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"Sozialabbau als Treibstoff für die Rüstung?"?

Von Anne Rieger

1,8 Mrd. € sollten Arbeitslosen, die Arbeitslosengeld (ALG) II beziehen müssen, allein im Januar 2005 aus der Tasche gezogen werden. Bundesminister Clement wollte ihnen einen Monat lang keine Leistungen auszahlen. Exakt die gleiche Summe kosten die Auslandseinsätze der ca. 7000 BundeswehrsoldatInnen pro Jahr. Vor 10 Jahren waren es nur 131 Mio. €, ein Zehntel der heutigen Summe. Würde die Bundeswehr im Inland bleiben, wie es der Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes vorsieht, müssten nicht in dauerhaften Montagsdemo die sowieso kärglichen Monatsbezüge von 345 Euro erstritten werden.

2003 gab die Bundesregierung für 2,2 Mio. Arbeitslosenhilfe-EmpfängerInnen 17,6 Mrd. € aus. Im Jahr 2005 wird sie den Betrag für eine Mio. Alg II EmpfängerInnen mehr, auf 13 Mrd. € kürzen. Die Zahl der von Armut betroffenen Kinder wird dadurch von 1 auf 1,5 Mio. steigen gibt das Deutsche Kinderhilfswerk bekannt. Der Rüstungshaushalt dagegen bleibt unangetastet. Während nach wie vor für die Bundeswehr und deren Ausrüstung Milliardenbeträge ausgegeben werden - im Bundeswehrplan 1997 ist der Kauf von 213 Waffensystemen und Ausrüstungen für insgesamt 113 Milliarden Euro vorgesehen - kürzt die Bundesregierung ständig im Sozialbereich: Sei es die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, die faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Kürzung der Rente, sowie deren höhere Besteuerung um jeweils zusätzliche zwei Prozent jährlich. Allein durch die Gesundheitsreform, deren bekannteste Auswirkung die 10 Euro Eintrittsgeld beim Arzt sind, wird den Beschäftigten eine zusätzliche jährliche Belastung aufgebürdet, die beinahe im zweistelligem Milliardenbereich liegt.

Überall sollen wir den Gürtel enger schnallen. Gleichzeitig werden ständig neue Rüstungsprojekte für die Auslandseinsätze aufgelegt. Auch die 60 Kriegstruppentransporter Airbus A400M für 8,3 Mrd. € und die 180 Eurofighter für 25 Mrd. € müssten für eine reine Verteidigungsarmee nicht beschafft werden. Der aktuelle Rüstungsetat beläuft sich auf etwa 24 Mrd. €. Er wird 2005 sogar leicht angehoben und ab dem Jahr 2007 jährlich um jeweils weitere 800 Mio € erhöht, obwohl die Zahl der SoldatInnen, Zivilbeschäftigten und innerdeutschen Standorte der Bundeswehr reduziert werden. In anderen Etats versteckt werden weitere 24 % der Militärausgaben, die offizielle nach NATO-Kriterien ausgegeben werden.

Obwohl im Grundgesetz in den Artikel 20 und 28 festgeschrieben ist, dass Deutschland ein "sozialer Rechtsstaat" ist, ist der Bundesregierung der Rüstungsbereich mehr ans Herz gewachsen als Bildung und soziale Sicherheit. Bereits im kommenden Jahr werden die militärischen Beschaffungen der Bundeswehr um 5,2 % erhöht. In der neuen EU-Verfassung heisst es sogar: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Diese Aufrüstungsverpflichtung der National-Staaten muss finanziert werden, offensichtlich aber nicht von den Reichen und Superreichen, denn Vermögende und Konzerne zahlen immer weniger Steuern Die Gewerkschaften hatten mehrfach gefordert, die Steuerfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu erhöhen. Eichel lehnte ab. Im Gegenzug erhöhte er 2001 die Versicherungs- und Tabaksteuer, kaufte für einen Teil des Geldes Spezialausrüstungen für die Bundeswehr und stellte anschließend diese Summe dauerhaft in den Militärhaushalt ein. "Zwei Eurofighter, die man nicht beschafft, würden ausreichen, um die Haushaltslöcher einer großen Stadt wie Rostock zu füllen", zeigt Prof. Dr. Wolfgang Methling, Umweltminister in Mecklenburg - Vorpommern die finanziellen Zusammenhänge drastisch auf.

