Wähler und Spekulanten
Die Globalisierung der Demokratie
Nachfolgender Artikel erschien im "Freitag" vom 6. Februar 2002.
Der Begriff "Globalisierung", wertfrei benutzt, bedeutet nicht mehr als
internationale Integration, die Ende des 20. Jahrhunderts eine enorme
Dynamik erreicht hat und - je nach den sozialen Konsequenzen - willkommen
ist oder nicht. Wer sich dem widersetzte - wie etwa der Franzose Pierre
Bourdieu oder der Amerikaner Noam Chomsky - wurde schnell mit dem
Label "Globalisierungsgegner" ausgestattet. Durchaus ein ideologischer
Kampfbegriff, der einfältige Puristen geißelt, die angeblich Sehnsucht nach
der "Steinzeit" haben. Auch das Weltsozialforum wird gern so gesehen, um
ihm jede realpolitische Kompetenz abzusprechen.
Man kann über die
wirtschaftlichen Folgen der Liberalisierung des Kapitals sicher streiten,
über die politischen kaum: Sie bestehen in der Unterminierung der
Demokratie. Das wurde unter anderen Umständen von den USA und
Großbritannien als den maßgebenden Urhebern des
Bretton-Woods-Abkommens nach dem Zweiten Weltkrieg sehr gut
begriffen. Ein entscheidender Grund, weshalb diese Vereinbarungen auf die
Regulierung des Kapitals zielten, bestand darin, den Regierungen zu
erlauben, sozialdemokratische Reformprogramme umzusetzen, für die es
seinerzeit einen enormen Rückhalt in der Bevölkerung gab.
Heute hingegen führt die freie Bewegung des Kapitals zu einem "Virtuellen
Parlament", das ein Veto-Recht bei allen Regierungsbeschlüssen besitzt
und demokratische Optionen einschränkt. Mit anderen Worten: die
ungehinderte Bewegung des Kapitals konfrontiert die Regierungen des
Westens mit einem "zweifachen Elektorat" - Wählern und Spekulanten.
Letztere führen mit ihren Entscheidungen in jedem Augenblick
Abstimmungen über die Regierungspolitik durch und legen - wenn sie es
mögen - ein "Veto" ein, indem sie etwa die Währung eines Landes
angreifen. Sogar in reichen Ländern behält diese private Wählerschaft die
Oberhand.
Andere Komponenten der neo-liberalen Programme führen zum gleichen
Effekt und Ziel: Sozio-ökonomische Entscheidungen werden an
unkontrollierte Machtkonzentrationen abgegeben - ein wesentlicher
Grundzug der neoliberalen Reformen. Es gibt seit kurzem eine wesentliche
Erweiterung dieses Angriffs. Ich denke an die Verhandlungen, die gerade
über ein Generalabkommen für die Liberalisierung von Handel und
Dienstleistungen in Qatar während der WTO-Konferenz geführt wurden. Der
Begriff "Dienstleistungen" bezog sich dabei auf alles, was normalerweise
demokratischen Optionen unterliegt: Gesundheitsfürsorge, Ausbildung,
Wohlfahrt, Sozialversicherung, Kommunikation, Wasser, andere
Ressourcen. Nur ergibt es keinen Sinn, das Transferieren der
Dienstleistungen in private Hände als "Handel" zu deklarieren. Aber ich
denke, der Begriff des "Handels" wurde seiner Bedeutung bereits so sehr
entkleidet, dass er genauso gut auch auf diese Travestie ausgedehnt
werden kann - und als Tarnname für die Übergabe an die private Macht
herhalten muss.
Der Begriff "Dienstleistungshandel" ist insofern ein Euphemismus für
Programme, die geschaffen wurden, um die Volkssouveränität zu
unterminieren und die demokratischen Optionen zu reduzieren, indem man
die Entscheidungen über die wichtigsten Aspekte des Lebens aus der
öffentlichen Arena an die unkontrollierten privaten Tyranneien übergab. Die
riesigen Massenproteste im kanadischen Quebec vergangenen April - beim
Gipfeltreffen der Staaten Amerikas - richteten sich teilweise gegen den
Versuch, diese WTO-Grundsätze insgeheim als Teil der geplanten
Freihandelszone von Alaska bis Feuerland zu implementieren. Diese
Proteste brachten eine sehr breite, im Grunde beispiellose Wählerschaft
zusammen, einschließlich der mächtigen Gewerkschaften Südamerikas
und der auf dem Subkontinent etablierten sozialdemokratischen Parteien.
Alle befanden sich in Opposition gegen das, was Handelsminister und
Unternehmen hinter - aus gutem Grund - fest verschlossenen Türen
planten.
Ich erlaube mir einen Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte, um
transparenter machen zu können, was vor sich geht. Die geltenden Regeln
der WTO verbieten genau jene Maßnahmen, die einmal von reichen
Ländern wie Großbritannien, den USA, Japan und anderen ergriffen
wurden, um sich dem jetzigen Stand ihrer Entwicklung - auch in politischer
Hinsicht - nähern zu können. Sie sicherten ein beispielloses Ausmaß an
Protektionismus, einschließlich eines Patentregimes, das Innovationen
und neue Wege des Wachstums versperrte, wenn es geraten schien.
Hätte es für die USA vor 200 Jahren schon das derzeit geltende
Handelsregime der WTO gegeben, würde New England, wo ich lebe und
arbeite, heute sein Einkommen durch Fischfang und -exporte bestreiten
müssen. Es würde sicher keine Firma der Textilindustrie mehr produzieren,
die nur auf Grund exorbitanter Einfuhrzölle überlebte. Diesen Zöllen war es
zu verdanken, dass eine überlegene britische Produktion draußen gehalten
wurde, genau so, wie man auch bei Stahl und anderen Produkten verfuhr.
Aus: Freitag 06, 1. Februar 2002
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