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Welt im Wandel

Zunehmende Divergenzen machen das Konstrukt G 20 wirkungslos. USA können ökonomische Schwäche nicht mehr durch politische Macht kompensieren

Von Rainer Rupp *

Sogenannte Sparpolitik oder weitere zusätzliche Konjunkturmaßnahmen auf Pump? In der Auseinandersetzung zwischen EU und USA über den richtigen Weg aus der Krise legen sich die Kontrahenten mit Blick auf das G-20-Treffen im kanadischen Toronto am Wochenende immer härtere Bandagen an. So wies der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, in einem Interview am Dienstag die Kritik von US-Präsident Barack Obama an der europäischen »Sparpolitik« zurück – und das gänzlich ohne diplomatische Floskeln. Der Chef des Weißen Hauses hatte sich eigens mit einem Brief an seine Amtskollegen in der Gruppe der 20 gewandt und vor »Sparprogrammen« gewarnt. Zugleich zeigte sich Barroso besorgt, weil der im Mai auf unbestimmte Zeit vertagte EU-USA-Gipfel immer noch nicht stattgefunden habe. Inzwischen gebe es mehr Treffen der Europäischen Union mit Rußland als mit den USA, beklagte sich der Portugiese.

Was Barroso nicht daran hinderte, sich den US-Verteidigungsminister Robert Gates vozuknöpfen. Der hatte den Europäern vorgeworfen, durch ihre Ablehnung einer schnellen Aufnahme der Türkei in die EU Ankara in die Arme seiner weniger US-freundlichen islamischen Nachbarn getrieben zu haben. Das stimme mit den Fakten nicht überein, sagte Barroso, denn die Distanz, die die Türkei nun gegenüber ihren NATO-Partnern zeige, habe »mit der Invasion des Irak begonnen und mit dem Druck, den die vorhergehende US-Administration (von George W. Bush, jW) auf die Türkei ausgeübt hat«.

In der Tat bestätigen Nachrichten wie diese tagtäglich, in welchem Ausmaß die weltweite Systemkrise nun geopolitische Verwerfungen nach sich zieht. Selbst die Mainstreammedien, die bisher konzertiert den offiziell vorgegebenen Optimismus über das Ende der Krise verbreitet haben, machen sich inzwischen – wenn auch zaghaft – daran, die historischen Umwälzungen auch als solche zu interpretieren. Für die zweite Hälfte des Jahres 2010 erwarten sie noch stärkere strategische, finanzielle, wirtschaftliche und soziale Erschütterungen im internationalen Wirtschaftssystem.

Aktuell machen zwei Beispiele den sich beschleunigenden Niedergang des etablierten globalen Wirtschafts- und Machtgefüges deutlich: Das erste betrifft die sogenannte »Global economic governance«, jene vielgerühmte Organistaion zur Schaffung einer weltweiten Ordnungspolitik im Rahmen der G 20, die gescheitert ist. Zweites deutliches Signal des Wandels ist die schwindende Fähigkeit der Vereinigten Staaten, ihre eigenen Verbündeten zu kontrollieren.

Es ist gerade ein Jahr her, daß die G-20-Länder danach strebten, eine Art Weltwirtschaftsregierung zu etablieren. Allerdings versuchten die USA in ihrer Hybris, diese neue Gruppe um ihre eigenen Prioritäten herum zu organisieren. Von Anfang an war jedoch klar, daß die G20, zu denen neben den USA, Kanada und Japan, sowie den wirtschaftlichen Schwergewichten Europas zahlreiche aufstrebende Schwellenländer gehören, keine alternative Lösung für das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs hervorgegangene und nun zusammenbrechende US-dominierte globale Wirtschaftssystem hervorbringen konnte. Vor allem nicht, solange kein Entwurf für eine neue globale Reservewährung auf dem Tisch lag. Nur das hätte sichergestellt, daß alle G-20-Akteure ein ernsthaftes Interesse an einer mittel- und langfristigen Zusammenarbeit gehabt hätten. Aber Washington wollte davon nichts hören. Die Europäer waren aus Angst, die USA zu verärgern, unfähig, ein solches neues Währungssystem vorzuschlagen. Doch damit wären sie dem Wunsch der Chinesen, Russen, Inder und Brasilianer entgegengekommen, die nicht länger nach den von den USA aufgezwungenen Regeln spielen wollen.

Ein Jahr nachdem sich die G 20 (statt bisher die G 7 bzw. G 8) aufgemacht hatten, die Welt neu zu ordnen, kann also nur deren Versagen festgestellt werden. Trotz fleißiger Beschwörung der Kooperation gilt in der Staatengruppe heute die Regel »Jeder für sich selbst«. Und Washington erweist sich zum eigenen Erstaunen als unfähig, seine Vorschläge in dem Weltgremium durchzusetzen. In Toronto dürfte die zunehmende Interessendivergenz der G-20-Mitglieder noch deutlicher hervortreten. Denn am Mittwoch hat die US-Notenbank (Fed) ihren bisherigen (Zweck-)Konjunkturoptimismus gedämpft und die Wachstumsprognosen nach unten korrigieren müssen. Zugleich hat die Notenbank die zunehmenden Gefahren unterstrichen, die die von Deutschland in der EU durchgesetzte Sparpolitik für die wirtschaftliche Erholung der USA hat. Das läßt für Toronto einen erneuten Zusammenprall von Washington und Berlin erwarten. Barroso befürchtete sogar, daß dem Konstrukt G 20 – das ja nichts anderes als ein selbstmandatiertes Möchtegern-Machtgebilde ist – am Wochenende in Toronto ganz die Luft ausgeht.

