Auch diese Welt ist möglich
Stehen wir vor einem hundertjährigen Krieg gegen Terrorismus und Schurkenstaaten?
In der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschien am 1. November 2001 ein sehr besorgter Artikel über die Zukunft des Globus. Dabei geht es nicht um ökologische Risiken oder um das Ende natürlicher Ressourcen, sondern um brisante Strategien gegen den internationalen Terrorismus, die derzeit in den USA verständlicherweise Hochkonjunktur haben. Vieles von dem, was die spin-doctors an politischen Konzeptionen und Weltordnungsvorstellungen den Regierenden vorschlagen, mag übertrieben, spekulativ und randständig sein. Interessant ist es aber allemal, dass im Umkreis der Macht des mächtigsten Staates der Erde solche Gedanken gewälzt werden. Wenn man an den Slogan der Globalisierungskritiker denkt: "Eine andere Welt ist möglich", so muss man gewärtig sein, dass diese andere Welt eben auch ganz anders ausfallen kann, als sie sich das wünschen. Wir dokumentieren den Artikel.
Kriegstreiber wie Kolonialherren:
100-jähriger Krieg gegen Terror und Versagerstaaten
Von Dieter Drüssel*
Die Drohung von George Bush ist ernst zu nehmen: «Unser Krieg gegen
den Terror beginnt mit al-Qaida, aber endet nicht damit.» Die Gruppe um
Paul Wolfowitz insistiert fast täglich darauf, den Irak zum nächsten Ziel zu
machen. Wolfowitz, Scharfmacher aus der Zeit des früheren Präsidenten
Ronald Reagan, ist stellvertretender US-Kriegsminister. Sein Mitstreiter
Richard Perle führt mit Kriegsminister Donald Rumsfeld einen «think tank»,
eine Denkfabrik, die, unterstützt von der ehemaligen Uno-Botschafterin
Jeanne Kirkpatrick, Präsident Bush zu Militärschlägen gegen den Irak
aufgefordert hatte. Perle leitet auch den «American Defense Policy Board»
(ADPC), ein das Pentagon beratendes Gremium von führenden
Sicherheitsstrategen beider grossen US-Parteien. Dazu gehören der
frühere Sprecher des Repräsentantenhauses Newt Gingrich; Harold Brown,
Verteidigungsminister unter Präsident Jimmy Carter; der frühere
Aussenminister Henry Kissinger; der ehemalige CIA-Chef James Woolsey
und weitere politische Schwergewichte. Die «New York Times» (NYT)
berichtete am 12. Oktober von ADPC-Plänen, den südlichen Irak und die
Ölfelder um Basra militärisch zu besetzen und mit den Petroerlösen
Aufstände im Süden und im kurdischen Norden zu finanzieren. Der
britische «Observer» berichtete schon am 30. September über die gleichen
Kriegspläne, die auch Einsätze in Syrien, im libanesischen Bekaa-Tal
gegen die Hisbollah, in Algerien und im Sudan skizzieren. Weiter könnten
«US-Spezialeinheiten zusammen mit einheimischen Kräften gegen
terroristische Zellen in alliierten westlichen Ländern eingesetzt werden,
speziell in Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und Spanien». Am
10. Oktober resümierte die NYT Aussagen von US-Beamten, wonach
wahrscheinlich offene und verdeckte Aktionen gegen das Bin-Laden-Netz
auf den Philippinen, in Indonesien und Malaysia folgen werden. Am 14.
Oktober zitierte der «Observer» einen US-Vertreter aus dem
Wolfowitz-Umkreis so: «Dieser Krieg richtet sich gegen das Virus des
Terrorismus. Bei Knochenkrebs reicht es nicht, den Fuss zu amputieren.
Man muss die gesamte Chemotherapie absolvieren. Und wenn das
bedeutet, sich auf den nächsten Hundertjährigen Krieg einzulassen - dann
machen wir das.»
