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Zwischen Freihandel und Protektionismus

Die größte Diskrepanz zwischen Realität und Mythos zeigt sich an den Staaten, die am lautesten von Liberalisierung und freier Marktwirtschaft tönen: Großbritannien und USA

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag zur Globalisierungsdebatte von Karl Unger aus der Tageszeitung "junge Welt".


Von Karl Unger

In den Kommentaren der Wirtschaftsjournalisten schimmerte vergangene Woche Weltuntergangsstimmung durch: Der freie Welthandel, dessen Belebung sie als die wichtigste Voraussetzung für ein Anziehen der Konjunktur betrachten, scheint gefährdet. Und das durch die westliche Führungsmacht. Noch ist im Streit um die Stahlzölle der USA keine Einigung mit Brüssel in Sicht, da schafft Bush schon das nächste Handelshemmnis, indem er Importquoten für Textilien aus China verhängt.

Pessimisten sehen bereits eine Trendwende in den globalen Wirtschaftsbeziehungen. In den letzten zwanzig Jahren konnten die Anhänger des freien Warenverkehrs einige wesentliche Erfolge für sich verbuchen. Seit Beginn der Schuldenkrise von 1982, in deren Gefolge die Weltbank und der Internationale Währungsfonds eine Reihe von sogenannten Strukturreformen in der Dritten Welt finanzierten, sind viele Entwicklungsländer (meist gezwungen, teilweise aber auch freiwillig) zu einer radikalen Freihandelspolitik übergegangen. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers wurde zudem eine ganze Weltregion erstmals für den freien Handel geöffnet. In den neunziger Jahren kam es zur Unterzeichnung einer Reihe wichtiger regionaler Freihandelsabkommen und zum Abschluß der sogenannten Uruguay-Runde des GATT (General Agreement on Trade and Tariffs). Mit letzterem war die Gründung der WTO (World Trade Organization) 1995 verbunden.

Das ursprüngliche Ziel, ein allgemein gültiges Freihandelsabkommen, war damit noch nicht erreicht, doch spätestens seit 2001, nachdem auch die Volksrepublik China WTO-Mitglied geworden war, orientiert sich der Weltmarkt endgültig am Prinzip Freihandel. Womit nun Schluß zu sein scheint. Denn die neuen Importrestriktionen von Bush richten sich gegen einen echten »Global Player«: Jedes sechste Kleidungsstück weltweit kommt von der chinesischen Textilindustrie. Im Handel mit den USA ist ihr spezifisches Gewicht noch größer. Zwischen Januar und September wiesen die Textileinfuhren aus China eine Steigerungsrate von 148 Prozent aus, und im vergangenen Jahr belief sich ihr Wert auf knapp elf Milliarden Dollar. Da die geplanten Importquoten davon gerade 4,7 Prozent betreffen, ist der politische Charakter dieses Manövers offensichtlich. US-amerikanische Politiker und Wirtschaftsverbände machen die Volksrepublik für den Verlust von über zwei Millionen Arbeitsplätzen verantwortlich.

Daß diese Zahl nichts mit der Realität zu tun hat, ist ohne Belang. Denn im Süden, wo Bush die Wiederwahl gewinnen will, steigt die Arbeitslosigkeit, weil Textilfabriken schließen. So hat in North Carolina Levi Strauss jüngst die letzte Fabrik geschlossen und 2 000 Beschäftigte auf die Straße gesetzt. Und das Traditionsunternehmen Pillotex meldete Konkurs an, was 6 000 Arbeitsplätze kostete. Doch für die meisten Importe ist gar nicht China verantwortlich, denn 60 Prozent aller Einfuhren aus der Volksrepublik kommen von Töchtern US-amerikanischer Unternehmen. Viel mehr als die Konsumenten von den niedrigen Preisen profitieren deshalb die Spekulanten an der Wall Street von den Billigimporten. Die Investmentbank Morgan Stanley hat ausgerechnet, daß daran Aktien im Wert von einer Billion Dollar hängen.

