Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Sozialsysteme, Verbraucherschutz und öffentliche Daseinsvorsorge sind in Gefahr

Zu den Auseinandersetzungen mit der WTO, die im Dezember 2005 ihre sechste Ministerkonferenz in Hongkong abhält - Proteste sind programmiert

Im Folgenden ein paar Hintergrundinformationen zu den nächsten WTO-Konferenzen, u.a. ein Interview mit dem Globalisierungskritiker Ramon Bultron.



Weltweit kämpfen immer mehr Menschen darum, ihren Lebensunterhalt in einer menschenwürdigen Weise erwerben zu können. Daran werden sie in zunehmendem Maße durch die Welthandelsorganisation (WTO) gehindert. Die WTO steht für ein internationales Regelwerk der globalisierten Weltwirtschaft, das die "Interessen international tätiger Unternehmen fördert", so eine UN-Studie aus dem Jahr 2000, aber den Menschen das "Wirtschaften" und das Überleben mehr und mehr erschwert. Laut dieser Studie sind "Militarisierung, ökonomische Restrukturierung, Handels- und Kapitalliberalisierungen Hauptursachen für Menschenrechtsverletzungen." In den 10 Jahren seit Gründung der WTO haben Millionen von Bauern ihre Lebensgrundlage durch billige Nahrungsmittelimporte verloren. Sozialsysteme wurden und werden abgebaut. Die Umwelt wird immer schonungsloser ausgebeutet.

Die in diesem Jahr anstehenden Entscheidungen (Allgemeiner Rat der WTO, 19. - 20. Oktober und die 6. WTO-Ministerkonferenz in Hongkong, 13. - 18. Dezember) und die vorliegenden Verhandlungsvorschläge lassen eine weitere Beeinträchtigung der Entwicklungsländer, eine drastische Verschärfung der globalen Standortkonkurrenz und massive Angriffe auf Umweltschutzregeln befürchten. Sozialsysteme, Verbraucherschutz, öffentliche Daseinsvorsorge, aber auch Ernährungssouveränität und nachhaltige Produktionsweisen sind akut gefährdet.

Öffentliche Dienstleistungen und Güter werden unter zunehmenden Kommerzialisierungsdruck gestellt. Eine der treibenden Kräfte dabei ist die EU, die über die Generaldirektion Handel bei der WTO die Interessen europäischer Konzerne durchdrückt. Bei den laufenden Verhandlungen treibt die EU vor allem die Marktöffnung für Industriegüter, Wasserversorgung und Dienstleistungen in Entwicklungsländern voran.

Die drei WTO-Buchstaben sind inzwischen zum Signal der Globalisierungskritiker gegen die WTO geworden und stehen auch für erfolgreichen globalen Widerstand, weltweite Solidarität und die gemeinsame Arbeit an einer besseren Welt. Zweimal - 1999 in Seattle und 2003 in Cancun - ist die WTO gescheitert und musste deutliche Verzögerungen ihrer Liberalisierungsagenda hinnehmen. Durch die Auseinandersetzung mit dem lebensfeindlichen Regelwerk der WTO haben sich internationale Netzwerke gebildet, eine fruchtbare Diskussion über Alternativen für eine solidarische und ökologische Weltwirtschaft ist entstanden.

Aus der Einladung zu einer Konferenz von WEED, attac, bund u.a., die Ende September /Anfang Oktober 2005 in Stuttgart stattfand. Internet: http://www.hongkong-konferenz.de/links.htm


"Privatisierung ist ein wichtiges Thema"

In Hongkong findet im Dezember der nächste WTO-Gipfel statt. Ein Gespräch mit Ramon Bultron*

F: Hongkong ist durch den Freihandel groß geworden, obwohl es in der Stadt immer noch sehr viel Armut gibt. Ist es da nicht schwer für Sie, die Öffentlichkeit gegen eine weitere Liberalisierung des Welthandels zu mobilisieren, die EU und USA in der WTO gerne durchdrücken würden?

