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Euro infiziert BRIC

Die Finanzkrise auf dem alten Kontinent ist ansteckend. Inzwischen befällt sie auch einstmals als konjunkturelle Hoffnungsträger gehandelte Schwellenländer

Von Tomasz Konicz *

Europa zieht den Rest der Welt nach unten. Die Dauerkrise des alten Kontinents offenbart zugleich die immer noch bestehende Abhängigkeit vieler aufstrebender Schwellenländer von den Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft.

Rußland kämpft bereits mit einem rasch anschwellenden Haushaltsdefizit. Dessen Finanzminister Anton Siluanow sagte Ende Juni vor Pressevertretern: »Ein Haushaltsdefizit in Höhe von 0,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) war geplant, es wird jedoch etwa 1,5 Prozent erreichen.« Wenige Tage später mußte Präsident Wladimir Putin eine Reihe von Maßnahmen ankündigen, um den Etat vor starken »Fluktuationen der Energiekrise« zu isolieren. Mit einem speziellen Fonds will der Kreml im kommenden Haushaltsjahr Finanzmittel in Reserve halten, die »bei negativen ökonomischen Trends« mobilisiert würden.

Die Russische Föderation, deren Haushalt zu fast 50 Prozent aus Einnahmen des Energiesektors gespeist wird, hat seinen Etat auf Grundlage eines durchschnittlichen Ölpreises von 117 US-Dollar je Barrel kalkuliert. Die im Gefolge der Euro-Krise sinkende Nachfrage verbilligte das Faß (159 Liter) Rohöl auf derzeit rund 90 US-Dollar.

In Regierungskreisen liefen laut dem Finanznachrichtendienst Bloomberg bereits geheime Planungen für einen »Nothaushalt«, der auf Grundlage eines Ölpreises von nur 60 Dollar kalkuliert sei. In diesem Fall würde Rußlands Wirtschaftswachstum rund zwei Prozent geringer ausfallen als erhofft. Dabei ist die Abhängigkeit des Landes von der Euro-Zone trotz Krise rasch gewachsen. Laut dem US-Wirtschaftsblatt Forbes stieg der Anteil der Ausfuhren in die Euro-Länder am Gesamtexport im ersten Quartal auf 49,9 Prozent. Im Vorjahreszeitraum waren es 48,2 Prozent. Diese »erschreckende« Entwicklung dürfte den Kreml »nervös« machen, so Forbes.

Der Analyst Sergej Karychalin beschrieb jüngst gegenüber der Zeitung Nowyje Iswestija, weshalb neben Rußland auch die anderen großen Schwellenländer von dem einsetzenden globalen Abschwung besonders früh getroffen würden. Der Rubel und auch brasilianische Real seien »Rohstoffwährungen«, die schnell abwerteten, da fallende Preise eine massive Kapitalflucht aus diesen Währungsräumen in »sichere Häfen« wie die USA auslösen würden. Von massivem Währungsverfall und Kapitalfluch sind inzwischen – mit Ausnahme Chinas, das strenge Währungskontrollen aufrechterhält – die übrigen drei BRIC (Brasilien, Rußland, Indien, China) genannten führenden Schwellenländer betroffen (Die inzwischen verbreitete Bezeichnung BRICS schließt die Republik Südafrika in das informelle Bündnis großer Schwellenländer ein. Deren wirtschaftliche Bedeutung ist deutlich kleiner als die der BRIC. Red.). Noch vor Kurzem schien »die Zukunft der globalen Wirtschaft von der dynamischen Entwicklung der BRIC-Länder« abzuhängen, resümierte kürzlich die russische Nachrichtenagentur RIA-Nowosti. Doch mit dem Einsetzen einer »zweiten Krisenwelle hat sich die Situation grundlegend verändert«.

Besonders betroffen ist die brasilianische Wirtschaft. Man habe die Auswirkungen der Euro-Krise auf Brasilien »unterschätzt«, erklärte der Ökonom Carlos Langoni Ende Juni dem Wall Street Journal. Die zunehmende »internationale Unsicherheit« habe zu einem Rückgang der Investitionstätigkeit geführt, die im ersten Quartal dieses Jahres um zwei Prozentpunkte auf 16 Prozent des BIP absank. Das Wirtschaftswachstum Brasiliens erreichte im selben Zeitraum 0,2 Prozent, wobei die Prognosen für das Jahr 2012 inzwischen von 3,5 auf 2,18 Prozent korrigiert wurden. Eine Reihe von Konjunkturmaßnahmen der Regierung – wie Steuererleichterungen und Investitionsprogramme – könne laut Langoni einen begrenzten positiven Effekt haben, doch hätten sich die globalen Rahmenbedingungen gegenüber der Krisensituation 2009 verschlechtert. Damals konnten »China und Indien mit ihrem starken Wachstum ein Gegengewicht zur Krise in den entwickelten Ökonomien« bilden. »Nun spüren wir die Effekte der Abkühlung in China.«

Tatsächlich setzt sich letztere Entwicklung in China (siehe jW vom 30. Mai) wie auch in Südostasien fort. Der chinesische Einkaufsmanagerindex sank auch im Juni, wie in den sechs Monaten davor. Er lag zuletzt bei 50,2 Punkten – Werte unter 50 deuten auf eine Kontraktion der Industrieproduktion hin.

In Südkorea hat das dortige Ministerium der Wissensökonomie die Prognosen des Exportwachstums von 6,7 auf 3,5 Prozent revidiert. Auch diese Zahlen unterstreichen die Risiken, die »den asiatischen Ökonomien aus der europäischen Schuldenkrise« erwachsen, so Bloomberg. Dabei leidet die exportfixierte »Werkstatt der Welt« nicht unter sinkenden Rohstoffpreisen, wie Brasilien und Rußland, sondern unter der rasch sinkenden Nachfrage nach Waren in Europa.

Auch in Indien mehren sich die Zeichen einer Ansteckung. So wuchs die dortige Wirtschaft im ersten Quartal nur noch um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Das war der niedrigste Wert seit nahezu neun Jahren. Auf den G-20-Gipfeltreffen forderte Ministerpräsident Manmohan Singh die Europäer auf, Konjunkturprogramme aufzulegen, um so die negativen Auswirkungen der Krise auf Indien zu minimieren, die sich nicht nur auf den Konjunkturverlauf begrenzen. Zudem läßt die verebbende Investitionstätigkeit in Indien die dortige Währung auf Talfahrt gehen. Gegenüber dem US-Dollar gab die Rupie seit Jahresanfang rund sieben Prozent nach – der größte Wertverlust unter allen asiatischen Währungen. Aufgrund der im Vergleich zu anderen BRIC-Staaten relativ hohen Staatsverschuldung von 68 Prozent des BIP droht Neu Dehli zudem eine Herabstufung seiner Bonität auf »Ramsch«-Niveau, die von der Ratingagentur Standard & Poor’s Mitte Juni angekündigt wurde.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 3. Juli 2012


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