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"Eher in kleineren Räumen" - Aber auch in großen Stadien

Vom 4. bis 7. Mai findet in Athen das 4. Europäische Sozialforum statt - "Gegen Neoliberalismus, Krieg und Rassismus"

"The European Social Forum is, alongside Genoa and Seattle, one of the major events of the movement against neoliberal globalization and war, deregulation of labor and poverty, climate change and environmental destruction, violation of democratic rights and sexism, racism and the threat of the far right." - So steht es auf der "offiziellen" Website der Organisatoren des 4. Europäischen Sozialforums, das vom 4. bis 7. Mai 2006 in Athen stattfindet. Das Medienecho ist heuer etwas geringer, die Erwartungen an die Teilnehmerzahlen gedämpfter. Dass das ESF dennoch wieder ein markanter Treffpunkt für die globalisierungskritische Bewegung ist, dafür sorgt sein umfangreiches und buntes Programm.
Im Folgenden dokumentieren wir erste Vor-Berichte vom Athener Ereignis.



210 Seminare im Dreischichtsystem

Über 30 000 Teilnehmer werden in Athen zum 4. Europäischen Sozialforum erwartet / Widerstand gegen neoliberale Politik und Krieg steht im Mittelpunkt des ESF Von Anke Stefan, Athen*

»Verändern wir Europa, verändern wir die Welt!« Unter diesem Motto tagt ab heute das 4. Europäische Sozialforum in Athen. Mehr als 30 000 Teilnehmer werden zu dem viertägigen Treffen in den ehemaligen olympischen Wettkampfstätten für Basketball und Fechtsport am Rande der griechischen Hauptstadt erwartet.

Während die deutsche Beteiligung mit nur etwa 400 gemeldeten Teilnehmern deutlich hinter das Engagement bei früheren Sozialforen zurückfällt, entsenden diesmal bisher schwächer vertretene Staaten Europas größere Delegationen. So haben sich fast 1500 Menschen aus der Türkei und mehr als jeweils 1000 Teilnehmer aus der Ukraine, Moldova, Russland, Belarus, aus Georgien, Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei sowie aus Griechenlands Nachbarland Bulgarien angemeldet.

Die Bandbreite der beteiligten Organisationen ist groß. Neben Friedens- und Antikriegsbewegungen, Flüchtlings- und Migrantenorganisationen, Umweltbewegten, Antiimperialisten, Frauengruppen und nationalen Befreiungsbewegungen finden sich Gewerkschaften, Globalisierungsgegner, Gefangenenhilfsorganisationen, Agrar-aktivisten und Vertreter der Kuba-Solidarität auf den Teilnehmerlisten. Daneben ist manch eine Organisation mit ganz speziellem Anliegen, beispielsweise die »Internationale Stiftung zur Unterstützung von Waisen und missbrauchten Kindern«, vertreten.

Eine große Rolle werden in Athen die Parteien spielen, egal, ob sie in Parlamenten oder gar Regierungen vertreten sind. Überhaupt scheint die Bezeichnung »Sozialforum«, unter der die Bewegung einst aufgebrochen war, um möglichst viele Formationen in der Gesellschaft, die nicht zum etablierten politischen System gehören, zu erreichen, nur noch als »Markenzeichen zur Wiedererkennung« zu dienen. Längst hat sich das Forum zu einem Treffpunkt entwickelt, auf dem die »klassischen« politischen Gruppierungen dominieren.

Das Programm des ESF ist extrem umfangreich. In je drei Schichten werden 210 Seminare und zahlreiche Workshops stattfinden. Die schon von anderen Sozialforen bekannte Dolmetscherorganisation »Babels« wird auch diesmal wieder dafür sorgen, dass die Redebeiträge und Diskussionen der Seminare in mehrere Sprachen simultan übersetzt werden. Nur in den für etwa 30 bis 50 Personen ausgelegten Workshops werden sich die Teilnehmer bei der Verständigung selbst helfen müssen.

Dieses Jahr finden die meisten Seminare eher im »kleineren« Rahmen, mit jeweils 50 bis 350 Teilnehmern statt. Trotzdem wird es natürlich einige Großveranstaltungen geben, die nicht nur viel Publikum, sondern auch die Presse anziehen sollen. So wurden sieben »zentrale Seminare« mit international bekannten Persönlichkeiten auf dem Podium angekündigt. Gleich drei davon werden sich mit der spezifischen Situation einzelner Länder beschäftigen, die im Zentrum imperialistischer Angriffe stehen: Im ersten zentralen Seminar wird sich Aleida Guevara, die Tochter Chés, für die Aufhebung des Embargos gegen Kuba einsetzen. Im zweiten geht es um Palästina und die Unterstützung der Intifada. Das dritte Hauptforum befasst sich mit dem Widerstand im besetzten Irak. Um ebenso aktuelle wie brisante internationale Entwicklungen geht es auch bei dem Seminar unter dem Titel »Antidemokratische Kreuzzüge, neue ›globale Feinde‹ und die Menschenrechte«. Dabei wollen sich die Teilnehmer ganz allgemein mit imperialistischen Strategien und dem Widerstand dagegen auseinander setzen.

