Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

G20-Staaten verschärfen Spardruck

Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer von massiven Protesten überschattet

Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer von massiven Protesten überschattet Während die G20-Staaten bis 2013 ihre Haushaltsdefizite verringern wollen, liegt die Finanzmarktregulierung weiter auf der langen Bank.

Der G20-Gipfel hat sich auf ein konkretes Ziel zur Verminderung der Staatsdefizite geeinigt. Bis 2013 müssen die Defizite der entwickelten Industrieländer halbiert werden, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag am Gipfelort im kanadischen Toronto. Laut Entwurf der Abschlusserklärung, die am Abend (Ortszeit) beschlossen werden sollte, wollen sich die 20 wichtigsten Industriestaaten und Schwellenländer zudem verpflichten, die staatliche Schuldenquote bis 2016 zu stabilisieren oder zu vermindern.

Dies wäre eine Niederlage insbesondere für US-Präsident Barack Obama. Er hatte zuvor auf ein Festhalten an den Konjunkturprogrammen gepocht, um die weltwirtschaftliche Erholung nicht wieder abzuwürgen. US-Finanzminister Timothy Geithner erklärte kurz vor dem Gipfelauftakt, exportorientierte Staaten wie Japan und europäische Länder hätten bislang nicht genug getan, um die Binnennachfrage zu stärken und dadurch Impulse für die Weltwirtschaft zu geben. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon warnte reiche Staaten davor, ihre Haushalte auf Kosten ärmerer Länder zu sanieren.

Schärfere globale Spielregeln für die Finanzwirtschaft werden wegen der Meinungsunterschiede innerhalb der G20 frühestens beim nächsten Gipfel im November in Südkorea beschlossen werden. Wie die Europäer will auch Obama eine Bankenabgabe durchsetzen. Kanada, Brasilien, Australien und andere G20-Mitglieder sind allerdings gegen diese Idee, da ihr Finanzsektor von der Krise kaum betroffen war. Zum Thema Finanztransaktionssteuer sagte Merkel, dieses Brett sei »weiter zu bohren«.

Am Sonnabend (26. Juni) zogen rund 10 000 Globalisierungsgegner, Umweltschützer, Gewerkschafter und Frauengruppen aus Protest gegen den G20- und den vorherigen G8-Gipfel durch die Innenstadt von Toronto. Im Anschluss an die Großdemonstration zündeten etwa 100 militante Demonstranten Polizeiwagen an und warfen Schaufenster mit Steinen ein. Erstmals in der Geschichte der kanadischen Wirtschaftsmetropole setzte die Polizei Tränengas gegen Demonstranten ein. Mehr als 400 Menschen wurden festgenommen. Die Polizei nutzte ihre Sondervollmachten, Demonstranten am drei Meter hohen Zaun um das Konferenzzentrum der Staats- und Regierungschefs in Toronto festzunehmen. Aktionsgruppen, die von den vorher nicht veröffentlichten Vollmachten überrascht wurden, übten scharfe Kritik. Ein altes Filmstudio wurde als vorübergehendes Gefängnis für Demonstranten umgebaut.

Am Freitag (25. Juni) hatten die G8-Staaten bei ihrem Gipfel in Huntsville eine neue Initiative gegen Mütter- und Kindersterblichkeit verabschiedet. Hilfsorganisationen kritisierten, dass sich die Industrieländer von den Millenniumszielen verabschieden.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Juni 2010


G 20 auf Schlingerkurs

Von Rainer Rupp **

Um die Popularität der Führer der Welt steht es nicht gut: 19000 Sicherheitskräfte mußten die Staats- und Regierungschefs der G-8- und G-20-Länder bei ihren Gipfeln am Wochenende in Kanada vor Massenprotesten schützen. Kosten: Umgerechnet 730 Millionen Euro. Zehntausende Globalisierungsgegner - Schätzungen gingen von 30000 Teilnehmern aus - demonstrierten am Samstag in Toronto gegen die Repräsentanten der G 8, die tags zuvor in dem abgeriegelten Feriengebiet Muskoka getagt und sich dabei als Weltregierung aufgespielt hatten.

In ihrem Abschlußkommuniqué erneuerten die G8 ihr Bekenntnis zu »freien und offenen Märkten« und der weiteren »Liberalisierung von Handel und Investitionen durch den Abbau nationaler Barrieren«. Da letztere zum Schutz schwacher Volkswirtschaften vor den übermächtigen transnationalen Unternehmen errichtet wurden, soll es demnach mit der neoliberalen Ausbeutung der »dritten Welt« ungehindert weitergehen. Dagegen richteten sich die friedlichen Proteste in Toronto, an deren Rand es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen autonomen Gruppen und Sicherheitskräften kam.

