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Soziale Veränderung aus heutiger Sicht / Social Change Today

Noam Chomsky im Interview mit Steven Durel / by Noam Chomsky and Steven Durel



Steven Durel: Professor Chomsky, seit 40 Jahren sind Sie eine der führenden Stimmen für soziale Gerechtigkeit und politische Aktion. Nach fast einem halben Jahrhundert in der libertären Bewegung, wie haben sich die Dinge Ihrer Meinung nach verändert?

Noam Chomsky: Veränderung verläuft nie linear. In mancher Hinsicht geht es voran, in manch anderer sind Rückschritte zu verzeichnen. Um nur eine positive Seite zu nennen: Wo es um die generelle Zivilisierung der Gesellschaft geht, sind echte Fortschritte zu verzeichnen, diese sind in immer mehr Bereichen erkennbar. Das Problembewusst! sein beim Thema Menschenrechte hat enorm zugenommen, in vielen Aspekten. Nehmen wir beispielsweise die Rechte der Frau. Heute sind die Frauenrechte viel besser geschützt als vor vierzig Jahren. Auch die Minderheitenrechte sind deutlich besser geschützt, obwohl es in diesem Bereich noch viel zu tun gibt.

Auf der anderen Seite der Backlash. Er kam sehr schnell und fing in den frühen 70gern an. Dieser Backlash geht über das gesamte Spektrum. Mit Spektrum meine ich nicht "liberal" und "konservativ", wie man das nennt, was immer damit gemeint ist, ich meine damit, dass die Demokratisierung und der Zivilisierungseffekt in den 60gern große Besorgnis ausgelöst hat und zwar im gesamten Spektrum der Eliten. Aus diesem Grunde gelten die 60ger ja heute auch als problematische Zeit, als Geburtsstunde des Irrtums, so lehrt man uns heute. Das Problematische damals war, unser Land wurde zu frei, zu demokratisch. Von einer "Krise der Demokratie" war die Rede - damit war ein Zuviel an Demokratie gemeint.

Die Zahl der Lobbyisten in Washington ist Anfang der 70ger Jahre explodiert. Diese sollten eine engmaschige Kontrolle über die Gesetzgebung gewährleisten, passend zur Agenda der Geschäftswelt. Neue rechte Thinktanks, wie das American Enterprise Institute, begannen sich auszubreiten. Sie versuchten, Kontrolle über das zulässige Gedankengut zu erlangen. Eine massive Kampagne zur Übernahme von Radios erfolgte, und das Fernsehen sollte rechtslastiger werden.

Selbst das internationale Finanzwesen veränderte sich, man ließ den freien Kapitalfluss zu. Früher war das nicht erlaubt. Den Ökonomen war sehr wohl bewusst, dass ein Aspekt dabei die Einengung des demokratischen Spielraums sein würde. Die Investoren wurden praktisch in die Lage versetzt, sich wie ein "virtuelles Parlament" (so wird das manchmal genannt) aufzuführen. Sie beurteilen die Politik des jeweiligen Landes und gefällt sie ihnen nicht, können sie die Wirtschaft einfach zerschlagen.

Es gibt viele Anzeichen, dass wir uns auf einen noch repressiveren, noch autoritäreren Staat zu bewegen - in der Ära der Bush-Administration ist das zufällig extrem. Sie nennen sich selbst konservativ - was eine Beleidigung für den Konservatismus ist. In Wirklichkeit sind sie rechts - reaktionäre Statisten. Sie wollen einen sehr mächtigen Staat, um das Privatleben, die Wirtschaftswelt und die internationale Gemeinschaft (international society) zu kontrollieren. Wenn nötig greifen sie zur Gewalt. Was ist daran konservativ? Nichts.

