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Der neue Klassenkampf

Neoliberale Ideologie und Praxis unter der Lupe

Von Helmut Matthes *

Gut, dass David Harvey nicht bei der Geografie geblieben ist. Der britische Autor und Professor an renommierten Universitäten Großbritanniens und der USA hat sich auch als Politologe, Soziologe und Ökonom einen Namen gemacht. In der Nachfolge Marx'schen Gedankenguts analysiert er den tiefgehenden Wandel des kapitalistischen Systems seit den 70er Jahren.

Ausgangspunkt seines neuen Buches bilden die Krisenerscheinungen, die sich bei der Durchsetzung der Nachkriegsweltwirtschaftsordnung mit dem »embedded liberalism«, dem Pendant zur »sozialen Marktwirtschaft«, ergaben. Als Alternative hatte sich ein politisches Projekt angeboten, »das neue Voraussetzungen für die Kapitalakkumulation schaffen und die Macht der Wirtschaftselite wiederherstellen sollte«. Die neoliberale Theorie hat die Veränderungen zu rechtfertigen. Und sie tut es, wie am besten am Beispielder Anschauungen von zwei Nobelpreisträgern, des Österreichers Friedrich von Hayek und des Repräsentanten einer Gruppe der Universität von Chikago, Milton Friedman, zu demonstrieren ist. Unter Berufung auf die Würde und Freiheit des Menschen wird nach einer Ordnung verlangt, in der die entscheidende Rolle dem Markt zukommt und der Staat umfassende wirtschaftliche Freiheiten schützen und fördern soll, auch durch Einsatz von Gewalt nach innen und außen.

Harvey kennzeichnet des neue System als neue Klassenmacht. Seine historische Analyse reicht vom Pinochet-Putsch in Chile, über die Veränderungen in den USA unter Reagan bis Bush, über die Ära Thatcher in Großbritannien bis hin zur Finanzkrise der Gegenwart. Es wird die geografische Vielfalt und Dynamik des Neoliberalismus an den Beispielen Mexikos, Argentiniens, Südkoreas, Schwedens und Chinas nachgewiesen. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor dem neoliberalen Staat. Er erkennt hinsichtlich des Platzes, den der Staat in der neoliberalen Theorie und der Praxis einnimmt, erhebliche Widersprüche. Dem Abbau staatlicher Funktionen steht der Ausbau staatlicher Eingriffe gegenüber. Nationalismus und autoritäre Praktiken werden zur Sicherung der Interessen der Konzerne, der Loyalität der Bürger und zur Bekämpfung stabilitätsgefährdender Folgen neoliberaler Politik eingesetzt. Neokonservative Politiker beeinflussen mit fundamentalistischen Ansichten das Vorgehen des Staates. Ungleiche neoliberale Vorgehensweisen in verschiede-nen Staaten, Regionen und Zeiten geben dem staatlichen Einfluss unterschiedliche Gesichter.

Harvey widerlegt die angeblichen Erfolge neoliberaler Entwicklung durch Fakten: soziale Ungleichheit, Umverteilung von Vermögen und Einkommen, katastrophale Belastungen der Umwelt. Das Wesen des Neoliberalismus bestehe in der »Akkumulation durch Enteignung«. Deren Grundzüge sind die Privatisierung und Kommodifizierung (»Alles wird zur Ware«), die wachsende Rolle des Finanzsektors, das manipulative Krisenmanagement und die staatliche Umverteilungspolitik von unten nach oben. Die Akkumulation durch Enteignung wird als eine modifizierte Form der von Marx analysierten »ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« charakterisiert.

Schließlich beschäftigt sich Harvey mit der »Erosion der US-amerikanischen Hegemonie« und den Ungleichgewichten im internationalen Finanzsystem und stellt sodann die Frage: »Ist der Neoliberalismus am Ende?« Der Autor konstatiert, dass die Herrschaftseliten in den USA auf ein Katastrophen-szenario orientieren. Das bringt Harvey zum Nachdenken über Opposition, Gegenbewegungen und Alternativen. Der Realist erkennt die durch ideologische Manipulation und rhetorische Verführung der Herrschenden gesetzten Grenzen. Er geht davon aus, dass es ohne Klassenkampf in neuen Formen, die an die Stelle eines »proletarischen Traumlands Marx'scher Utopien« treten, nicht geht. Denn das herrschende neoliberale System ist Ergebnis der Wiederherstellung der Klassenmacht der Eliten. Harvey benennt bereits vorhandene vielfältigen Massenbewegungen und oppositionellen Kräfte, einschließlich Kritiker innerhalb der herrschenden politischen Klasse selbst. Deren Zusammenführung sei erforderlich, um das Ziel zu erreichen, das Harvey – angelehnt an den Freiheitsidealen des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und des Marx'schen Freiheitsbegriffes – als »eine offene Demokratie« definiert, »die dem Prinzip der sozialen Gleichheit ebenso verpflichtet ist, wie der Gerechtigkeit auf ökonomischer, politischer und kultureller Ebene«.

David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Rotpunktverlag, Zürich 2007, 279 S., br., 24 EUR (ISBN: 385869343x)

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juni 2008


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