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Das Menetekel von Genua - Eine Nachlese

Und eine Stellungnahme von Prof. Dr. Bodo Zeuner (FU Berlin)

Dem Pax Report, der Zeitung des Deutschen Friedensrats e.V., entnehmen wir zwei Nachträge zum G8-Gipfel, der Ende Juli 2001 in Genua unter skandalösen Begleitumständen stattfand. Zunächst ein Artikel von Norbert Alt und weiter unten eine Stellungnahme von Bodo Zeuner, dessen Tochter in Genua in die Fänge der Polizei geraten war.

Das Menetekel von Genua

Der G8-Gipfel von Genua, so erklärte ein Staatssekretär namens der Berliner Regierung, sei "ein Erfolg" gewesen. Die Frage ist nur: ein Erfolg für wen?

Aus der Berichterstattung der Massenmedien war da kaum ein Urteil zu gewinnen. Nicht nur die Sensationspresse schwelgte in den Bilder der Gewalt auf den Straßen der italienischen Hafenstadt. Von der zerstörerischen Gewalt eines ungebremsten Turbo-Kapitalismus, gegen dessen verheerenden soziale Folgen rund um den Globus Zehntausende in Genua friedlich demonstrieren wollten, war nicht die Rede. Und auch im nachhinein wurden nur die Knüppel-Orgien der Polizei thematisiert. Von tieferer Analyse kaum eine Spur.

Kein Zweifel, dass sich unter die Anhänger des "Sozial-Forums" und anderer demokratischer Initiativen auch eine Handvoll gewaltbereiter "Randale-Touristen" gemischt hatten. Doch offenkundig wurde vor allem, dass die italienischen Sicherheitskräfte durch ihr brutales Vorgehen Ausbrüche von Wut und Gewalt bewusst herbeigeprügelt haben, bis hin zu dem begründeten Verdacht, dass sie rechte Schlägerkolonnen anheuerten und als Provokateure zum Einsatz brachten.

Diese Taktik hatte ihre Logik: Sie lieferte nicht nur den Vorwand für die Eskalation des Polizei-Terrors, sie sollte auch - im Zusammenwirken mit den Medien - die sogenannten "Globalisierungs-Gegner" kriminalisieren und deren dringliche Forderungen an den G8-Gipfel hinter dem Getöse von Bürgerkriegs-Szenarien ungehört verhallen lassen.

Verlauf und Ergebnisse des G8-Gipfels, soweit sie überhaupt an die Öffentlichkeit drangen, zeigen, wie berechtigt diese Forderungen sind und wie zynisch sich die Regierenden ein weiteres mal über sie hinwegsetzten: Bush konnte bei seinem Nein zum Kyoto-Protokoll bleiben, was Japan und Kanada dazu ermunterte, die Substanz des Abkommens bis zur Unkenntlichkeit auszuhöhlen. Das "Raketenabwehr" genannte US-Programm zur weltraumgestützten militärischen Beherrschung der Welt wurde von den übrigen Staats- und Regierungschefs ebenso geschluckt wie die Weigerung der USA, der Bio-Waffen-Konvention und dem sogenannten Kleinwaffen-Abkommen beizutreten. Die längst überfällige Entschuldung der ärmsten Länder hingegen wurde ein weiteres mal vertagt.

Abrüstung? Schritte gegen die drohende Klima-Katastrophe? Kampf dem Hunger in der Welt? Die Interessen von Erdöl- und Rüstungs-Konzernen haben offenbar Vorrang, und die Multis besitzen offenbar auch die Mittel, ihren Willen selbst gegen Bedenken gewählter Regierungen durchzusetzen.

So bleibt Genua ein Menetekel. Es hinterlässt die Vision einer möglichen Weltordnung, in der die Regierenden der wirtschaftlich stärkeren Staaten, mehr oder minder willfährig, als Exekutive transnationaler Monopole agieren gegen demokratischen Widerstand abgeschottet durch Stacheldraht-Zäune und Polizei-Kordons.