Vor einigen Wochen war ich in Washington, wo 100 000 Menschen zusammentrafen, um gegen den Krieg zu protestieren. Die meisten forderten den sofortigen Abzug der ausländischen Truppen aus dem Irak. Demgegenüber sagen uns die meisten Politiker, wir können nicht abrücken, ohne den Irak an eine Art Theokratie auszuliefern. Diese könnte im Irak Fuß fassen. Wie denken Sie darüber?

Man kann über Saddam Hussein denken, wie man will. Jedenfalls war s! eine Regierung säkular. Heute ist eine große Theokratie sehr wahrscheinlich - damit nicht genug, wahrscheinlich wird sie sich am Iran orientieren. Der schiitische Süden (des Irak) ist bereits eng mit dem Iran verbunden. Viele der schiitischen Führer kommen aus dem Iran. Ajatollah Sistani sowie die überwiegende Mehrzahl der religiösen Führer und die wichtigste Miliz des Südens, die Badr-Brigaden, sind im Iran ausgebildet und bewaffnet worden.

Die amerikanische Invasion hat sich verheerend auf die Gesellschaft (des Irak) ausgewirkt. Im letzten Oktober gingen unsere zuverlässigsten Schätzungen von rund 100 000 Getöteten aus. Inzwischen ist es noch viel schlimmer. Die Zahl der Unterernährten hat sich verdoppelt. Die Zahl der unterernährten Kinder im Irak entspricht heute der von Burundi.

Was will die Bevölkerung? Vor einigen Tagen hat die wichtigste Schiitenpartei gefordert, alle britischen Soldaten im Süden sollten in ihren Baracken bleiben. Die sunnitische Bevölkerun! g will die US-Truppen ohnehin offensichtlich aus dem Land haben. Auch die Sadr-Gruppe verkündet, die Amerikaner sollten gehen. Innerhalb des Parlaments gibt es eine Kommission für nationale Souveränität - oder so ähnlich. Diese hat - ich glaube einstimmig - einen strikten Zeitplan für den Rückzug gefordert.

Kürzlich las ich eine Rede des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez. Darin ist von Ihrem Buch 'Hegemony or Survival' die Rede - nach Chavez Worten ein großes Werk der antiimperialistischen Literatur. Wir wissen jetzt, dass Hugo Chavez Chomsky-Fan ist. Ich frage mich, sind Sie umgekehrt Chavez-Fan? Wie ist Ihre Meinung zur Bolivarischen Revolution?

Auch hier ist die interessante Frage nicht, was halten Sie oder ich davon oder was hält George Bush davon? Die eigentliche Frage lautet doch, was halten die Venezolaner davon? Für Letzteres gibt es Belege. Obgleich die Medien, die Geschäftswelt und die USA Hugo Chavez extrem feindselig gegenüberstanden, hat er ! eine Wahl nach der andern und ein Referendum nach dem andern gewonnen, mit überwältigender Mehrheit.

Es gibt Umfragen in Lateinamerika - vorsichtige Umfragen von lateinamerikanischen Umfrageinstituten - deren Ergebnisse sehr erhellend sind, weil sie zeigen, dass in nahezu ganz Lateinamerika immer weniger Menschen an die Demokratie glauben. Nicht, dass die Menschen Demokratie nicht gut finden. Was sie nicht gut finden, ist die damit verbundene neoliberale Wirtschaftspolitik. Letztere richtet großen Schaden an. Es gibt nur wenige Ausnahmen, eine davon ist Venezuela.

Die Reichen und Privilegierten hassen ihn (Hugo Chavez). Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung Venezuelas ist extrem verarmt. Vom enormen Reichtum des Landes haben sie nie etwas abbekommen. Die Bolivarische Revolution tut etwas für die Armen - egal, wie Sie oder ich das finden. Und ganz offensichtlich reagieren die Armen. Der enorme Rückhalt für ihn (Chavez) in den Slums und der enorme Hass, der ihm vonsei! ten der Pelican Suites entgegenschlägt, ist sehr erhellend.

