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Erfolgreiche Aufholjagd

Trotz aller Probleme: UN-Bericht konstatiert enormen Aufschwung in sich entwickelnden Ländern des sozialökonomischen »Südens«

Von Wolfgang Pomrehn *

Die US-Wirtschaft findet nicht aus ihrem Loch heraus, in das sie mit dem Platzen der Hypothekenblase 2008 gefallen ist. In Europa bemüht sich die Bundesregierung nach Kräften, die Euro-Krise zu lösen – um sie tatsächlich immer weiter zu verschärfen. Und während die alten Zentren der ökonomischen Entwicklung schwächeln, zeichnen sich in Teilen Asiens, Lateinamerikas und auch Afrikas gewaltige Veränderungen ab. Darauf macht der »Bericht über die menschliche Entwicklung« aufmerksam, den die UN-Organisation UNDP (United Nations Development Programme) Ende vergangener Woche veröffentlicht hat (siehe auch jW vom 19, März). Titel: »Der Aufstieg des Südens«.

»Süden«, das ist hier Synonym für die Entwicklungsländer, mit »Norden« sind die früheren Industriestaaten gemeint (die nicht in jedem Falle heute noch solche sind). Es sind nicht sehr trennscharfe Begriffe, sie sollen jedoch eine Groborientierung ermöglichen. So werden Staaten wie Südkorea und Singapur mit ihren durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen (gemessen am Bruttoinlandsprodukt BIP/also der Wirtschaftsleistung innerhalb eines Jahres) von 28231 und 52613 US-Dollar den Entwicklungsländern zugerechnet. Nicht dazu gehört beispielsweise das EU-Mitglied Bulgarien, das nur auf ein BIP von 11400 US-Dollar pro Person kommt. Und Deutschland (35400 US-Dollar) auch nicht. Nebenbei bemerkt: Diese Werte basieren wegen der besseren Vergleichbarkeit nicht auf den Wechselkursen der Währungen, sondern auf sogenannten Kaufkraftparitäten, die zudem auf einen konstanten Wert, nämlich den des Dollars von 2005, bezogen werden.

Der UN-Bericht hat nicht allein den kometenhaften ökonomischen Aufstieg ost- und südostasiatischer Länder im Auge. Er stellt vielmehr in weiten Teilen der Welt (die in den 1980er Jahren und 1990er Jahren noch nahezu vom Welthandel abgeschnitten waren) einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung fest und verweist auf dessen historische Bedeutung: »Die industriel­le Revolution war eine Angelegenheit von vielleicht 100 Millionen Menschen«, so Studienautor Khalid Malik, »aber hier geht es um Milliarden von Menschen«.

Gewöhnlich schauen Ökonomen allein auf makroöokonomische Indikatoren wie das oben zitierte Pro-Kopfeinkommen oder das Nationaleinkommen und dessen Wachstumsraten. Die seit 1990 in regelmäßigen Abständen veröffentlichten UNDP-Berichte haben jedoch einen breiteren Ansatz. Sie versuchen, die Länder nach einem Index, dem HDI (Human Development Index), zu beurteilen, in den neben den genannten ökonomischen Faktoren auch Gesundheitsversorgung, Lebenserwartung, Länge des Schulbesuchs, Einkommensverteilung und ähnliches einfließen.

Viele wichtige mikroökonomische Faktoren lassen sich kaum mit Angaben über die Wirtschaftsleitung erfassen. Ein Beispiel dafür ist die Revolution, die sich in der Kommunikation abspielt. Noch vor zehn Jahren war, wenn es um die Möglichkeiten des Internets ging, die Rede vom »digital divide«, von der digitale Spaltung der Welt. Das World Wide Web war noch im Jahre 2000 vor allem eine Sache des »Nordens«, seine Verbreitung im »Süden« sehr limitiert. Kaum 100 Millionen Menschen hatten dort seinerzeit Zugang zum Netz der Netze. In den entwickelten Ländern mit seiner erheblich kleineren Bevölkerung waren es bereits rund 300 Millionen.

Im Jahre 2011 hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. 1,5 Milliarden Menschen waren inzwischen in den Entwicklungsländern online, und zwar mit stark zunehmender Tendenz. In den alten Industriestaaten waren es nicht einmal die Hälfte, und hier verläuft der Anstieg wesentlich flacher. Die USA, wo das Internet in den 1970er Jahren seinen Anfang nahm, sind zwar nach wie vor das Land mit dem größten täglichen Datenverkehr, aber gleich danach kommen Länder wie Mexiko, China, Indonesien und Indien, so der Bericht.

Und auch was die Mobiltelefonie angeht, stehen die meisten Entwicklungsländer dem »Norden« nicht mehr nach. In China (das als Entwicklungsland und Teil des »Südens« bezeichnet wird) greifen demnach täglich mehr als eine halbe Milliarde Menschen auf das Netz mit ihren Smartphones zu. Im subsaharischen Afrika erreichen Mobiltelefone viele Gebiete, die weder ans Festnetz noch an eine zentrale Stromversorgung angeschlossen sind. Die besseren Kommunikationsmöglichkeiten haben laut Bericht inzwischen die Wirtschaft dort erheblich belebt. Kleinbauern bekämen leichter Kredite und haben einen besseren Zugang zu den Märkten.

Hinzu kommt, daß die Verbilligung der Solarstromerzeugung in den letzten Jahren dazu beiträgt, auch das Energieproblem vieler abgelegener Städte und Dörfer des »Südens« zu lösen, streicht der Bericht heraus. Wo bisher lange Wege bis zur nächsten Stromquelle in Kauf genommen oder teurer Treibstoff für den Dieselgenerator bezahlt werden mußte, bieten nun zunehmend Solarzellen eine günstige Alternative. Das Aufladen der Handys wird erleichtert, und in Kombination mit Batterien gibt es nun Licht für die Abendstunden. Effekt: Einem Gewerbe kann länger nachgegangen oder für die Schule länger gelernt werden.

Über die Erfolgsgeschichten wie in China, Indien und Brasilien (deren tatsächlichen und vermeintlichen Schattenseiten zwar ebenfalls weltweit diskutiert werden, die aber hier nicht Thema waren. d. Red.) wird viel geschrieben. Deren Wirtschaft, heißt es in dem Bericht, wird 2020 vermutlich zusammen größer sein als die kombinierte Wirtschaftskraft Nordamerikas und der großen EU-Staaten. Aber auch andere Gesellschaften haben in den letzten beiden Jahrzehnten ihren HDI, also den Wohlstandgrad ihrer Bevölkerung, erheblich verbessert. 40 Länder sogar mehr als prognostiziert worden war. Die Zutaten für das Erfolgsrezept seien eine Mischung aus Teilhabe am Weltmarkt, einem stark zunehmenden Warenaustausch zwischen den Entwicklungsländern und klugen Sozialprogrammen gewesen, die die Ärmsten schützen. Mit der aktuellen Austeritätspolitik im »Norden«, das heißt, den rigiden »Sparprogrammen« in der Euro-Zone, sehen die Autoren des Berichts hingegen neue Gefahren für die Weltwirtschaft aufziehen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 20. März 2013


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