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Einigung in letzter Minute - Industrieländer setzten sich (wieder einmal) durch

Zu den Protesten und Ergebnissen des WTO-Gipfels in Hongkong

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus zwei Artikel, die der Korrespondent Andreas Behn, Hongkong, nach Deutschland sandte; sie wurden in zwei verschiedenen Zeitungen gedruckt. Im ersten Artikel werden die wesentlichen Ergebnisse der WTO-Konferenz sowie einige Kritikpunkte von NGOs benannt, im zweiten Beitrag werden die den Gipfel begleitenden Demonstrationen geschildert.



Über den Tisch gezogen

Von Andreas Behn, Hongkong*

Welthandelsorganisation: Industriestaaten setzten bei WTO-Gipfel ihre Interessen durch. Demonstranten versuchten, Konferenzzentrum zu stürmen

In letzter Minute hat es bei der 6. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO in Hongkong doch noch eine Einigung gegeben. Der mehrfach überarbeitete Entwurf einer Abschlußerklärung von WTO-Generaldirektor Pascal Lamy erwies sich letztlich nahezu als konsensfähig. Lediglich Kuba und Venezuela äußerten Vorbehalte. Die am Sonntag erzielte Einigung sieht den Abbau von Agrarexportsubventionen bis 2013 sowie kleinere Kürzungen bei weiteren Handelsschranken vor. Viele strittige Themen wurden jedoch ausgespart.

Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben sich die Industriestaaten weitgehend durchgesetzt. Zwar finden sich nicht alle ihre Freihandelsforderungen in der Abschlußerklärung. Doch sowohl im Bereich der Zollsenkung für Industriegüter wie im Bereich Dienstleistungen konnten sie den Widerstand der zuvor überraschend einig auftretenden Länder des Südens brechen und ihre Marktöffnungsagenda durchsetzen, beklagte die deutsche NGO WEED (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung).

Für Iara Pütricovsky, Mitglied der brasilianischen Delegation und Repräsentantin des globalisierungskritischen NGO-Netzwerks REBRIP, ist das Einlenken von Ländern wie Brasilien und deren radikales Auftreten in den Tagen zuvor kein Widerspruch. »Brasilien, Indien und andere wollen am Tisch der großen Wirtschaftsmächte Platz nehmen, alle anderen Verlautbarungen sind nichts als Taktik«, so die frustrierte Aktivistin.

Auch der philippinische Aktivist Walden Bello von der NGO Focus on Global South bezeichnete den Einigungstext gegenüber jW als »rundum schlecht. Die Struktur der Subventionen wird beibehalten, während die Entwicklungsländer gezwungen werden, ihre Märkte zu öffnen und eine Deindustrialisierung zu riskieren.« (...)

* Aus: junge Welt, 19. Dezember 2005


Wider die Raffgier der Reichen

Friedlicher Abschluss nach gewaltsamen Zusammenstößen am Vortag

Von Andreas Behn, Hongkong**

Während im Konferenzzentrum von Hongkong noch immer um eine Abschlusserklärung der 6. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation gestritten wurde, beendete eine farbenfrohe Demonstration die zehntägigen Proteste gegen die Zementierung des Freihandels. Sprüche wie »Down down WTO« (Nieder mit der WTO) und »Free our brothers and sisters« (Lasst unsere Brüder und Schwestern frei) prägten den Zug, der sich mit Fahnen und Transparenten in mehreren Sprachen durch die Straßen der südchinesichen Metropole bewegte. Bauern, Gewerkschafter, Studenten und Aktivisten von Einwandererbewegungen, meist aus asiatischen Staaten, prägten die Demonstration.

Mehrere Redner der Auftaktkundgebung forderten vor allem die Freilassung der koreanischen Bauern, die am Vortag festgenommen worden waren. Zugleich entschuldigten sich die Organisatoren der Demonstration vom Sonnabend bei der einheimischen Bevölkerung dafür, dass es so viele Störungen gegeben habe. Der Marsch der rund 5000 Aktivisten am Sonntag verlief friedlich und endete auf einem abgeriegelten Platz in der Umgebung des Konferenzzentrums. Obwohl die Polizei angekündigt hatte, hart durchzugreifen, rechneten die Veranstalter nicht mit neuen Zusammenstößen.