Doch Genua setzte auch Zeichen der Hoffnung, dass aus solcher Möglichkeit nicht Wirklichkeit werden muss. Abgesandte ungezählter Organisationen aus vielen Ländern der Welt kamen zum "Gegengipfel" in die Stadt. So unterschiedlich und teilweise diffus deren Programme auch sein mögen - es eint sie der Wille, das Schicksal der Welt nicht dem Diktat der Finanzmärkte zu überlassen. Stützen können sie sich dabei auf die überall um sich greifende Erkenntnis, dass die Ausplünderung der armen Länder und die soziale Polarisierung in den hochentwickelten Staaten nur zwei Seiten einer Medaille sind. Es gab eine einprägsame Losung in Genua: "Ihr: G8. Wir: 6 Milliarden."

Norbert Alt

"Zum Staatsterrorismus beim Genueser Weltwirtschaftsgipfel"

Stellungnahme von Prof. Bodo Zeuner (FU) vom 25. 7. 2001

Ich bin der Vater von Katharina Zeuner, die am Morgen des 22. Juli 01 in der Schule Armando Diaz Opfer eines geplanten und brutalen Polizeiüberfalls auf friedliche und schlafende ProtestiererInnen gegen den Genueser Weltwirtschaftsgipfel wurde. Ich habe bis heute, Mittwoch, keinen Kontakt zu ihr bekommen, und ich hoffe, dass sie - entsprechend den Prognosen des Mailänder Konsulats der BRD - bald freigelassen wird. Zugleich bin ich Professor für Politikwissenschaft und ein politisch engagierter Mensch. Ich habe gestern bei der Pressekonferenz des Berliner Ermittlungsausschusses in beiden Rollen Stellung genommen, und bin gebeten worden, meine mündliche und spontane politische Stellungnahme nachträglich aufzuzeichnen. Das tue ich gerne:

Ich lese - zufällig - in diesen Tagen Sebastian Haffners Frühwerk "Geschichte eines Deutschen". Darin wird besonders eindringlich beschrieben, wie sich im März 1933 bei fast unverändertem Alltag die Koordinaten des Privatlebens durch die Umwandlung des preußisch-deutschen Staats in eine antihumane Terrororganisation verändert haben. Es wird auch der mangelnde Widerstand der deutschen Bevölkerungsmehrheit und ihrer Führungsgruppen aus Parteien und Gewerkschaften gegen diese Umwandlung beschrieben. Ohne die gegenwärtige Situation mit 1933 gleichsetzen zu wollen, was selbstverständlich unhistorischer Unfug wäre, scheint mir eine Gemeinsamkeit festhaltenswert:
Es kommt darauf an, der Umwandlung des dem Recht und der Demokratie verpflichteten Staatsapparats in einen Terrorapparat der Herrschenden entgegenzutreten. Wenn Polizisten, wenn Spezialeinheiten der Polizei es sich herausnehmen, politisch unliebsame Personen, wie in Genua geschehen, mitten in der Nacht zu überfallen und brutal, ja lebensgefährlich zu verprügeln, dann ist es zu Folterkellern wie denen der SA im Deutschland von 1933 nur noch ein Schritt. Wer den Überfall auf die Diaz-Schule in Genua als irgendwie entschuldbar durchgehen lässt, leistet Beihilfe zu einer schleichenden Faschisierung der Gesellschaft. Der italienische Innenminister Scajola hat erklärt: "Die Sicherheitskräfte verhielten sich mit beispielhafter Würde und können nicht dem Spott preisgegeben werden." Dies ist exakt die Sprache von Hitler und Göring aus dem Jahr 1933. Wenn Herr Scajola nicht abgelöst wird, wenn diese Denkweise sich durchsetzt, sind wir - in Italien und in Europa insgesamt - auf dem Weg in eine andere Republik.