Warum wird das Sozialstaatsgebot des GG nicht erfüllt? Warum wird ab 2005 die Rentenbesteuerung jährlich um jeweils 2 % erhöht, während ab 2007 der offiziell ausgewiesene Militärhaushalt Jahr für erhöht werden wird.

Angeblich sei kein Geld da. Wir haben in Stichpunkten nachgewiesen, dass fürs Militär Geld genug da ist. Auch das innerhalb von 10 Jahren gestiegenen Bruttoinlandsprodukt um 560 Mrd. € auf 2063 Mrd. € jährlich und unsere Weltmeisterschaft im Export zeigen deutlich auf, dass Deutschland keineswegs ein armes Land ist. Und die Sozialleistungsquote liegt seit ca. 30 Jahren - trotz Übernahme der DDR - etwa konstant bei ca. 31 Prozent. Wo liegen also die Ursachen?

Wir müssen uns darüber klar werden, das es sich beim Sozialabbau nicht um allein um Alg II geht. Die Dimension des Angriffs ist viel weitergehender. Es geht um einen grundlegenden Angriff auf das System der sozialen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.

Das Gesicht des Kapitalismus hat sich seit 1989 gewandelt in einen reinen Shareholder Kapitalismus. Es herrscht eine Dominanz kurzfristiger Gewinnerwartungen und höchster Rendite vor, die Finanzmärkte haben die Dominanz über die Produktionssphäre übernommen, geben die Rendite - Erwartungen vor. Dazu gehört die Privatisierung und Kapitalisierung der sozialen Sicherungssysteme: Der Gesundheitsmarkt beträgt weltweit 2,5 - 3 Bio $, der Wassermarkt 1,5 Bio $, der Bildungsmarkt 2,5 Bio $. Hinzu kommt der Rentenversicherungsmarkt, und wie man vernommen hat, denkt Merz von der CDU über die Privatisierung der Bundesagentur für Arbeit nach. Kapitalisierung heisst, die Sozialversicherungen werden freigegeben als Anlagevermögen für die Akteure des Finanzmarktes. Das sind riesige Geldanlagemärkte weltweit, und die Finanz-Unternehmen gieren längst danach.

So kommt de Sozialabbau einerseits dem Finanzkapital zugute, weil es die von den Regierungen frei geschaufelten Märkte der Sozialen Sicherungssysteme sich unter den Nagel reissen kann. Andererseits profitiert die Industrie, weil sie ihre Arbeitskosten für den globalen Wettbewerb senken kann. Die Triadenmächte USA, Japan und der EU liefern sich einen gnadenlosen Standortkampf, in dem sich die reichen Länder wechselseitig und noch mehr die "übrige Welt" unter Druck setzen, um den eigenen Konzernen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und die Konkurrenten in die Verlustzone zu treiben. Mit verheerenden Folgen für die meisten ErdbewohnerInnen.

Dabei sind Europa und die USA d gleichermaßen darauf angewiesen, Rohstoffe zu kontrollieren, Märkte offen zu halten und profitable Anlagemöglichkeiten zu sichern. Aber sie bedienen sich dabei graduell unterschiedlicher Strategien, die sich auch aus unterschiedlichen ökonomische Bedingungen und Problemen erklären lassen.

Die Unternehmen der EU haben ihren Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in den vergangenen 20 Jahren deutlich steigern können - der Anteil der US-Konzerne ist im gleichen Zeitraum um die Hälfte gesunken. Der Dollar als Weltwährung und Machtfaktor hat mit dem Euro echte Konkurrenz bekommen und gründet sich zudem auf einen einmalig hohen Schuldenberg.