Obwohl Fed-Chef Ben Bernanke für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von angeblich drei Prozent erwartet (US-Zahlen dieser Art sind meist nicht nachvollziehbar), will er noch »längere Zeit« die heimische Wirtschaft mit billigem Geld zu Zinssätzen zwischen null und 0,25 Prozent unterstützen. Dies läßt erahnen, wie angeschlagen das US-Bankensystem weiterhin ist und wie schlimm es hinter den Kulissen der vorgegaukelten wirtschaftlichen Erholung tatsächlich aussieht. Die Arbeitslosigkeit in den USA verharrt bei offiziell fast zehn Prozent. Und laut Bernanke wird es noch »geraume Zeit« dauern, bis die 8,5 Millionen US-Bürger, die durch die Krise ihren Job verloren haben, wieder in Lohn und Brot sind. Zugleich gibt es wieder Hiobsbotschaften vom Immobilienmarkt. Nach dem Auslaufen konjunkturbelebender Vergünstigungen ist die Zahl der verkauften neuen Eigenheime im Mai um rund ein Drittel eingebrochen.

* Aus: junge Welt, 25. Juni 2010


Warnung vor Ausgrenzung

Vor G-20-Treffen in Toronto: Kleine Staaten fürchten Marginalisierung

Von Thalif Deen (IPS), New York **


Im Vorfeld der G-20-Gipfelkonferenz am Wochenende in Toronto haben die 27 Mitgliedsländer der sogenannten Global Governance Group (3G) die politisch und wirtschaftlich einflußreichen G-20-Staaten vor einer Ausgrenzung der kleinen und mittelgroßen Länder gewarnt. »Anders als bei den Vereinten Nationen, wo wir alle ein Stimmrecht besitzen, ist der G-20-Prozeß geschlossen«, monierte Singapurs Botschafter Vanu Gopala Menon im Gespräch mit IPS. Er zeigte sich verwundert über einen jüngsten Vorschlag, den UN-Generalsekretär als Beobachter zu dem Gipfeltreffen in Toronto zuzulassen, zumal Gastgeber Kanada Ban Ki Moon bereits als Gesprächsteilnehmer eingeladen hat.

Die Verwirrung über den Status des UN-Chefs auf der bevorstehenden Konferenz unterstreiche die Notwendigkeit einer Klärung, so Menon. Er forderte, den UN-Chef und andere hochrangige UN-Vertreter künftig automatisch zu allen G-20-Konferenzen und Vorbereitungstreffen einzuladen.

In Toronto werden vom 26. bis 27. Juni die Staats- und Regierungschefs der einflußreichsten Länder der Welt erwartet. Die G20 besteht aus den G-8-Ländern Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Rußland und USA sowie aus den ebenfalls als Industriestaaten eingestuften Australien, Mexiko, Südkorea und Türkei. Zur G20 gehören ferner Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Saudi-Arabien und Südafrika als Entwicklungsländer und die aus 27 Mitgliedern bestehende EU.

Die im vergangenen Jahr im Schweizer Ferienort Davos gegründete 3G besteht aus den Bahamas, Bahrain, Barbados, Botswana, Brunei, Chile, Costa Rica, Guatemala, Jamaika, Katar, Kuwait, Liechtenstein, Malaysia, Monaco, Neuseeland, Panama, Peru, die Philippinen, Ruanda, San Marino, Schweiz, Senegal, Singapur, Slowenien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Uruguay und Vietnam.

Die G20, die nach Toronto erneut im November im südkoreanischen Seoul zusammenkommen wird, erwirtschafte 80 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes (BIP), sagte der singapurische Außenminister George Yeo, der bei der Bildung der 3G Pate gestanden haben soll. »Macht an sich gewährt Legitimität«, räumte er ein. »Doch gleichzeitig kann es nicht sein, daß die Interessen der kleinen Länder nur kurz abgehandelt werden.«

Angesichts der Komplexität und wechselseitigen Abhängigkeit der globalen Wirtschaft sei es wichtig, daß die G20 ihre Gespräche konsultativ, inklusiv und transparent gestalte, heißt es in einer Mitteilung der 3G vom 21. Juni. Nur so könnten Beschlüsse effektiv umgesetzt werden.

Die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise für die Wirtschaft, die Armutsbekämpfung und Millenniumsentwicklungsziele seien schwerwiegend. Die Entscheidungen der G20 hätten zudem Einfluß auf die Entwicklung der Nicht-G-20-Staaten. Dies gelte insbesondere für die armen und ärmsten Länder der Welt, heißt es in dem 3-G-Papier. Die G20 müsse die Sorgen und Hoffnungen der Nicht-G-20-Staaten und deren besonderen nationalen und regionalen Belange berücksichtigen und sicherstellen, daß sie mit ihren Entscheidungen nicht die Entwicklungserfolge dieser Länder zunichte mache.

** Aus: junge Welt, 25. Juni 2010


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