Neben der Parallele zu 1933 sehe ich eine andere, im Ergebnis tröstlichere, die zum Sommer 1967 in Deutschland und insbesondere in West-Berlin. Ein wildgewordener Polizist namens Kurras erschoss am 2. Juni 1967 beim von Demonstrationen begleiteten Schah-Staatsbesuch den friedlichen Demonstranten Benno Ohnesorg. Der West-Berliner Staatsapparat unter dem Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz stellte sich damals sofort und reflexartig voll hinter die Polizei einschließlich des tötenden Polizisten Kurras, Herr Albertz rief die Berliner auf, sich gegen den "Terror" der demonstrierenden Studenten zu wehren. Der Polizeipräsident Dünsing rechtfertigte seinen brutalen, Hunderte von Verletzten produzierenden Knüppeleinsatz gegen Anti-Schah-Demonstranten vor der Deutschen Oper Berlin mit dem "Leberwurst-Prinzip": Man müsse in die Mitte hineinstechen, damit es am Ende herausquillt. - Ein paar Wochen später waren Dünsing und Albertz nicht mehr im Amt, und Albertz sagte noch Etwas später, er sei nie so schwach gewesen wie an dem Tag, an dem er sich hinter seine Prügelpolizei gestellt habe.

Wie kam dieser Wandel? Durch beharrliche Demonstration gegen Staatsterror, durch mutiges Eintreten ganz vieler Menschen, vor allem StudentInnen, auf der Straße und in den Medien für Menschenrechte, durch beharrliche Untersuchungen eines - schon damals bestehenden! - Ermittlungsausschusses gegen Übergriffe der Polizei, durch massenhafte Aufklärung gegen die damals herrschende Mediengewalt (vor allem "Springer-Presse").

Auch wenn wir wissen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, können wir aus ihr lernen. Es gibt Dinge, die gleich bleiben und es gibt Neues. Gleich geblieben ist die Unmenschlichkeit von absoluter Herrschaft und eines entfesselten Kapitalismus. Gleich geblieben ist zum Glück auch die Fähigkeit der Menschen auf der ganzen Welt, sich gegen diese Unmenschlichkeit zu wehren. Neu ist unsere Chance, uns über internet zuzammenzutun. Neu ist, dass wir es nicht mehr mit einem deutschen, sondern mit einem italienischen, ja einem europäischen und tendenziell weltweiten Problem einer wild gewordenen Staatsgewalt zu tun haben. Neu und ermutigend ist, dass der Widerstand gegen globalisierte Ungleichheit und Ungerechtigkeit selber international geworden ist.

Der antidemokratische und bürgerfeindliche Staatsapparat des Berlusconi (und seiner Brüder im Geiste wie Schröder, Schily, Bush, Blair u.a.) ist nicht so leicht zu konterkarieren und zu deligitimieren wie der des Heinrich Albertz in West-Berlin 1967/68 (obwohl auch das uns damals viel Mühe kostete).

Aber es lohnt sich, und es ist nicht chancenlos: Italien muss wieder ein Rechtsstaat werden. Und: Weder in Italien noch anderswo darf der Staatsapparat einfach so machen, was die gerade Herrschenden wollen. Und: Ohne eine demokratisch-rechtsstaatliche Regulierung des weltweiten Kapitalismus geht die Menschheit zu Grunde. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Treffen von Politikern. Aber diese Politiker müssen demokratische Politik machen und sich gegenüber dem wildgewordenen Kapital durchzusetzen versuchen.

P.S. Ich finde, dass seitens der in Genua angetretenen Gegner dieses Weltwirtschaftsgipfels zu wenig Kritik an dem ihnen aufgedrückten Etikett "Globalisierungsgegner" geübt worden ist. Meine Tochter z.B. hat im letzten Jahr viel Zeit in Mexiko, Kuba und USA verbracht; für September hat sie ein Austauschprogramm mit Studentinnen aus Sibirien mit organisiert. Globaler geht's doch kaum. Wogegen sie eintritt - und ich auch eintrete - , ist die spezifische, kapitalistische, die Konkurrenz intensivierende, die Verelendung der Verlierergruppen und die Spaltung von Gesellschaften verschärfende Form der "Globalisierung". Wie wäre es also, wenn die Presse statt von "Globalisierungsgegnern" einfach von "Internationalisten" sprechen würde?

Aus: Pax Report, 8/2001 (erscheint im August 2001)

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