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Seattle, Genua ... und jetzt Florenz

Eine Bilanz des ersten Europäischen Sozialforums in Florenz

Von Peter Wahl*

Die Dynamik der globalisierungskritischen Bewegung ist ungebrochen. Das erste Europäische Sozialforum (ESF) vom 6. bis 9. November in Florenz hat dies überaus eindrucksvoll bestätigt. Mit der Demonstration von mehr als einer halben Million Menschen - die größte in der Geschichte der Globalisierungskritik - wird Florenz zukünftig in einem Zuge mit Seattle und Genua genannt werden müssen. Etwa zwei Drittel der Teilnehmer gehören jüngeren Jahrgängen an.

Beim Forum selbst, ein dreitägiger Veranstaltungsmarathon mit ca. 200 Podien, Seminaren und Workshops, war mit 20.000 Teilnehmern gerechnet worden. Am zweiten Tag waren es bereits doppelt soviel und am Schluss sogar 60.000. Allerdings gingen die damit verbundenen organisatorischen Probleme zu Lasten der Qualität mancher Veranstaltungen.

Es ist aber nicht der quantitative Aspekt allein, der das ESF zu einem herausragenden Ereignis macht. Die besondere Qualität von Florenz liegt darin, dass
  • die Bewegung aus dem Schatten der Gewalt getreten ist,
  • der Brückenschlag zum Thema Krieg und Frieden gelungen ist,
  • die politische Pluralität und Breite weiter zugenommen hat. Gleichzeitig hat das ESF einige Probleme und Defizite der globalisierungskritischen Bewegung sichtbar gemacht.
Aus dem Schatten der Gewalt getreten

Die neue Bewegung ist aus dem Schatten der Gewalt, der seit Genua über ihr lag, herausgetreten. Florenz zeigt einmal mehr, dass dann, wenn tatsächlich große Menschenmengen mobilisiert werden, weder staatliche Provokationen noch die Orientierung auf Militanz durch kleine Gruppen eine Chance haben.

Die Berlusconiregierung hatte alles getan, um im Vorfeld des ESF ein Klima von Hysterie und Angst zu erzeugen. Ein zweites Genua wäre ihr gerade recht gekommen, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Berlusconi hatte die Zerstörung von Kunstwerken der Renaissancestadt durch talibanisierte Horden an die Wand gemalt und von Verbot des ESF gesprochen. Die in der Regierung vertretenen Neofaschisten der "Forza Italia" hatten wochenlang Stimmung im Stil des "Stürmer" gemacht, z.B. mit Karikaturen von Demonstranten mit Hakennase, in der einen Hand eine Flasche Wodka in der anderen Hammer und Sichel. Der "Corriere della Sera" brachte zum Auftakt des Forums einen von Hass triefender Beitrag der gewendeten Linken Oriana Fallaci. Unter diesem Eindruck vernagelten viele Geschäfte in der historischen Altstadt ihre Schaufenster.

Auf Seiten der Demonstration war ein wie auch immer gearteter "Schwarzer Block" nicht auszumachen. Andere Gruppen, die zu Militanz tendieren, wie die sog. "Disobediente" ("Ungehorsame", eine Mischung aus Punk und Anarchismus) und die Tute Bianche, die bei der IWF/Weltbanktagung in Prag an der Spitze der Auseinandersetzung mit der Polizei gestanden hatten, marschierten diszipliniert in der Demonstration mit.

Schließlich wird mit Florenz auch das Argument hinfällig, dass nur durch Gewaltszenen Medienöffentlichkeit herzustellen sei. Nach den Konfrontationen von Prag, Göteborg und vor allem Genua ist mit Florenz der Gegenseite die Möglichkeit genommen, die globalisierungskritische Bewegung mit dem Gewaltthema zu isolieren oder zumindest zu spalten.

Nein zum Krieg

Das beherrschende, wenn auch nicht das einzige Thema des ESF war der Krieg. Die Ablehnung der Militarisierung der Außenpolitik im Allgemeinen und eines Kriegs gegen den Irak im Besonderen war einhellig.
So wichtig und richtig diese Orientierung ist, so birgt sie auch einige Risiken. So besteht z.B. die Gefahr, dass im Windschatten der Auseinandersetzung um den Krieg der neoliberale Kurs relativ ungestört fortgesetzt und das Potential der kritischen Kräfte davon völlig absorbiert wird. Es ist gerade einer der gesellschaftspolitischen Effekte der Militarisierung, durch den Aufbau von Feindbildern und äußeren Bedrohungsszenarien die Aufmerksamkeit von inneren Problemen abzulenken. Am deutlichsten wird dies in den USA, wo der patriotische Konformitätsdruck so groß ist, dass vom Geist von Seattle nicht mehr viel zu spüren ist.

