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Karneval und Kloppe

Kapitalismuskritiker sorgten in London für Auftakt der Proteste gegen den G8-Gipfel

Von Ian King, London *

Wenige Tage vor dem G8-Gipfel in Nordirland gab es in London Zusammenstöße zwischen Polizei und Kapitalismuskritikern. Fast 60 Demonstranten wurden laut Polizeiangaben festgenommen. Rund 1200 Sicherheitskräfte waren im Einsatz.

1200 Polizisten jagten eine weit kleinere Anzahl von Demonstranten in einem stundenlangen Katz- und Mausspiel in den Londoner Straßen; die angekündigten Protestdemonstrationen gegen das G8-Treffen Anfang nächster Woche im nordirischen Lough Erne haben begonnen. Die Aktionen werden von der Gruppe »StopG8« unter dem Motto »Carnival against Capitalism« organisiert. Polizisten warfen Besetzer nach einer dreistündigen Belagerung aus einer ehemaligen Polizeiwache in der Touristenhochburg Soho, schlugen einen von ihnen auf dem Dach des Gebäudes zusammen, verfolgten andere Demonstranten vom Piccadilly Circus bis in die feinen Straßen von Mayfair – wo übrigens die Nobelboutiquen und das Ritz-Hotel unbehelligt blieben.

Die Londoner Polizei spricht von 57 Verhaftungen, zwei Demonstranten mussten im Krankenhaus behandelt werden. Aber Piccadilly Circus ist längst nicht der Taksim-Platz in Istanbul.

Was war die Botschaft der Protestler? Pazifisten empörten sich über die Kriegsbegeisterung der westlichen Regierenden, die jetzt die Rebellen in Syrien bewaffnen wollen. Umweltschützer verlangten, den Treibhauseffekt endlich ernst zu nehmen. Linke protestierten gegen Banken, Hedgefonds und Ölfirmen, forderten die Regierung auf, Großunternehmen wie Google, Starbucks und Amazon dazu zu zwingen, ihren gerechten Anteil an der Körperschaftssteuer zu zahlen.

Kritiker der Korruption wiesen auf zwei konservative Abgeordnete hin, Patrick Mercer und Tim Yeo, die von Journalisten enttarnt worden waren, sich und ihre Arbeitskraft an Lobbyisten teuer verkaufen zu wollen. Kurz: Grüne und Linke aller Schattierungen, die die wohlmeinenden Parolen der Labour-Opposition als halbherzig abtun und lieber ihren eigenen antikapitalistischen Karneval auf den Straßen der britischen Hauptstadt feierten. Am schönsten – aber auch am simpelsten – die Schilder: Keine Gefängnisse, keine Grenzen, keine Banken. Keine Gefängnisstrafen für friedliche Demonstranten: gewiss. Auch Helmut Kohl hat in jungen Jahren bei Straßburg gegen die Trennung Europas protestiert. Nach der Bankenkrise haben die selbst ernannten Herren des Universums viel von ihrem Nimbus eingebüßt, wenn auch noch wenig von ihren Boni. Natürlich schafft man mit Slogans allein keine bessere Welt.

Aber die Großkopfeten der G8, die sich demnächst zur beschaulichen nordirischen Grafschaft Fermanagh begeben, erhalten die klare Botschaft: Es gibt noch Idealisten, die unbequeme Fragen stellen und nicht ewig auf Antworten warten wollen. Die Demonstrationen sollen weitergehen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. Juni 2013


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