Unter Ökonomen ist zudem unbestritten, daß der sehr gemäßigte Verlauf der letzten Rezession auch den billigen chinesischen Importen geschuldet war: So wäre der jüngste, zur konjunkturellen Belebung beitragende Konsumrausch ohne ihre stabilisierende Kraft nicht denkbar gewesen, ganz zu schweigen von der Möglichkeit der US-Notenbank, die Zinsen auf ein historisches Tief zu senken, ohne damit gleich hohe Inflationsraten zu riskieren. Die chinesische Notenbank wiederum kaufte US-Staatsanleihen in Milliardenhöhe und half so, das hohe Haushaltsdefizit zu finanzieren. Die US-Wirtschaft käme in große Turbulenzen, würde China jetzt auch nur einen Teil dieser Anleihen auf den Markt werfen.

»Freihandelsimperialismus«

Dies scheint den Verfechtern des Freihandels recht zu geben, daß nur dieser den Staaten der Welt die Möglichkeit gibt, ihre jeweils besonderen Fähigkeiten und Reichtümer zum Nutzen aller einzubringen. Ohnehin sind sie davon überzeugt, daß alle heutigen Industrieländer ihren Reichtum allein dem Prinzip des Freihandels verdanken. Diese Sicht der Dinge ist mit den historischen Fakten aber nicht in Einklang zu bringen. Die größte Diskrepanz zwischen der Realität und dem Mythos Freihandel zeigt sich gerade an den beiden Staaten, die am lautesten von Liberalisierung und freier Marktwirtschaft tönten und tönen: Großbritannien und USA. In der Phase der Entwicklung ihrer Volkswirtschaften setzten beide gezielt Zölle, Subventionen und andere Mittel des staatlichen Protektionismus ein. Erst 1846, mit der Aufhebung des Korngesetzes, vollzog Großbritannien die entscheidende Wende in Richtung Freihandel. Dies war das Ergebnis einer Kampagne, die Richard Cobden und die Manchester-Gruppe viele Jahre geführt hatten. Um erfolgreich zu sein, brauchten sie die Unterstützung der Massen, d. h. der Arbeiter. Deren durch Verschärfung der Arbeitsbedingungen und Lohnkürzungen verschlechterte Situation, versprachen sie durch den Freihandel zu verbessern.

Dieses Vorgehen gleicht strukturell dem der heutigen Freihändler, die, während sie die Arbeitsverhältnisse flexibilisieren und die Tarifverträge aushebeln, den Konsumenten das Paradies auf Erden versprechen. Auch der Propagandaapparat der Globalisierer ist dem nicht unähnlich, den die Fabrikanten der Anti-Corn-Law-League eingerichtet hatten, wie eine Bemerkung von Marx zeigt: »Sie bauen mit großen Unkosten Paläste, in denen die Liga gewissermaßen ihre Amtswohnung einrichtete, sie entsenden eine ganze Armee von Missionaren nach allen Punkten Englands, um die Religion des Freihandels zu predigen. Sie lassen Tausende von Broschüren drucken und unentgeltlich verteilen, um den Arbeiter über seine eigenen Interessen aufzuklären. Sie geben enorme Summen aus, um die Presse für ihre Sache günstig zu stimmen. Sie organisieren einen großartigen Verwaltungsapparat, um die freihändlerische Bewegung zu leiten, und entfalten alle Gaben ihrer Beredsamkeit in öffentlichen Meetings.«

Bis 1854 wurden die Zolltarife auf fast alle Erzeugnisse beseitigt. Von dieser einseitigen Grenzöffnung versprach sich der britische Kapitalismus zunächst einmal niedrigere Preise für die Industrierohstoffe und eine Senkung der Getreidepreise, um Lohnerhöhungen ausweichen zu können. Langfristig setzte er zudem auf die normative Kraft der Ideologie und hoffte, daß die anderen Staaten seinem Beispiel folgten. Heute bezeichnen Historiker diese wirtschaftspolitische Wende Großbritanniens auch als »Freihandelsimperialismus«. Denn ihr unausgesprochenes Ziel war, den Fortschritt der Industrialisierung auf dem Kontinent aufzuhalten, indem der dortige Markt für Agrarprodukte und industrielle Rohstoffe angekurbelt wurde.

Wessen Freiheit?