Natürlich kommen auch die sozialen Themen bei den Veranstaltungen nicht zu kurz. Die Arbeiterbewegung im Zeitalter des Neoliberalismus wird bei der Diskussionsrunde »Privatisierungen, Arbeitslosigkeit und soziale Rechte« im Mittelpunkt stehen, als Redner sind u.a. Sprecher von Gewerkschaftsverbänden, darunter der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, und des Europanetzwerkes von attac angekündigt.

Zwei der zentralen Seminare stellen die Frage nach der Zukunft Europas, der globalen Bewegung und der Rolle der Sozialforen. In der ersten der beiden Veranstaltung sollen »Sprecher der Bewegung« aus Europa und Lateinamerika ihre Positionen und Erfahrungen erläutern, während in der zweiten die »offene Diskussion aller Fraktionen der europäischen Linken« auf der Tagesordnung steht. Den Höhepunkt des 4. Europäischen Sozialforums wird sicherlich die Demonstration »gegen Armut, Krieg, Rassismus, Umweltverschmutzung, Sexismus und Besatzung« am Sonnabend bilden, die durch die gegenwärtige Drohung eines Militärschlages gegen Iran besondere Brisanz gewinnt.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Mai 2006


Von Porto Alegre bis nach Athen

Die Bewegung der Sozialforen hat sich in den vergangenen Jahren weltweit etabliert. Am Anfang stand 2001 das erste Weltsozialforum (WSF) im brasilianischen Porto Alegre – als Gegenveranstaltung zum Davoser Weltwirtschaftsforum und den jährlichen Treffen der Regierungschefs der G 8-Staaten. Kamen 2001 noch rund 12 000 Menschen in Porto Alegre zusammen, waren es ein Jahr später bereits 60 000. 2003 fand das WSF zum dritten Mal in Porto Alegre statt – mit über 100 000 Teilnehmern aus aller Welt. 2004 machte das Forum im indischen Mumbai Station, 2005 erneut in Porto Alegre. Im Jahr darauf setzte sich die Idee eines dezentralisierten Treffens durch, die Veranstaltungen fanden deshalb im malischen Bamako, in Venezuelas Hauptstadt Caracas und im pakistanischen Karatschi statt. 2007 soll es wieder ein zentrales WSF geben – im kenianischen Nairobi.
Parallel zu den Weltsozialforen wurden auch kontinentale Treffen organisiert. Das erste Europäische Sozialforum ESF fand 2003 im italienischen Florenz statt, später machte der Politzirkus in Paris (2004) und London (2005) Station. Das ESF in Athen wird das vierte Treffen der grenzüberschreitenden sozialen Bewegungen in Europa sein. Darüber hinaus fanden in den vergangenen Jahren zahlreiche nationale und regionale Sozialforen statt. In vielen Städten gibt es überdies lokale Sozialforen.
Die Leitidee der Sozialforumsbewegung ist in der Charta der Prinzipien verankert. Die Sozialforen verstehen sich als Ort des Ideenaustausches und als Netzwerktreffen. Die politische Klammer ist sehr weit gehalten. Parteienvertreter dürfen nur als Privatpersonen teilnehmen.



Auf, auf in die Stadien

Vom 4. bis 7. Mai findet in Athen das 4. Europäische Sozialforum statt

Von Heike Schrader, Athen**

Wenn man sich von der Küstenstraße her den ehemaligen Olympischen Stadien für Fechtsport und Basketball nähert, deutet wenig darauf hin, daß hier in diesen Tagen ein internationales Groß­ereignis stattfindet. Nur zwei Transparente am Zaun vor dem leeren, staubigen Großparkplatz künden das 4. Europäische Sozialforum (ESF) vom 4. bis 7. Mai in Athen an. Im Inneren der Versammlungsstätten dagegen herrscht seit Tagen reger Betrieb. Hier werkeln vorwiegend junge Mitglieder des griechischen Sozialforums sowie die ersten Gäste aus dem Ausland.