Mit der Arroganz von Großmächten rügten die G 8 eine Reihe von Ländern und drohten insbesondere Iran und Nordkorea mit weiteren Sanktionen. Allerdings enthielt das Abschlußpapier einige positive Elemente, sein Ton war moderat - verglichen mit Erklärungen Washingtons und dessen westlichen Verbündeten. Das war zweifellos der Teilnahme Rußlands zu verdanken. So wird z. B. entsprechend der russischen Position in dem Kommuniqué »Irans Recht auf ein ziviles Atomprogramm anerkannt« und lediglich der »fortdauernde Mangel an Transparenz« gerügt. Zugleich verpflichten sich die G-8-Mitglieder, also auch die USA, »alle anstehenden Differenzen (mit Iran) durch Verhandlungen zu lösen«. Die diplomatischen Bemühungen Brasiliens und der Türkei im Atomdisput mit Iran, über die sich Washington höchst unglücklich gezeigt hatte, werden ausdrücklich gelobt.

Angesichts der Tatsache, daß die USA das Papier unterzeichnet haben, wird Israel darin ungewöhnlich eng in die Pflicht genommen. Die Toten und Verwundeten nach dem israelischen Piratenakt gegen die internationale Gaza-Hilfsflotte werden bedauert, und Israel wird aufgefordert, »die Resolution 1860 des UN-Sicherheitsrats umzusetzen und die Lieferung humanitärer und kommerzieller Güter und den Zugang von Personen von und nach Gaza sicherzustellen«. Ohne Namensnennung, aber deutlich, wird Tel Aviv zugleich aufgefordert, seinen Atomsektor dem »Übereinkommen über umfassende Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergiebehörde, zusammen mit dem Zusatzprotokoll zu unterstellen«.

Auf dem G-20-Gipfel in Toronto konnten sich die Teilnehmerländer wie erwartet in den zentralen Fragen zur Überwindung der Wirtschaftskrise nicht einigen. Zwar verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag, der Gipfel habe beschlossen, daß die Industriestaaten bis 2013 ihre Haushaltsdefizite halbieren und spätestens 2016 ohne neue Schulden auskommen sollten, aber ob sich damit »der europäische Weg« (Merkel) durchgesetzt hat, ist sehr fraglich.

Keine Verständigung gab es über eine Bankenabgabe und eine Regulierung des Finanzsektors. Innerhalb eines Jahres hat sich die erhoffte Weltwirtschaftsregierung G 20 damit als Flop erwiesen.

** Aus: junge Welt, 28. Juni 2010


Stillstand

Von Kurt Stenger ***

»Widersetzt euch dem Krieg gegen die Armen, lasst die Reichen bezahlen« lautete eine Losung bei der Großdemonstration gegen den G8- und den G20-Gipfel in Kanada. Doch aller Protest half nichts: Die politisch Mächtigen dieser Welt verabschiedeten sich selbst von den eigenen Millenniumszielen zur Armutsreduzierung.

Die Randale am Rande der Demo ist dabei nicht geeignet, die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrieländer zum Umdenken zu bewegen. Vielmehr helfen brennende Autos und kaputte Fensterscheiben den G8-Führern, von der inhaltlichen Dürftigkeit ihrer Gipfeltreffen abzulenken. Wie von Globalisierungskritikern befürchtet, nehmen die Industriestaaten die selbst verschuldete Finanz- und Wirtschaftskrise nicht zum Anlass, die auf Reichtumsakkumulierung vor allem im Norden ausgerichtete Weltfinanzordnung grundlegend zu reformieren. Im Gegenteil: Die gigantischen nationalen Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme sowie der allmählich folgende rigide Einsparkurs gehen entgegen allen Beteuerungen eben doch zu Lasten der schwächsten Entwicklungsländer. Maßnahmen gegen Armut wie auch gegen den Klimawandel bleiben zunehmend auf der Strecke.

Es ist geradezu absurd: Die Regierungen beteuern, dass sie den Kampf gegen die globalen Probleme insbesondere auf internationaler Ebene voranbringen wollen. Gleichzeitig belegen die letzten G8-, G20- und UN-Gipfel vor allem eines: Stillstand.

*** Aus: Neues Deutschland, 28. Juni 2010 (Kommentar)


Zur Seite "Globalisierung"

Zurück zur Homepage