Die Proteste hatten sich am Sonnabend zugespitzt, als es rund 3000 Demonstranten gelungen war, bis auf wenige Meter zum Konferenzzentrum vorzudringen. Erst durch massiven Einsatz von Tränengas gelang es der völlig überforderten Polizei, den Protestzug aufzuhalten. Im Rahmen der ungezählten Aktionen, die die rund 10 000 Aktivisten aus aller Welt auf den Straßen von Hongkong veranstalteten, war am Nachmittag des Sonnabends eine Demonstration vom Victoria-Park, dem Zentrum der Protestbewegung, in Richtung WTO-Konferenz aufgebrochen. Anstatt die genehmigte Route einzuhalten, teilten sich die Demonstranten in kleine Gruppen und brachten den Verkehr im Innenstadtbezirk Wan Chai zum Erliegen. Bei ersten Zusammenstößen mit der Polizei gab es mehrere Verletzte und einige Festnahmen.

Bis 19 Uhr gelang es den meisten Aktivisten, sich auf einer Kreuzung nur 100 Meter vom Eingang des Kongresszentrums zu sammeln. »Wir sind hier, um gegen WTO-Beschlüsse zu demonstrieren, die die Lebensbedingungen der Mehrheit der Menschen in dieser Welt verschlechtern würden«, rief eine Sprecherin ins Megafon. Begleitet von Sprechchören gegen die WTO, fuhr sie fort: »Wir wissen, dass die Delegationen drinnen hören, dass wir hier, unmittelbar vor ihrem Kongresszentrum sind. Wir appellieren an die Verhandlungsführer vor allem aus den Ländern des Südens, dem Druck der Industrieländer standzuhalten.« Einige Vertreter von regierungsunabhängigen Organisationen aus dem Konferenzzentrum kamen der Demonstration entgegen und hielten ihrerseits Transparente in die Höhe. Wenig später versuchten rund 300 Demonstranten an der Spitze des Zuges, vor allem Reisbauern aus Südkorea, die letzte Polizeisperre zu durchbrechen. Sie setzten ihre Fahnenstangen gegen die Polizei ein und benutzten die Absperrgitter als Rammböcke gegen die Polizeikette. Als die ersten Aktivisten die Sperre überwunden hatten, nebelte die Polizei den gesamten Bereich mit Tränengas ein und prügelte die Demonstranten mit Schlagstöcken zurück.

Zwei Ecken weiter sammelten sich die verbliebenen Aktivisten auf der nahegelegenen Durchgangsstraße zu einer Sitzblockade. Wenig später kesselte die Polizei die rund 600 Demonstranten ein und hielt sie dort trotz niedriger Temperaturen die gesamte Nacht und zum Teil auch noch am Sonntagvormittag fest. Rund 900 Protestler wurden festgenommen, darunter einige Prominente wie der Generalsekretär des Bauernnetzwerkes Vía Campesina. Rund 90 Menschen seien verletzt worden, die meisten von ihnen seien in Krankenhäuser eingeliefert worden, hieß es.

Die Medien in Hongkong sprachen von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, wie sie die Stadt noch nicht gesehen habe. Allerdings war ein Großteil des Chaos' vor allem der heillos überforderten Polizei geschuldet, die offenbar immer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Sie hatte den gesamten Stadtteil bis weit in den Sonntag hinein abgesperrt, die U-Bahn wurde geschlossen und alle Gäste in Hotels und auf dem Tagungsgelände wurden aufgefordert, sich nicht fortzubewegen. Ungeachtet dessen konnten die wenigen militanten Aktivisten unbehelligt bis zum Kongresszentrum marschieren und sahen sich am Ende gerade mal wenigen Hundert Beamten gegenüber.

Auch innerhalb des Kongresszentrums kam es immer wieder zu kleinen Protestkundgebungen der akkreditierten Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen. Die einen forderten, »das Thema Wasser raus aus den WTO-Verhandlungen«, andere führten ein Theaterstück zur Raffgier-Mentalität der Industriestaaten auf. Mit dabei immer prominente Vertreter wie der französische Landwirt José Bové oder der philippinische Aktivist Walden Bello von »Focus on the Global South«. Gern gesehen waren die als schwarz-weiß-gefleckte Kühe verkleideten Aktivisten, die Presseerklärungen gegen die EU-Agrarpolitik verteilten.

** Aus: Neues Deutschland, 19. Dezember 2005


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