Es ist keine einfache Aufgabe. Wir haben bereits eine Aufklärtungskampagne gestartet und Diskussionsveranstaltungen organisiert. In Hongkong ist die Privatisierung der Krankenversorgung und der Post ein wichtiges Thema, an das wir mit unseren Argumenten anzuknüpfen versuchen. Eine wichtige Rolle für die Mobilisierung spielen die Wanderarbeiterinnen. In Hongkong leben etwa 220 000 meist sehr schlecht bezahlte Hausangestellte aus Südost- und Südasien. Ihre Organisationen gehören zu den über 30 Mitgliedsgruppen unseres Bündnisses. Auch der größte Gewerkschaftsdachverband ist mit von der Partie.

F: Was ist während der WTO-Ministertagung geplant?

Vom 11. bis zum 18. Dezember soll es eine Aktionswoche geben. Den Auftakt wird eine Demonstration am 11. bilden, die zum Kongreßzentrum, dem Tagungsort, führen wird. Daneben sind verschiedene zentrale und dezentrale Aktivitäten geplant, und sollten die Minister mal wieder überziehen, weil sie sich nicht einigen können, sind wir auch darauf eingestellt, die Abschlußdemonstration erst am 19. durchzuführen. Wir erwarten viele internationale Gäste, aber wir rufen die sozialen Bewegungen in aller Welt auf, auch in ihren Ländern in dieser Zeit Proteste abzuhalten, denn natürlich kann nicht jeder nach Hongkong kommen.

F: Wird es auch Lobbyarbeit auf der Ministertagung geben?

Ja. Wir arbeiten mit dem internationalen Netzwerk »Our world is not for sale« (»Die Welt ist keine Ware«) zusammen. Einige Leute von uns werden im Kongreßzentrum sein und versuchen, Informationen über die Verhandlungen zu sammeln. Dabei werden wir uns auf jene Themen konzentrieren, die Hongkong direkt betreffen, denn es wird Dutzende andere Organisationen geben, die sich jeweils um einige Spezialthemen kümmern. Diese Arbeit ist wichtig, um die Bewegungen zu informieren, außerdem werden viele Medien am besten im Kongreßzentrum zu erreichen sein.

F: Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit den Hongkonger Behörden gemacht?

Wir hoffen, daß wir das Zentrum für unsere Aktivitäten im Victoria Park aufschlagen können. Der ist etwa einen Kilometer vom Kongreßzentrum entfernt. Wir verhandeln schon seit Monaten mit der Hongkonger Regierung darüber, haben aber bisher nichts als leere Versprechungen bekommen. Bei unserem letzten Treffen bekamen wir eine Zusage, daß es am 7. Oktober endlich einen Bescheid gibt. Die gleiche Unsicherheit herrscht wegen der Demonstrationen. Bis zum heutigen Tag haben wir von der Polizei keine genauen Angaben über die Sicherheistmaßnahmen, Absperrungen und ähnliches. Wir wissen also noch nicht, welche Route die Demonstrationen nehmen, und wie nah wir an das Kongreßzentrum heran können. Das internationale Netzwerk wird im Wanchai-Destrikt, ganz in der Nähe des Kongreßzentrums, einen Jugendclub für Workshops und ähnliches haben, aber wir wissen noch nicht, ob der vielleicht schon in der Sicherheitszone liegt und gar nicht öffentlich zugänglich sein wird.

F: Das hört sich an, als sollten die Proteste behindert werden. Wird gegen die Demonstranten Stimmung gemacht?

Ja. Die Medien und die Polizei stellen insbesondere die Südkoreaner als die Störenfriede da. Erst kürzlich wurde der Polizeichef von einer Hongkonger Zeitung mit der Aussage zitiert, bekannte Antiglobalisierungsaktivisten werde man an der Grenze abweisen. Schon im Februar wurde einem unser Freunde aus Nepal die Einreise verweigert. Die Regierung rät den Schulen und Geschäften im Umfeld des Kongreßzentrums während der Aktionswoche zu schließen. Außerdem wurde bereits in einem nahe gelegenen Gefängnis Platz geschaffen und zusätzliches Polizeipersonal für die Gefängnisse geschult.

* * Ramon Bultron ist Sprecher der Hong Kong People’s Alliance (HKPA), die die Aktivitäten gegen den Gipfel der Welthandelsorganisation WTO im Dezember koordiniert.

Aus: junge Welt, 4. Oktober 2005 (Interview: Wolfgang Pomrehn)



Zurück zur Seite "Globalisierung"

Zurück zur Homepage