Dabei hat sich die Akzeptanzkrise der neoliberalen Globalisierung, die wir in Seattle konstatierten, inzwischen zu einer veritablen Funktionskrise ausgewachsen. Der Crash an den Börsen, das unrühmliche Ende der "New Economy", die sog. Bilanzskandale großer Konzerne, die Passivität des IWF in der Argentinienkrise und die deflationäre Entwicklung in vielen Volkswirtschaften sind nur die Spitze des Eisberges. Es kommt daher darauf an, Globalisierungskritik und Friedensbewegung nicht gegeneinander zu setzen, sondern die Zusammenhänge zwischen beiden Themen deutlich zu machen.

Wachsende Pluralität und Breite

Das quantitative Wachstum der Bewegung geht einher mit einer wachsenden politischen Pluralität. Vertreten waren lokale Sozialforen, ATTAC, Gewerkschaften, Friedensbewegung, NGOs, diverse K-Gruppen, Greenpeace, die Jugendorganisation der Partei der Demokratischen Linken (ehem. PCI), Amnesty, Schwule und Lesben, katholische Nonnen, die italienischen Grünen, christliche Pfadfinder, die Rifundazione Comunista und last but not least der Bürgermeister von Florenz und der Präsident der Region Toskana (beide DS). Letztere hatten dem Forum politische und logistische Unterstützung gewährt.

Der Zulauf aus den verschiedenen politischen Lagern signalisiert, dass die Akzeptanz der herrschenden Politik immer mehr schwindet. Gleichzeitig wächst damit die Notwendigkeit, einen produktiven Umgang mit dem Pluralismus der Bewegung zu finden und zentrifugalen Tendenzen entgegenzusteuern. Es scheint sich eine politische Kultur der Dialogbereitschaft, des toleranten Umgangs mit Widersprüchen, und - sieht man von einigen trotzkistischen Splittergruppen ab - des bewussten Verzichts auf Avantgardismus und Dominanz herauszubilden.

Am deutlichsten wird dies bei der Rifundazione Comunista. Obwohl die Partei mit ihren ca. 100.000 Mitgliedern eine unübersehbare Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung von Forum und Demonstration spielte, hat sie weder intern im Vorbereitungskomitee noch öffentlich versucht, anderen ihre Positionen aufzudrängen. Offenbar hat man begriffen, dass Selbstbeschränkung und die Absage an parteipolitische Instrumentalisierung sozialer Bewegung eine Bedingung für deren Erfolg ist. Dass es die Rifundazione mit linkem Pluralismus durchaus ernst zu nehmen scheint, zeigt auch ihr Verzicht auf eine der heiligen Kühe des Leninismus, das Fraktionsverbot in den eigenen Reihen. Von daher geht der immer mal wieder geäußerte Verdacht, das ESF sei ein von der Rifundazione gelenktes Projekt, ins Leere.

Gegen Privatisierung und GATS

Das zweite Thema, das sich in Florenz als Schwerpunkt herauskristallisierte, ist die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, von Bildung, über Gesundheit und Renten bis zu Wasser Energie und Verkehr. Das Problem wird in der gesamten EU immer brisanter. Eng verbunden damit sind die Verhandlungen zur Liberalisierung der Dienstleistungen in der WTO (GATS). Beschlossen wurde eine europäische Kampagne, die zunächst auf Aktionen Ende März 2003 orientiert mit einer zentralen Initiative in Brüssel. Bis dahin wird in der WTO nämlich die Verhandlungsphase abgeschlossen, in der die einzelnen Länder ihre Liberalisierungsangebote und -forderungen vorlegen. Danach wird die Ministerkonferenz der WTO im mexikanischen Cancůn Anfang September 2003 zum nächsten Höhepunkt der Kampagne.

Deutsche Präsenz mit niedrigem Profil

Aus der Bundesrepublik waren 500 bis 700 Teilnehmer angereist. Die meisten auf ATTAC-Ticket. Fahnen von VER.DI waren zu sehen, auch die IG-Metall war vertreten, NGOs, die parteinahen Stiftungen von SPD, Grünen und PDS ebenso wie die Anthroposophen und der BUKO.

Auf einem Forum über das Verhältnis von Parteien zu sozialen Bewegungen trat auch Christian Ströbele auf. Er übte Kritik an seiner Partei und plädierte für ein Zusammenwirken von Grünen und sozialer Bewegung. Frank Bsirske, VER.DI-Vorsitzender, hatte wegen dringender Angelegenheiten bei der Gesundheitsreform kurzfristig abgesagt, aber Interesse bekundet, weiter am Prozess beteiligt zu sein.

Insgesamt war das Profil und die Sichtbarkeit der Deutschen sehr niedrig. Offenbar war wenig in die Vorbereitung investiert worden. Hier besteht Nachholbedarf. Dabei geht es nicht um nationale Selbstdarstellung. Vielmehr haben die deutschen Globalisierungskritiker die Verantwortung, die soziale Bewegung des größten Landes in der EU angemessen in die internationale Bewegung zu integrieren.

