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Globale Deponie

Die ungebremste Vermüllung der Meere ist eine teure Hinterlassenschaft der Wegwerfgesellschaft und gefährdet die biologische Vielfalt. Maßnahmen greifen kaum

Von Peter Steiniger *

Es klingt nach Seemannsgarn, doch der »achte Kontinent« ist real. Seine Ausdehnung entspricht nach Schätzungen etwa der Größe Mitteleuropas. Der sogenannte Great Eastern Pacific Garbage Patch besteht aus Millionen Tonnen Zivilisationsmüll, den die Meeresströmungen zwischen Nordamerika und Hawaii zusammengetrieben haben. Der Nordpazifikwirbel, der größte Strömungskreis der Ozeane, läßt den gigantischen Müllteppich rotieren. Etwa 70 Prozent davon sinken nach und nach auf den Grund, verteilen sich über den Meeresboden oder bilden dort riesige Unterwassermüllhalden. Er besteht überwiegend aus Plastikabfällen: Wegwerfrasierer und Zahnbürsten, Kleidung und Verpackungsmaterial, Überreste von Haushaltsgegenständen aller Art. Sie zeugen von der massenhaften Ausbreitung von Kunststoffen als universeller Werkstoff seit den 1950er Jahren. Durch Wellen und Reibung, biologische und chemische Degradation wird der Plastikmüll ständig in immer kleinere Teile zersetzt. Seine Abbauzeit beträgt bis zu 450 Jahren.

Müll über Bord

Nach Untersuchungen von Meeresschutz-Experten beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen (­UNEP) gelangen 80 Prozent des Kunststoffmülls über Flüsse in die Meere. Offene Mülldeponien in Küstennähe, aus denen der Wind Abfälle in die See treibt, sind eine weitere Quelle. Wichtige Faktoren bilden auch Schiffahrt und Fischerei. Müll, der auf See anfällt und sonst teuren Stauraum in Anspruch nimmt, wird häufig geschreddert und dann »seebestattet«. Hinzu kommt der Verlust von Teilen der Ausrüstung oder der Fracht. Mit 640000 Tonnen macht im Wasser treibende oder auf den Grund gesunkene Fischereiausrüstung ein Zehntel des Mülls in den Weltmeeren aus. Besondere Berühmtheit erlangte der Fall der »Friendly Floatees«. Im Januar 1992 verlor ein Frachter im Ostpazifik Container mit 29000 Quietsche-Entchen aus Plastik. Statt in Badewannen trieben die Spielzeuge nun jahrelang über die Weltmeere und wurden in Alaska, Australien, Südamerika und sogar Schottland angespült. Ihre Reise versinnbildlichte, daß Plastikmüll als »größter Umweltzerstörer der Ozeane« eine globale Herausforderung darstellt, wie es ein UNEP-Bericht vom April 2009 einschätzt. Er weist auf gravierende ökologische, wirtschaftliche, gesundheitliche und ästhetische Folgen dieses Problems hin und fordert breit angelegte regionale Aktionspläne.

Tödliche Täuschung

Die Auswirkungen von Abfällen im Meer und die Situation in Nord- und Ostsee hat das Umweltbundesamt (UBA), die zentrale deutsche Umweltbehörde, untersucht. Im marinen Abfall wird ein »ernstes Gefährdungspotential für Meereslebewesen« erkannt. Das Verheddern in Müllteilen oder in verlorengegangenen Fischernetzen sowie die orale Aufnahme der bis zu mikroskopisch kleinen Partikel aus Plastik führen zum Ersticken oder Verhungern von Seevögeln, Schildkröten, Delphinen, Walen und andere Arten. So verwechseln Eissturmvögel häufig Plastikteilchen mit Nahrung und verenden schließlich durch Verhungern. Die Mikroplastik-Partikel setzen selbst Chemikalien frei oder reichern sich mit giftigen Schadstoffen des Meeres an. Chemische Substanzen gelangen so in die Nahrungsketten von Mensch und Tier. Als wichtigste Eintragswege von marinem Müll in deutsche Meeresgebiete lassen sich Schiffahrt und Fischerei ausmachen. Während für die Ostsee der Informationsstand noch unzureichend ist, wird für die Nordsee eine hohe Mülldichte nachgewiesen. Zehn Prozent des Weltmülls lagern auf dem Meeresboden der Nordsee. Etwa 20000 Tonnen Abfall gelangen jährlich in dieses Gebiet, in dem alle Arten von Nutzungen durch den Menschen besonders intensiv ausgeprägt sind. Die Menge blieb – trotz Zunahme des Schiffsverkehrs – im letzten Jahrzehnt etwa gleich.

Beträchtlich sind auch die sozioökonomischen Auswirkungen marinen Abfalls an Nord- und Ostseeküste. Betroffen sind u. a. die Fischerei (Schäden an Netzen und Booten), der Tourismus, die Fischzucht sowie die küstennahen Kommunen durch hohe Kosten für Strandsäuberungen. Neben einem besseren Umwelt-Monitoring empfiehlt das UBA eine deutliche Verstärkung von Vor- und Nachsorge. Dazu zählt die Durchsetzung einer kostenfreien Müllannahme für Schiffe in europäischen Häfen.

Mangel an Kontrolle

Mit dem Internationalen Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (MARPOL) von 1978 wurde die Entsorgung jeglicher Kunststoffgegenstände ins Meer weltweit verboten. Dennoch hat sich die Müllbelastung in Nord- und Ostsee seitdem nicht verbessert. Zurückzuführen ist das auf das Fehlen einer wirksamen Überwachung und das diffuse Spektrum an Verursachern. Im Juli 2008 trat die europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) in Kraft. In dieser wird auch ein »guter Zustand« der Meere charakterisiert. Vor allem EU-Staaten mit bedeutender Fischerei und Wirtschaftslobbyisten haben sich als Bremser betätigt. Auch in Deutschland ist man weit davon entfernt, Umweltrecht über Wirtschaftsinteressen zu setzen. Stefanie Werner, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Meeresschutz am UBA, drückt es so aus: »Wir kämpfen dafür, wenigstens auf Augenhöhe zu verhandeln.«

* Aus: junge Welt, 9. Januar 2010


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