Über 600 Parteien, Organisationen, Bewegungen, Netzwerke und Gewerkschaften aus ganz Europa, aber auch aus anderen Teilen der Welt, haben ihre Teilnahme an dem heute beginnenden Treffen angekündigt. Etwa ein Drittel der über 30000 Teilnehmer kommt aus dem Ausland. Die bisher höchsten Kontingente stellt Italien mit 1900 Anmeldungen, gefolgt von Frankreich mit 1600 Teilnehmern. Aus der benachbarten Türkei werden 1450 Gäste erwartet. Die Teilnahme aus Deutschland liegt mit gut 400 Anmeldungen weit hinter der Beteiligung an vorangegangenen Sozialforen.

Für andere Staaten ist dagegen erstmals eine Beteiligung auf breiterer Basis ermöglicht worden. Griechenland an der Grenze des Balkan und mit guten Beziehungen in die Nachbarländer war ganz bewußt als fünfte Begegnungsstätte der Globalisierungskritiker ausgewählt worden. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mehr als tausend Teilnehmer haben sich aus Rußland, Ukraine, Moldawien, Belarus, Georgien, Polen, Bulgarien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei angemeldet – allen Visaproblemen zum Trotz.

Auf dem Programm stehen insgesamt 210 Seminare in 17 Themenkomplexen, die von Landwirtschaft und Städte, Umwelt und Wirtschaft über Demokratie, Diskriminierung, soziale Rechte, Migration, Globalisierung und Frauen bis hin zu Armut, Repression und Krieg reichen. Zentral bleibt das Engagement gegen den drohenden Angriff auf Iran. Mit 22 Seminaren erhält aber auch die Diskussion darüber, wie es mit dem Sozialforum weitergehen soll, einen besonderen Stellenwert. Bewußt beschränkt man sich beim 4. ESF auf wenige Großveranstaltungen, um den Diskussionen unter den Teilnehmern Vorrang vor der Präsentation von medienwirksamen »Stars« zu geben.

Im etwa 15 Kilometer entfernt gelegenen Zentrum der griechischen Hauptstadt künden bereits seit mehreren Wochen überall bunte Plakate vom europaweit größten Ereignis der Linken. Im Herzen Athens soll am Samstag nachmittag die obligatorische Forumsdemonstration gegen »Neoliberalismus, Krieg und Rassismus« stattfinden. Und hier wird das 4. ESF auch seinen offiziellen Auftakt haben. Mit einem den »Migranten und Ausgegrenzten dieser Welt« gewidmeten Freiluftkonzert sollen Gäste und Bewohner Athens heute abend auf den Rhythmus des gesellschaftlichen und politischen Ereignisses eingestimmt werden.

Dissonanzen: Kritik von der KKE

Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) wird am Europäischen Sozialforum nicht teilnehmen. Die größte Partei der griechischen Linken, die bei den letzten Parlaments­wahlen 5,9 Prozent und bei den letzten Europawahlen sogar 9,8 Prozent der Stimmen bekommen hatte, hat eine sehr kritische Haltung zum ESF und deren Organisatoren. In der Parteizeitung Rizospastis ist immer wieder zu lesen, daß beim ESF Kräfte dominieren, die die »Systemintegration« des Widerstandes betreiben. So seien beim vierten ESF die Parteien der Europäischen Linkspartei – einschließlich der Linkspartei.PDS – ­aktiv. Diese führten die Menschen mit der Forderung nach einem »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz« in die Irre. Die KKE sei für eine Auflösung der »vom Kapitalinteresse geschaffenen und beherrschten EU«, während die ESF-Organisatoren mehrheitlich für ein »anderes Europa im Rahmen der EU« seien.

Die KKE kritisiert am Forum wie an der Europäischen Linkspartei auch, daß es keine klare Aussage zum Sozialismus gibt. Das Forum sehe in »Bewegungen« das Potiential für Veränderungen gegen den Neoliberalismus. Für die KKE dagegen gelte nach wie vor die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt.

Besondere »rote Tücher« auf dem 4. ESF sind für die KKE die Beteiligung der beiden Gewerkschaftsdachverbände GSEE und ADEDY sowie verschiedener großer Branchengewerkschaften, die allesamt von der PASOK, der griechischen Sozialdemokratie, dominiert sind. Bleibende Politik der KKE sei es, die von ihr als systemintegrierend und opportunistisch erkannten Formationen als solche zu kritisieren. Die Möglichkeit einer Veränderung solcher Strukturen durch ein Einbringen der eigenen Positionen wird als unrealistisch verworfen.

** Aus: junge Welt, 4. Mai 2006


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