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Rousseff geißelt EU-Sparpolitik

Brasiliens Präsidentin kritisiert auf Weltsozialforum altmodische Konzepte

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat auf dem Weltsozialforum scharfe Kritik an der Sparpolitik der EU geübt. »Erneut werden in Europa gescheiterte Rezepte vorgeschlagen«, sagte Rousseff. Die Kluft zwischen dem Willen der Bevölkerung und der »Stimme der Märkte« werde offenbar immer größer, erklärte sie.

Brasiliens Präsidentin hat ihre Präferenzen offenbart: Mit einem symbolträchtigen Auftritt hat Dilma Rousseff das Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre aufgewertet. Anstatt wie ursprünglich geplant auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor Managern, Bankern und Politikern zu reden, geißelte die brasilianische Staatschefin in Porto Alegre die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU.

Im Gegensatz zur EU hätten Südamerikas Mitte-Links-Regierungen »progressiv und demokratisch« auf die Krise reagiert, rief Rousseff vor Tausenden Anhängern. »In unseren Ländern gehen Armut und Ungleichheit zurück, während in anderen Regionen die Ausgrenzung zunimmt und Rechte verloren gehen. Heute geben wir unsere Souveränität nicht mehr auf, wenn Mächte, Finanzgruppen oder Ratingagenturen Druck auf uns ausüben.« Europa hingegen wiederhole gerade jene konservative Wirtschaftspolitik, die im Lateinamerika der 80er und 90er Jahre zu Stagnation, Demokratieverlust, mehr Armut und Arbeitslosigkeit geführt habe.

Mit Blick auf das ergebnislose G-20-Treffen im vergangenen November sagte Rousseff: »Es ist nicht einfach, neue Ideen zu entwickeln, wenn wir politischen und ideologischen Vorurteilen ausgesetzt sind.« Auf dem UN-Umweltgipfel Rio+20, der im Juni in Rio de Janeiro stattfindet, möchte die Gastgeberin ein »neues Entwicklungsmodell« in den Fokus rücken, bei dem wirtschaftliche, soziale und ökologische Gesichtspunkte berücksichtigt würden. Auf die Demonstranten, die mit Transparenten und Pfiffen gegen den Bau des Megastaudamms Belo Monte und das neue Waldgesetz protestierten, ging sie jedoch mit keinem Wort ein. Stattdessen übte sie mit dem WSF-Motto »Eine andere Welt ist möglich« den Schulterschluss mit der Basis.

Große Resonanz fand das Seminar »Ökosozialismus oder Barbarei« der Rosa-Luxemburg-Stiftung, eine von rund 900 WSF-Veranstaltungen. Im Rahmen einer »Green Economy« strebten die Agrar- und Pharmamultis die totale Kontrolle über die Artenvielfalt an, warnte der Gentech- und Geoengineeringkritiker Pat Mooney von der Forschungsgruppe »Etc Group« aus Kanada. Wie schon auf dem großen UN-Umweltgipfel in Rio 1992 gehe es um »Besitz und Kontrolle der natürlichen Ressourcen«, meinte Mooney. Damals hätten sich die »Kolonialmächte« durchgesetzt, »die Biodiversität Lateinamerikas lagert im Botanischen Garten von Berlin und anderen Genbanken des Nordens«, kritisierte er. Der 64-Jährige gehört zu jenen Intellektuellen, die bis zum Sonntag die Grundsatzpapiere für den »Gipfel der Völker« vorbereiten, der im Juni parallel zum Rio+20-Umwelttreffen am Zuckerhut stattfindet. »Unsere Botschaft in Rio muss lauten: Ihr könnt die Natur nicht besitzen«, rief er beschwörend. Die Ermahnungen an die Globalisierungskritiker, sie sollten sich konstruktiv zeigen, tat er als »Bullshit« ab: »1992 waren wir positiv, und was ist dabei herausgekommen? Wir haben einen Haufen schöne Worte, die Konzerne haben einen Haufen Geld.« Dennoch schloss er mit einem zuversichtlichen Ausblick: »Weltweit werden immer noch 70 Prozent der Lebensmittel von Kleinbauern produziert, und jeweils 70 Prozent des Wissens über Artenvielfalt und medizinische Heilmittel befinden sich im Besitz indigener Völker«. Die sozialen Bewegungen müssten aber noch enger zusammenarbeiten, um den Zugriff der Konzerne abzuwehren, findet Mooney. Konzeptionell sei das in Porto Alegre debattierte Gemeingüter-Konzept, das neue Wege zwischen Markt und Staat erkundet, dafür besonders gut geeignet.

Das bis Sonntag (29. Jan.) dauernde Sozialforum steht unter dem Motto »Kapitalistische Krise, soziale und ökologische Gerechtigkeit«

* Aus: neues deutschland, 28. Januar 2012


"Das Stichwort von Porto Alegre ist Systemwechsel"

Das Weltsozialforum befaßte sich in dieser Woche mit nachhaltiger Entwicklung. Ein Gespräch mit Hugo Braun, Porto Alegre **

Hugo Braun – z. Z. in der brasilianischen Stadt Porto Alegre – ist Mitglied im Koordinierungskreis des deutschen Zweiges von ATTAC.


