigstens die Themen Militäretat, Rüstungskosten und Krise sowie die steigenden Kosten des Afghanistankriegs in die Demonstration hinein zu tragen. Ein entsprechender Aufruf des Bundesausschusses Friedensratschlag wurde in einer bescheidenen Auflage (6.000) unter die Leute gebracht, musste allerdings – wie immer bei solchen Events – mit zahlreichen Flugblättern anderer Organisationen konkurrieren. Der Aufruf des „Friedensratschlags“ an die Friedensbewegung, sich mit entsprechenden Friedensfahnen und Transparenten an den Protesten der Gewerkschaften zu beteiligen, fand ein eher bescheidenes Echo. Das mag damit zu tun haben, dass die Friedensbewegung nach Straßburg/Kehl und den Ostermärschen demonstrationsmäßig etwas erschöpft ist. Das kann seinen Grund aber auch darin haben, dass die thematische Beschränkung des DGB-Protestes den Friedensinitiativen zu wenige Ansatzpunkte für die Formulierung einer auf das Anliegen der Demonstranten bezogenen und friedenspolitisch eigenständigen Agenda bot.

Dabei liegen die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Krise und Krieg auf der Hand. Wie das Bonner Institut für Konversionsforschung BICC in seinem jüngsten Jahresbericht festgestellt hat, wurde weltweit noch nie in der Geschichte so viel für Rüstung und Militär ausgegeben wie heute. Einen neuen Rüstungsrekord verzeichnet demnach auch Deutschland mit über 31 Mrd. EUR (nach NATO-Kriterien sind es sogar 34 Mrd. EUR). Während in fast allen Branchen die Krise für Absatzeinbrüche gesorgt hat und Kurzarbeit möglicherweise erst der Vorbote künftiger Entlassungswellen ist, können sich die Rüstungskonzerne vor Aufträgen gar nicht mehr retten. Eine besondere Unverschämtheit leistete sich die Bundesregierung damit, in ihr Konjunkturpaket auch die Rüstungsindustrie mit Sofort-Aufträgen in Höhe von 300 Mio. EUR einzubeziehen. Auch werden die Auslandseinsätze der Bundeswehr – vom Kosovo bis nach Afghanistan – immer umfangreicher und teurer. Die weltweite Hochrüstung bedroht nicht nur die Menschheit mit neuen Kriegen, sondern tötet auch im Frieden. Täglich sterben 100.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Unterernährung. Man könne davon ausgehen, dass sich die Wachstumsraten der Entwicklungsländer im Jahr 2009 im Gefolge der Weltwirtschaftskrise halbieren werden, so Peter Wolff vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Das bestätigt auch eine Weltbank-Studie: In 94 von 116 untersuchten Ländern sei ein akuter Abschwung zu beobachten. Dessen erste Folge ist Massenarbeitslosigkeit. So verlor Kambodscha 2008 bereits 30.000 Jobs in der Textilindustrie. In den Bereichen Schmuck, Autos und Bekleidung brachen in Indien im letzten Quartal 2008 eine halbe Million Stellen weg. Laut Weltbank sind in Asien 140 Millionen Menschen von extremer Armut bedroht. Von Afrika – obwohl nur relativ schwach in den Weltmarkt integriert – gar nicht zu reden! Der schwarze Kontinent leidet unter Exporteinbrüchen bei Öl, Kaffee, Diamanten und Grunderzeugnissen. Die Spekulation des reichen Nordens mit Nahrungsmitteln habe zu einer massiven Verteuerung geführt - in Ruanda hätten sich die Preise für Lebensmittel und Energie vervierfacht. Benin, Burundi, Liberia, Mosambik und Niger stehen laut der Kindernothilfe vor dem Staatsbankrott.

„Abrüstung setzt Mittel frei, die zur Bekämpfung der Armut genutzt werden können“, heißt es daher im BICC-Jahresbericht. Dies gilt weltweit, dies gilt aber auch in einem hoch entwickelten Land wie Deutschland, in dem die Armut, insbesondere die Kinderarmut, in den letzten Jahren dramatisch zugenommen hat. Es wird daher eine Aufgabe der Friedensbewegung bleiben, diese Zusammenhänge wieder verstärkt in die Debatten von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen hinein zu tragen. Erst wenn das gelingt, werden solche Themen wie die NATO (immerhin verantwortlich für 75 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben!) oder der Afghanistankrieg nicht mehr als Spezialfragen der Friedensbewegung aufgefasst, sondern als integraler Bestandteil einer arbeitnehmerorientierten und ökologischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Gemeinsamkeiten zwischen Gewerkschaften und Friedensbewegung sind größer als es derzeit den Anschein hat.


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