Probleme

So positiv die Entwicklung insgesamt ist, so gibt es jedoch auch unverkennbar einige Probleme und Defizite:
  • So gingen auch von Florenz kaum Impulse zur Entwicklung inhaltlich-konzeptioneller Alternativen zum Neoliberalismus aus. Noch immer koexistieren Ein-Punkt-Ansätze für bescheidene Reformen unverbunden mit sehr allgemeinen gehaltenen Wertorientierungen. Eine Diskussion zwischen den Standpunkten findet noch nicht wirklich statt. Typisches Beispiel ist die Erlassjahrkampagne, die Schuldenerleichterungen für die armen Ländern will, während andere für eine vollständige und bedingungslose Schuldenstreichung eintreten. Eine Lösung für die Argentinienkrise aber ist beides nicht. Protest und Ablehnung als gemeinsamer Nenner sind zwar die Ausgangsbasis für Veränderung, auf Dauer aber wird das nicht reichen. Insofern ist das eigentliche Ziel des ESF, unabhängig von Regierungsgipfeln einmal in Ruhe untereinander zu diskutieren und den Selbstorganisationsprozess international voranzubringen nur sehr unvollständig erreicht.
  • Dass die neue Bewegung mehrheitlich aus jungen Leuten besteht, ist eine ihrer großen Stärken. Dies verleiht ihr inzwischen einen regelrechten Touch von Jugendkultur und über weite Strecken nahm das Forum in der Tat Happeningcharakter an. Allerdings darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass angesichts der demographischen Verhältnisse in den Industrieländern Jugend eine strukturelle Minderheit ist. Die Bewegung darf sich nicht auf eine reine Jugendbewegung beschränken. Die Verbindung zur demographischen Mitte der Gesellschaft ist unerlässlich, wenn sie Aussichten auf Erfolg haben will.
  • Ein Moment des jugendgeprägten Charakters der Bewegung ist eine gewisse Tendenz zur Verbalradikalität, wie sie ja auch in der Geschichte sozialer Bewegungen notorisch ist. Zwar erfordert der Problemstand heute tatsächlich eine Überprüfung überkommener Konzepte. Ob einseitige Dialog- und Lobby-Strategien, wie sie einige NGOs praktiziert haben, noch Sinn machen, kann gerade nach der Pleite des Rio-Prozesses zurecht in Frage gestellt werden. Auch könnte die Krise des Neoliberalismus Alternativen, die näher an die Wurzeln der Probleme gehen, nachgerade zum Imperativ machen. Ebenso notwendig ist es, die Behauptung Bertinottis "Wer vom Neoliberalismus spricht, kann vom Kapitalismus nicht schweigen" einmal gründlich zu diskutieren, und zwar nicht in der im schlechten Sinne abstrakten und historisch toten Entgegensetzung von "Reform und Revolution". Gefragt sind innovative Antworten einer Gesellschaftskritik, die auf der Höhe der Zeit ist und sich nicht in die Kostümierung unwiederbringlich vergangener Kämpfe wirft. Mit platten Parolen vom Schlage "One Solution - Revolution" kommt man nicht weiter. Im Gegenteil, das führt geradewegs ins Sektierertum. Hier lohnt sich noch einmal ein Blick auf die K-Gruppen-Erfahrung der 68-Bewegung.
  • Schließlich ist davor zu warnen, aus der verständlichen Euphorie von Florenz die italienischen Erfahrungen auf den Rest der Welt zu übertragen. Der Erfolg von Florenz geht zum größten Teil auf das Konto der innenpolitische Konstellation in Italien. Dazu gehört u.a. dass
    • die italienische Linke im Vergleich zum übrigen Europa ohnehin generell recht stark ist,
    • die Konflikte mit Berlusconi seit einiger Zeit wachsen und bereits zu einem Generalstreik geführt hatten,
    • die US-freundliche Haltung Berlusconis auf breiten Widerstand weit über die Linke hinaus stößt,
    • Berlusconi einen Tag vor dem Forum sein Gesetz zur freien Richterwahl durchs Parlament peitschte, was bis ins konservative Milieu hinein auf Ablehnung stieß,
    • die psychologische Kriegführung mit dem Gespenst eines zweiten Genua zu Gegenreaktionen führte.
All dies sind Faktoren, die nicht auf andere Länder übertragbar sind. Deshalb dürfte es mindestens verfrüht sein, in der Bundesrepublik ein deutsches Sozialforum aus dem Boden stampfen zu wollen. Die politischen Voraussetzungen dafür sind (noch?) nicht vorhanden.

* Peter Wahl ist Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung - WEED und Mitglied des Koordinierungskreises von ATTAC Deutschland.


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