Professor John O'Connor, von der Central Connecticut State University, richtet folgende Frage an Sie: Seit Jahren argumentieren Sie, unser doktrinäres System, unser Propagandasystem, funktioniere so massiv, dass kaum Chancen für echten sozialen Wandel zu erkennen sind. Wie erklären Sie sich dann das Anbrechen einer globalen Bewegung für soziale Gerechtigkeit und gegen den Neoliberalismus?

Ich habe nie behauptet, dass es (das Propagandasystem) soziale Veränderung verhindern könnte. In Wirklichkeit habe ich noch nicht einmal gesagt, dass das System unabhängiges Denken verhindert. Womit ich mich vielmehr auseinandergesetzt habe, ist die Natur dieses Propagandasystems. Dessen Wirkungen stehen auf einem ganz anderen Blatt.

Im Falle des amerikanischen Propagandasystems ist die erste Frage - was ist Propaganda - relativ leicht durch Forschung zu beantworten. Welche Auswirkungen hat Propaganda auf die Bevölkerung - dem nachzugehen ist schon wesentlich schwieriger und eine reichlich subjektive Angelegenheit. Grob gesagt kann man, denke ich, den Schluss ziehen, dass Propaganda wahrscheinlich sehr effektiv auf die gebildeteren Sektoren (der Bevölkerung) wirkt - was nicht überrascht, schließlich sind sie Teil des Propagandasystems und verbreiten die Propaganda. Die allgemeine Bevölkerung gibt ein gemischtes Bild ab. Tendenziell führt Propaganda bei Menschen zu Skepsis, zu Desillusionierung, zu einer Abneigung gegenüber den Institutionen, sie haben das Gefühl, dass nichts funktioniert.

Was die generellen Einstellungen und Haltungen in den USA angeht, so gibt es reichlich Beweise, die die dramatische Tatsache belegen, dass beide politischen Parteien (Demokraten und Republikaner) und die Medien in immer mehr Themenbereichen weit rechts von der allgemeinen Bevölkerung liegen. In dieser Hinsicht hat die Propaganda also nicht funktioniert, und auf diesem Hintergrund sind Ph! änomene wie die globale Bewegung für soziale Gerechtigkeit zu sehen.

Übersetzt von: Andrea Noll

Quelle: ZNet 11.11.2005; www.zmag.de



Social Change Today

by Noam Chomsky and Steven Durel

November 11, 2005

Steven Durel: Professor Chomsky, for forty years now you hav! e been a leading voice in political action and social justice. After this near half-century of participation in the libertarian movement, how have things changed?

Noam Chomsky: Change is never linear. It goes forward in some respects, backwards in others. Just to take the positive side, there has been a very substantial increase in the general level of civilization of society, and we see that in dimension after dimension. Concern for human rights has increased enormously and has many components. Women’s rights, for example, are protected way beyond what was true forty years ago. Minority rights are far more protected, though there is plenty distance to go.

On the other hand, there’s a backlash. It was very quick, sta! rting in the early 70’s, and it was across the spectrum. Not what’s called "liberal" and "conservative," whatever those names mean, but across the elite spectrum there was deep concern about the democratizing and civilizing effects of the 60’s. That’s why the 60’s are now recorded and taught as the time of troubles or the birth of error. The troubles were that the country was just becoming too free and democratic. It was actually called a "crisis of democracy," which meant too much democracy.

The number of lobbyists in Washington just exploded in the early 70’s in an effort to make sure that legislation was tightly controlled, that it fit the business agenda. The proliferation of new right wing think-tanks, like the American Enterprise Institute, tried to control the range of permissible thoughts. There was a massive campaign to take over radio and s! hift TV to the right.

Even the international financial system has changed, so as to permit free capital flows, which had not been permitted in the earlier period. And it was well understood by economists that one affect of that is to restrict the range of democratic options. It gives investors essentially the ability to act like what is sometimes called a "virtual senate." They can pass judgment on a country’s policies and, if they don’t like them, they can destroy the economy.