»Was ist also unter dem heutigen Gesellschaftszustand der Freihandel«, fragte Marx im Januar 1848 vor der »Demokratischen Gesellschaft« in Brüssel und gab zur Antwort: »Die Freiheit des Kapitals. Habt ihr die paar nationalen Schranken, die noch die freie Entwicklung des Kapital einengen, eingerissen, so habt ihr lediglich seine Tätigkeit völlig entfesselt. (...) Lassen Sie sich nicht durch das abstrakte Wort Freiheit imponieren. Freiheit wessen? Es bedeutet die Freiheit, welche das Kapital genießt, den Arbeiter zu erdrücken. Er wird sehen, daß das frei gewordene Kapital ihn nicht minder zum Sklaven macht als das durch Zollschranken belästigte.«

Das Mutterland und Bollwerk des modernen Protektionismus aber sind die Vereinigten Staaten. Ihr erster Finanzminister, Alexander Hamilton, stellte sich bewußt gegen die Lehren des Vaters der Nationalökonomie, Adam Smith, indem er eine systematische Begründung für staatliche Industrieförderung entwickelte. Nach Meinung von Adam Smith konnte Amerika nämlich nur zu »wirklichem Reichtum und Größe« gelangen, wenn es sich auf Agrarprodukte spezialisierte und darauf verzichtete, die eigenen Manufakturen zu schützen. Wegen der bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hohen Transportkosten gab die geographische Lage der USA eine quasi »natürliche Protektion«, und da zudem die Zolltarife für industrielle Fertigwaren zwischen 1830 und 1945 zu den höchsten der Welt gehörten, war die US-amerikanische Industrie in dieser Periode eine der weltweit bestgeschützten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die US-Konzerne sich eine unbestrittene Vorherrschaft gesichert hatten, liberalisierten die USA ihre Handelsbeziehungen und begannen, sich für den Freihandel stark zu machen. Das politische und kulturelle Establishment der USA machte mit dieser Ideologie aller Welt etwas vor, aber wohl kaum sich selbst. Hatte doch rund 75 Jahre zuvor der damalige US-Präsident, General Ulysses Grant, gemeint: »Über Jahrhunderte hinweg hat England auf die Protektion seiner eigenen Wirtschaft gesetzt, dieses Prinzip zu äußerster Konsequenz getrieben und damit befriedigende Ergebnisse erzielen können. Ohne Zweifel verdankt England seine gegenwärtige Stärke eben diesem System. Nach 200 Jahren schien es England genehm, das Prinzip des Freihandels zu übernehmen, weil es sich von der Protektion nichts mehr versprach. Nun denn, verehrte Herrschaften, was ich über mein eigenes Land weiß, bringt mich zu der Überzeugung, daß auch Amerika in 200 Jahren, wenn es von der Protektion alles bekommen hat, was sie bietet, das System des Freihandels übernehmen wird.«

Das Dilemma der Dritten Welt

Für neoliberale Ökonomen ist charakteristisch, daß sie über kein historisches Wissen verfügen und Wirtschaftsgeschichte ein Fremdwort für sie ist. Die wenigen Neoliberalen, die über die protektionistische Vergangenheit der heute entwickelten Länder Bescheid wissen, haben ein simples Argument entwickelt: Früher mag der Protektionismus die eine oder andere positive Wirkung gehabt haben, aber in der globalisierten Welt von heute ist er nur schädlich. Auch zeige sich die Überlegenheit des Freihandels schon darin, daß die Wirtschaft der Entwicklungsländer in den letzten zwanzig Jahren viel stärker gewachsen sei als in den Jahrzehnten davor, in denen man in der Dritten Welt vornehmlich auf Protektionismus gesetzt hatte. Doch die Fakten sehen anders aus. Wenn der Freihandel wirklich eine so großartige Sache wäre, dann hätte sich das Wirtschaftswachstum in den letzten beiden Dekaden eigentlich beschleunigen müssen. Zwischen 1960 und 1980, als jede Menge regulativer Instrumente benutzt wurden, wuchs das globale Pro-Kopf-Einkommen durchschnittlich um rund drei Prozent. In den letzten zwanzig Jahren hingegen betrug der Zuwachs nur 2,3 Prozent. In den entwickelten kapitalistischen Staaten verlangsamte sich das jährliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von durchschnittlich 3,2 auf 2,2 Prozent. In den Entwicklungsländern halbierte sich die Wachstumsrate, die zwischen 1960 und 1980 drei Prozent betragen hatte auf 1,5.

Das Ausmaß der Krise in der Dritten Welt wird an einer solchen Zahl noch längst nicht deutlich. In Lateinamerika ist das Wirtschaftswachstum praktisch zum Stillstand gekommen. Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens sank von 3,1 (1960/80) auf 0,6 Prozent (1980/99). Im Nahen Osten und Nordafrika schrumpfte es in den letzten Jahren um durchschnittlich 0,2 Prozent und im subsaharischen Afrika sogar um 0,7 Prozent. In den beiden »Regulations«-Jahrzehnten war es um 2,5 bzw. zwei Prozent gewachsen.