Die USA versuchen ihre Dominanz in der Runde der feindlichen Brüder zu behalten, indem sie ihre Militärmacht (521 Mrd. US $ in 2004) einsetzen. Es ging nicht allein ums Öl im Irak, nicht um Bin Laden in Afghanistan, sondern mehr noch um die politisch-ökonomische Kontrolle eines Raumes, der weit über den Irak und Afghanistan hinausgeht und von zentraler Bedeutung für die Konflikte der Zukunft sein wird, nämlich für die Konkurrenz mit China und einem sich irgendwann auch wieder erholenden Russland. Es geht um den Ausbau einer geostrategischen Machtposition. Die Strategen in Washington denken und reden schon lange von noch größerer Beute. Dazu gehören die arabischen Staaten, Iran, die Türkei und alle anderen, die heute ungehorsam sind oder in Zukunft sein könnten. Sie alle sollen "befreit" und auf den rechten Weg gebracht werden.

Und Europa? Während 56 Millionen Bürger der EU von Armut bedroht sind, die Sozialsysteme in allen Ländern der EU geschleift werden, wird auch bei uns weiter auf Waffen gebaut, werden 160 Mrd. € jährlich fürs Militär ausgegeben. In unserem Interesse sind weder die nächsten US-Kriege, noch die Absicht, die Armeen der EU weiter aufzurüsten, wie nun im Verfassungsentwurf festgeschrieben ist.

Aber Europa und dabei - in Vorreiterrolle - Deutschland, oder besser gesagt seine Konzerne, sichern ihre Dominanz nicht nur durch politisch-militärische Macht. Sie kämpfen - wie es Karls Marx formuliert hat "mit der schweren Artillerie der billigen Warenpreise". Zweifellos ist diese Weltmarktstrategie weniger brutal, als die Bedrohung der Welt durch Krieg. Friedlich ist sie trotzdem nicht; sie wirkt sogar als eine ausgesprochen aggressive Strategie, die Millionen Menschen in aller Welt die Aussicht auf ein besseres Leben raubt und Verelendung vorantreibt. Auch diese Art den Konkurrenzkampf zu führen fordert unschuldige Opfer - nicht nur in den armen Ländern, sondern zunehmend auch hier.

Bei der Eröffnung der Hannover Messe am 6. April vergangenen Jahres sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder: "Die angekündigte Schritte für einen Umbau der Sozialsysteme sind gerade vor dem Hintergrund des Irak-Krieges und der dadurch verstärkten weltwirtschaftlichen Unsicherheit unerlässlich".

Die "Agenda 2010" ist eine neue Runde der ökonomischen Aufrüstung im Standortwettkampf - die Auf- und Umrüstung der Bundeswehr, der Aufbau und Einsatz der Europäischen Armee außerhalb der EU-Länder, ist die Vorbereitung dazu, diesen Standortwettbewerb militärisch zu flankieren und abzusichern.

Das beweisen nicht nur die Verteidigungspolitischen Richtlinien, in denen es heisst, "Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen- und mitteln zusätzlich verwundbar. ... Krisen, die Europa berühren, muss die EU mit einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können. ... Der Erhalt und die Verbesserung der militärischen Kernfähigkeiten hat Vorrang."

Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) nimmt kein Blatt vor den Mund: "Demzufolge ist die Transformation der Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungsarmee hin zu hochmobilen Krisen-Interventionskräften zwingend erforderlich." Er sagt auch gleich, wo das Geld herkommen soll: "Um insbesondere die staatlichen Investitionen für Verkehr, für die Zukunftsaufgaben in Bildung und Forschung und für Verteidigung deutlich zu steigern, müssen die konsumtiven Ausgaben des Staates drastisch reduziert werden. Das betrifft neben den Sozialausgaben und den Subventionen auch die Personalausgaben des Staates." ("Für ein attraktives Deutschland - Freiheit wagen - Fesseln Sprengen BDI - Gesamtreformkonzept", S. 22, am 4.2.04 Bundeskanzler Schröder überreicht.)

Anne Rieger, Gewerkschaftssekretärin bei der IG Metall in Waiblingen und Sprecherin des Bundesausschusses Friedensratschlag.
Dem Manuskript lag ein Referat auf dem Hannoveraner Friedenskongress Anfang September 2004 zugrunde.



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