There are many signs of movement towards a more repressive authoritarian State and it happens to be extreme in the Bush Administration. They call themselves conservatives, but that’s an insult to conservativism. They are right wing, reactiona! ry statists. They want a very powerful State to control personal life, the economic world and international society, and they use force if necessary. There’s nothing conservative about that.

SD: I went down to Washington a few weeks ago for a gathering of 100,000 war protestors. Most of them were demanding an immediate withdrawal of foreign troops from Iraq. Conversely, the majority of politicians are telling us that we can’t leave and to do so would be to subject Iraq to some kind of theocracy that might take root. I’d like to hear your thoughts.

NC: Whatever you thought about Saddam Hussein, it was a secular government. Now it’s very likely that there will be a large theocracy. What’s more, it’s likely that the theocracy will be oriented with Iran. There are close connections between the Shiite south and Iran. A lot of Shiite leadership comes from Iran. Ayatollah Sistani, a large majority of the religious leaders and the main militia in the south, the Badr Brigades, are Iranian trained and armed.

The effect of the American invasion has been to devastate the society. By last October, the best estimates we had were that about 100,000 people had been killed. By now it’s got to be much worse. The level of malnutrition doubled. Child malnutrition is now at the level of Burundi.

What does the population want? A couple days ago, the major Shiite party demanded that the British soldiers in the south stay in their barracks.! The Sunni population obviously wants the American troops out. This Sadr group has announced that they want the Americans to leave. The parliament does have a national sovereignty commission, or something, and they have called, I think unanimously, for a strict timetable for withdrawal.

SD: I recently read a speech by Venezuelan President Hugo Chavez. He actually was talking about your book, Hegemony or Survival; he was praising it as a great piece of anti-imperialist literature. So we know that he’s a fan of yours, but I was wondering if you are a fan of his. What do you think about the Bolivarian Revolution?

NC: Again, the interesting question is not what I think about it or what you think about it, or what Geor! ge Bush thinks about it. The question is, what do Venezuelans think about it? On that, we have evidence. Despite extreme hostility from the media, from the business classes and from the United States, Chavez has won election and referendum one after the other by heavy majority.

There are polls in Latin America, careful polls by Latin American polling institutions, and they are quite revealing. What they show is a decline in faith in democracy over almost all of Latin America, not because people don’t like democracy, but because they don’t like the neoliberal economic policies that have come along with it, which are harmful. There are very few exceptions. Venezuela is one of those exceptions.

The wealthy and the priv! ileged hate him. On the other hand, the great majority of the population is very impoverished and has always been kept out of the country’s enormous wealth. This Bolivarian Revolution, whatever you and I may think about it, is actually doing something for the poor and apparently they are reacting. So the enormous support for him in the slums and great hostility in the Pelican Suites gives you a pretty good guess.

SD: I have this question for you from Professor John O’Connor at Central Connecticut State University: For years you have made the argument that our doctrinal system, our propaganda system, was so overwhelming that it was difficult to see opportunities for serious social change. How do you explain the emergence of the global justice movement against neoliberalism?

NC: I’ve never said that it prevents social change. In fact, I never even said that it prevents independent thinking. What I’ve discussed is the nature of the propaganda system. There’s a separate question to ask about its effect.

In the case of the US propaganda system, the first question is a relatively easy one to research. You can study what the propaganda is like. To study its effect on the population is much more difficult and pretty subjective. Roughly, I think that the conclusion will be that, among more educated sectors, it is probably very effective, which is not too surprising because they’re part of it. They promulgate the propaganda. The general population, I think, is a mixed story. What it’s tended to do is make people skeptical, disillusioned, disliking institutions and believ! ing that nothing works.

In terms of general attitudes and beliefs, we have extensive evidence of US attitudes. It shows pretty dramatically that both political parties and the media are far to the right of the general population on issue after issue. To that extent, it hasn’t been effective. Therefore, it’s from that background that you get things like the global justice movement.

Source: ZNet, www.zmag.org


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