Das Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre versteht sich als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos und hat diese Woche zum elften Mal getagt. Worum ging es inhaltlich?

Die Teilnehmer haben sich damit befaßt, die für Juni angesetzte UN-Konferenz über Nachhaltige Entwicklung vorzubereiten. Sie ist als Nachfolgeveranstaltung des Umweltgipfels von 1992 geplant und soll ebenso wie dieser in Rio de Janeiro stattfinden. Es geht darum, zu bewerten, was sich in den vergangenen 20 Jahren in der Umweltpolitik getan hat – die Konferenz wird deswegen auch »Rio+20« genannt.

Kurz gesagt: Nachhaltige Entwicklung hat in dieser Zeit nicht stattgefunden, unsere Umwelt hat noch mehr Schaden genommen, die Armen sind noch ärmer und die Reichen noch reicher geworden. All das war in dieser Woche Thema in Porto Alegre.

Die Forderungen des Umweltgipfels von 1992 wurden also nicht ernst genommen. Meinen Sie, daß der Gipfel 2012 besser davon kommt?

Nicht unbedingt, wir haben auch keine allzu hohen Erwartungen. Ein Bericht, den die UN vorgelegt hat, fordert zwar eine »grüne Ökonomie« – die ist aber nichts anderes als ein grüner Anstrich für eine neoliberale Politik.

Der Hausherr des WEF, Klaus Schwab, hatte kürzlich in Davos mit seiner Erkenntnis Aufsehen erregt, der Kapitalismus habe in seiner gegenwärtigen Form ausgedient. Das ist nicht weit entfernt von Positionen, die auch auf dem Sozialforum eine Rolle spielen ...

Schwabs Erkenntnis kommt reichlich spät, die sozialen Bewegungen und auch ATTAC wissen das seit langem. Es hat sich bei uns immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt, daß dieses Wirtschaftssystem nicht reparierbar ist und daß die sozialen Bewegungen keine Reparaturkolonnen des Kapitalismus sein dürfen. Das Stichwort heißt system change – Systemwechsel also.

Über das Weltsozialforum liest man in deutschen Medien recht wenig. Welche Resonanz hat es in Lateinamerika?

So weit ich das überblicken kann, ist es zumindest in den brasilianischen Medien ein Top-Thema.

Schlägt sich dieses Interesse auch in der Umwelt- und Sozialpolitik Brasiliens nieder?

Unsere brasilianischen Freunde sehen das kritisch – die Industriepolitik der gegenwärtigen Regierung ist alles andere als begrüßenswert. Der Regenwald z.B. wird weiter abgeholzt, es werden auch Staudämme gebaut, die nicht nur die Umwelt schädigen, sondern auch den Lebensraum der Urbevölkerung zerstören.

Wie wirkt das, was auf dem Sozialforum diskutiert wird, auf die sozialen Bewegungen ein?

Ich will keineswegs behaupten, daß die Diskussionsergebnisse die Volksmassen ergreifen. Die Diskussion findet natürlich überwiegend unter Intellektuellen statt – dazu zählen aber auch sehr viele Gewerkschafter. Die Beteiligung ist jedenfalls riesig, es dürften insgesamt wohl um die 40000 Menschen sein, die an den Veranstaltungen des Sozialforums in Porto Alegre selbst sowie in Nachbarstädten teilnahmen.

Welche Rolle spielt ATTAC in Porto Alegre?

Ich habe hier ATTAC-Freunde aus aller Welt getroffen. In den Veranstaltungen war ihre Kompetenz sehr gefragt – vor allem, wenn es um Finanzmärkte, den zusammenbrechenden Euro und um Strategien und Auswege aus der Krise geht.

Das Sozialforum sollte an diesem Samstag zu Ende gehen – gibt es eine gemeinsame Resolution?

Zum Abschluß wird mit Sicherheit ein Programm für die nachhaltige Entwicklung verabschiedet.

Resolutionen sind ganz nett – aber dienen sie nicht letztlich dazu, sagen zu können: Hauptsache, wir haben darüber geredet?

Das Alternativ-Programm der sozialen Bewegungen wird jedenfalls im Juni beim Umweltgipfel in Rio zur Diskussion gestellt.

Wie erklären Sie sich, daß die Sozialforumsbewegung in Europa nicht so richtig Fuß fassen konnte – anders als in Lateinamerika?

In Europa und speziell in Deutschland konnten wir uns bisher nicht auf gemeinsame Strategien einigen, das ist unsere Schwäche. Die sozialen Bewegungen auf unserem Kontinent bestehen aber aus vielen Einzelteilen, die durchaus aktiv und ständig präsent sind. An dem gemeinsamen Dach arbeiten wir noch.

Interview: Peter Wolter

** Aus: junge Welt, 28. Januar 2012


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