Einlaufkurve für ALCA

Sein großes Versprechen, beschleunigtes Wachstum durch Freihandel, hat der Neoliberalismus nicht gehalten. Aber ist das ein Argument für Protektionismus? Freihandelszonen zwischen Staaten mit einem ähnlichen ökonomischen Entwicklungsstand bieten den Teilnehmern den Vorteil größerer Märkte und funktionieren wie Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) und ASEAN (Brunei, Birma, Malaysia, Thailand, Indonesien, Philippinen, Singapur, Kambodscha, Laos und Vietnam) relativ problemlos. Bei unterschiedlichen Entwicklungsniveaus beeinträchtigt der Freihandel langfristig hingegen die Entwicklung, weil er die ökonomisch rückständigen Länder auf Fertigungsprozesse mit niedriger Produktivität festlegt. Dies haben inzwischen auch zahlreiche Politiker der Dritten Welt begriffen, wie Cancun und das vergangene Woche nur einen Tag dauernde Ministertreffen von Miami gezeigt haben. Dabei waren die zusammengekommen, um die größte Freihandelszone der Welt zu schaffen: Einen Markt von 800 Millionen Menschen mit einem Wirtschaftsaufkommen von 13 Billionen Dollar wird die »Free Trade Area of the Americas« (FTAA) bilden.

Die in Miami versammelten Handelsminister von 34 Staaten haben zwar ihr grundsätzliches Festhalten an diesem Projekt bekräftigt, doch der Wortlaut der Deklaration fiel in einer selbst für derartige Texte unüblich vagen Form aus. So werden darin weder Reichweite und Tiefe des angestrebten Vertrages definiert, noch enthält sie einen konkreten Verhandlungsfahrplan mit daran geknüpften Zwischenschritten inhaltlicher Natur. Zwischen Brasilien und den USA, den beiden gemeinsamen Vorsitzenden des Treffens, gibt es grundlegende Differenzen darüber, wie weit dieses Abkommen über den Abbau von Zöllen und Mengenbeschränkungen hinausgehen soll. Die USA wollen die Einbeziehung verbindlicher Regeln zum Investitionsschutz, zum Recht auf geistiges Eigentum und zum öffentlichen Beschaffungswesen. Damit würde ein weitgehend einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen, innerhalb dessen der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen überall nach den gleichen und von den USA definierten Regeln und Standards erfolgte.

Die Bush-Administration kann mit dem Kompromiß von Miami gut leben, denn die USA verhandeln schon seit längerem mit einer Reihe von Ländern über bilaterale Abkommen, die ihren Vorstellungen entsprechen. Mit fünf mittelamerikanischen Staaten stehen die Verhandlungen kurz vor dem Abschluß, und mit Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Panama und Peru werden sie demnächst aufgenommen. Mit dieser Strategie soll die Position Brasiliens geschwächt werden, das seit Monaten versucht, die lateinamerikanischen Staaten zu einer gemeinsamen Haltung zu bringen. Nicola Tingas, der Chefökonom der WestLB in Sao Paulo meint: »Wenn die USA genug Zeit zum Warten haben, werden sie mit den Andenstaaten Land für Land bilaterale Handelsabkommen machen und Brasilien so lange isolieren, bis es seine Forderungen lockert.«

Diese Strategie ist weder originell noch neu. Bilaterale und regionale Vereinbarungen sind für die imperialistischen Kernländer ganz besonders attraktiv, weil sie auf Grund ihrer Verhandlungsmacht den Partnerländern die Bedingungen eines Arrangements diktieren können. Deshalb steht nach dem Scheitern von Cancun zu erwarten, daß wie schon während der Komplikationen der letzten Welthandelsrunde (Uruguay-Runde 1985-1993) bilaterale Verträge wie Pilze aus dem Boden schießen werden. Der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick und EU-Kommissar Lamy haben sich jedenfalls in diesem Sinn geäußert. Für die Entwicklungsländer hingegen ist unter den gegebenen internationalen Machtverhältnissen die Wahl zwischen bilateralem oder mulilateralem Freihandelsabkommen die zwischen Skylla und Charybdis.

Aus: junge Welt, 26. November 2003


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