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Mehr soziale Unruhen erwartet

ILO-Bericht: Arbeitslosigkeit steigt bis 2015 weltweit auf 207,8 Millionen

Von Kurt Stenger *

Die Industrieländer sollten dringend etwas gegen die wachsende soziale Ungleichheit unternehmen, mahnt die UN-Arbeitsorganisation.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnt vor einem weiteren Anstieg der weltweiten Arbeitslosigkeit. In diesem Jahr nimmt die Zahl der Arbeitslosen gegenüber 2012 um über sechs Millionen auf 201,4 Millionen zu, heißt es im am Montag in Genf veröffentlichten Weltarbeitsmarktbericht der UN-Organisation. 2015 könnten es sogar 207,8 Millionen sein. Trotz deutlicher Fortschritte im Bildungsbereich fänden junge Leute nur schwer eine adäquate Beschäftigung. Mit Folgen: »Die Gefahr sozialer Unruhen steigt in den meisten Regionen«, heißt es im Bericht. ILO-Generaldirektor Guy Ryder mahnt: »Wir müssen uns ernsthaft darum kümmern, die Ungleichheit zu reduzieren, die in so vielen Teilen der Welt zunimmt.«

Der Bericht verweist auf wachsende Ungleichgewichte weltweit. Einer positiven Entwicklung in großen Teilen der Dritten Welt stehe vor allem in europäischen Ländern eine Verschlechterung am Arbeitsmarkt und bei den sozialen Aussichten gegenüber. Die ILO kritisiert für eine UN-Organisation ungewöhnlich deutlich die Kürzungspolitik, die steigende Arbeitslosigkeit zur Folge habe, während die Einkommensschere weiter auseinander gehe. »Die Zunahme der Gefahr von Unruhen in der EU ist wahrscheinlich ein Ergebnis der politischen Reaktionen auf die Staatsschuldenkrise und deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen sowie deren Wahrnehmung von Wohlstand«, heißt es in dem Bericht. Wachsende Langzeitarbeitslosigkeit und Kinderarmut sowie die knappe Kreditvergabe an kleine Unternehmen durch den Finanzsektor »reduzieren das Wachstumspotenzial ebenso wie die Fähigkeit der Staaten, ihre Schulden zurückzuzahlen«.

Die ILO rät den EU-Staaten, Anreize zur Schaffung von Jobs zu setzen. Bei der Haushaltskonsolidierung müsse größere Aufmerksamkeit auf die Folgen für Beschäftigung und Sozialverträglichkeit gelegt werden. Außerdem müssten die Steuerbasis erhöht und der Kampf gegen Steuerhinterziehung verstärkt werden.

In Entwicklungsländern ist es laut dem Bericht vor allem einigen lateinamerikanischen und asiatischen Staaten gelungen, Wachstum zu fördern sowie wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anstrengungen verstärkt werden, weil die Exporte in die Industrieländer krisenbedingt an Bedeutung verlören. Daher müssten Mindestlohnsysteme und die soziale Absicherung im eigenen Land ausgebaut werden.

Die ILO weist darauf hin, dass sich Unternehmensprofite und Aktienkurse weltweit deutlich erholt haben. Entscheidend sei es, die Gewinne in produktive Investitionen zu überführen. Außerdem sollten die Arbeitseinkommen gemäß dem Produktivitätsfortschritt steigen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. Juni 2013


Machtlos?

Von Kurt Stenger **

Die Weltwirtschaft erholt sich von der schweren Rezession 2009, doch die Arbeitslosigkeit wächst von Jahr zu Jahr. Dass dies auch Folge der grassierenden Politik der Haushaltskonsolidierung in den Industriestaaten ist, hat sich herumgesprochen. Es ist dennoch bemerkenswert, dass die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) nun den Finger in die Wunde legt. Sie geht damit auf Konfrontationskurs gegenüber einer anderen UN-Institution: dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der immer dabei ist, wenn Kürzungsprogramme erarbeitet und durchgesetzt werden. Freilich bleibt es bei Mahnungen – die großen IWF-Eigentümerstaaten rücken kein Jota vom Austeritätskurs ab.

Dies wird wohl erst dann geschehen, wenn es zu den von der ILO erwarteten sozialen Unruhen kommt. Groß ist der Unmut angesichts der Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, angesichts der weiter wachsenden sozialen Ungleichheit und der Machtlosigkeit der Bürger in autoritär regierten Ländern. Die Sozialproteste in Spanien und Griechenland oder die Massendemonstrationen in der Türkei sind wohl nur ein Vorgeschmack. Selbst im Krisengewinnlerstaat Deutschland werden die Regierenden und ihre Sicherheitskräfte angesichts von ein paar tausend Anti-Kapitalismus-Demonstranten nervös.

In den Protesten drückt sich vor allem der Wunsch nach Selbstbestimmung aus. Dieser wird sich nicht so einfach befrieden lassen – selbst wenn es kleinere Abstriche bei den Austeritätsprogrammen oder gar eine sozialpolitische Wende nach ILO-Muster gibt.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. Juni 2013 (Kommentar)


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