Kontroversen innerhalb des Kriegsestablishments betreffen weniger das Ob
als das Wie und Wann. Wichtiger als Erörterungen möglicher
Unterschiede ist ein Blick auf die zugrunde liegende, offen kolonialistische
Weltsicht. Im «Wall Street Journal» (WSJ) vom 9. Oktober leitartikelt der
Wirtschaftshistoriker Paul Johnson ganz offen: «Die Antwort auf
Terrorismus? Kolonialismus!» Im historischen Aufwasch wird etwa der
chinesische Boxeraufstand von der vorletzten Jahrhundertwende als
«terroristische» Aktion interpretiert. Das ist sinnig: Der Boxeraufstand war
eine Revolte der Subsistenzbäuerinnen und -bauern wegen der von den
kolonialen Mächten mit ihren Zwangsmassnahmen mitverursachten
Hungersnöte in der Folge von El-Nińo-Dürren. Auch heute trifft die mit
Hunger kalkulierende Kriegsführung weniger die Talibancliquen als vielmehr
die modernisierungsstörrische Subsistenzbevölkerung mit unvorstellbarer
Brutalität. Der britische Generalstabschef Admiral Boyce: «Der Druck wird
so lange gesteigert, bis die Leute im Lande begreifen, dass das so lange
weitergeht, bis sie ihre Führung auswechseln» (NYT, 28. Oktober).
Der Satz von Wolfowitz, gewisse («terroristische») «Staaten beenden» zu
müssen, wird im WSJ erklärt: «Amerika und seine Alliierten werden sich
dabei wiederfinden, zumindest zeitweilig verstockte terroristische Staaten
nicht nur mit Truppen zu besetzen, sondern sie auch zu verwalten. Dazu
gehören eventuell nicht nur Afghanistan, sondern der Irak, Sudan, Libyen,
Iran und Syrien. Ich vermute, dass die beste mittelfristige Lösung in der
Wiederbelebung des Mandatsystems des alten Völkerbundes besteht,
welche in der Zwischenkriegszeit als 'respektable' Form des Kolonialismus
gute Dienste geleistet hat.» Martin Wolf von der «Financial Times» (FT)
resümiert am 10. Oktober die zugrunde liegende Theorie in seinem
Kampfaufruf mit dem Titel: «Es braucht einen neuen Imperialismus».
«Versagerstaaten» stellen «einen Herd von Krankheiten, Quelle von
Flüchtlingen, Hafen für Verbrecher oder Lieferanten harter Drogen» dar. Er
zitiert einen Begriff von Robert Cooper: «die vormoderne Welt des
vorstaatlichen und postimperialistischen Chaos». Cooper, britischer Autor
und Diplomat, ist heute wichtigster Afghanistanberater des britischen
Aussenministers Jack Straw. Cooper gehört zu den wichtigsten
Promotoren der in den letzten zehn Jahren entwickelten Theorie der «failed
states», der versagenden Staaten. In einer globalisierten Welt lassen sich
solche «Chaoszonen» - der deutsche Bundesaussenkriegsminister Josef
Fischer spricht vor dem Bundestag von «Zonen der Ordnungslosigkeit» -
nicht mehr länger isolieren. Cooper: «Wenn sie für die etablierten Staaten
zu gefährlich werden, ist es möglich, sich einen defensiven Imperialismus
vorzustellen.»
Staaten versagen dann, so der FT-Chefideologe Wolf unter Berufung auf
den Weltbanker William Easterley, wenn sie von Armut, Korruption,
Partikular- und ethnischen Interessen beherrscht werden. «Wenn ein
Versagerstaat gerettet werden soll, müssen die wesentlichen Elemente
einer ehrlichen Regierung, vor allem ihres 'Zwangsapparates', von aussen
gestellt werden.» Und die «Washington Post» schreibt am 29. Oktober:
«Wenn wir Afghanistan stabilisieren wollen, müssen wir unsere
postkolonialen Institutionen - die Uno, die Weltbank, Hilfsagenturen wie
das Rote Kreuz - mit neuer imperialer Energie versehen.»
Zonen des Elends werden also als Folge des transnationalen Diktats zu
Zonen lokaler Kriege und Konflikte, wie etwa in Pakistan, wo auf Druck der
Weltbank das öffentliche Schulwesen zerschlagen wurde und dadurch die
Koranschulen an Einfluss gewannen. Danach kommt aus der gleichen
Küche das entwicklungspolitische Rezept der «guten Regierungsführung»,
das offensiv den neuen globalen Kolonialkrieg legitimiert.
* Der Autor ist Mitarbeiter des Zentralamerika-Sekretariats
Aus: Woz, 1. November 2001
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