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Spannungen zwischen Nord und Süd

Die Entwicklungsländer stellten die Glaubwürdigkeit der WTO in Frage

Von Andres Behn, Hongkong*

Vor der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), die vom 13. bis 18. Dezember in Hongkong stattfindet, wird bis zur letzten Minute verhandelt. Denn die Aussichten, dass sich die 149 Mitgliedsländer doch noch auf ein Rahmenabkommen zum Handel mit Agrarerzeugnissen, Industriegütern und Dienstleistungen einigen, stehen schlecht.

»Leere Versprechungen in Sachen Entwicklung, aber freier Zugang für die Industrieländer zu den Märkten im Süden – das ist die Quintessenz des Entwurfs der Abschlusserklärung für die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO in Hongkong«, kritisiert Ailee Kwa, Aktivistin des Netzwerkes Focus on Global South, das die Position vieler Entwicklungsländer und Nichtregierungsorganisationen (NRO) widerspiegelt. WTO-Generaldirektor Pascal Lamy hatte den umstrittenen Text Ende November veröffentlicht, in der Hoffnung, den seit Jahren festgefahrenen Verhandlungen über die weitere Liberalisierung des Welthandels neuen Schub zu geben. Jacques Chai Chomthongdi ergänzt die verheerende Kritik: »Die einzelnen Formulierungen des Entwurfs unterscheiden sich lediglich darin, wie schnell die Deindustrialisierung (in den armen Ländern) stattfinden wird.« Die chinesische Metropole Hongkong, Gastgeber der 6. WTO-Ministerkonferenz, ist ab heute Mittelpunkt der Debatten und Mobilisierungen zum Thema Welthandel. Vor zwei Jahren, im mexikanischen Cancún, konnten linke Bewegungen und Teile der Entwicklungsländer einen Erfolg verbuchen, zumindest aus ihrer Sicht: Die Konferenz scheiterte am Unwillen der EU und der USA, den Forderungen der Entwicklungsländer nach mehr Marktzugang und Abbau der Subventionen im Norden nachzugeben. Damals hatte sich unter Führung von Brasilien und Indien erstmals eine Gruppe von 20 Entwicklungs- und Schwellenländern (G 20) zusammengetan und auf ihre Interessen beharrt.

In Hongkong wird es also erneut um die gleichen Themen gehen: Hauptstreitpunkt sind die Verhandlungen zur Agrarfrage (AoA – Agreement on Agriculture). Vor allem die EU mit Frankreich an der Spitze will bei ihren Importzöllen und Subventionen bleiben, während Agrarexporteure im Süden nicht einsehen, warum sie ihre Märkte immer weiter freigeben sollen, ohne entsprechenden Zugang im Norden zu finden. Beim GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services) geht es um die Liberalisierung beziehungsweise Privatisierung des Dienstleistungssektors. Dazu gehören öffentliche Verkehrsmittel ebenso wie Rentenversicherung oder Wasserversorgung. Insbesondere Großkonzerne haben Interesse daran, ihre Dienste weltweit anzubieten, während (nicht nur) in Entwicklungsländern die Angst umgeht, die ohnehin teure Grundversorgung werde für die arme Bevölkerungsmehrheit unbezahlbar.

Ein ähnlicher Interessensgegensatz existiert beim so genannten TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspekts of Intellectual Property Rights): Länder im Norden, die bereits jetzt die meisten Patente besitzen, wollen diese Eigentumsrechte auf immer neue Produktbereiche wie Pflanzen und Biodiversität ausweiten. Widerstand regt sich unter anderem im medizinischen Bereich, um zu verhindern, dass mittels TRIPS den Profitinteressen einiger Unternehmen gegenüber der Gesundheitsversorgung unzähliger Menschen noch weiterer Vorrang eingeräumt wird.

Neu ist in Hongkong, dass den Verhandlungen über Nicht-Agrargüter, vor allem Industriegüter, (NAMA – Non-Agricultural-Market Access) eine zentrale Bedeutung eingeräumt wird. Die Länder des Nordens versuchen, im Ausgleich für die auf Dauer absehbaren Einbußen in der Landwirtschaft schon jetzt freien Zugang zu den Industriemärkten im Süden zu erhandeln. Dort würde eine solche Politik jede beginnende Industrialisierung schutzlos der Konkurrenz aussetzen.

Neben diesen vier zentralen Bereichen werden in Hongkong noch unzählige weitere Themen debattiert, von denen nur wenige etwas verstehen oder überhaupt wissen, deren Einbindung in weltweit gültige und verbindliche Verträge aber Auswirkungen auf alle hat. Dies ist auch der Fall beim so genannten Investitionsabkommen, das vorsieht, die wirtschaftlichen Kriterien von Großunternehmen der jeweiligen nationalen Gesetzgebung, beispielsweise im Umweltbereich, überzuordnen.

Die Kritiker, die Anti-Globalisierungsbewegung, Gewerkschafter und Bauernbewegungen aus den Ländern des Südens sowie Regierungen einiger Länder, die sich vom Norden über den Tisch gezogen fühlen, bemängeln, dass der Norden zumeist nur Zugeständnisse wolle, statt selbst welche zu machen. Und mit Verweis auf die fraglichen Ergebnisse der zwei vergangenen neoliberalen Jahrzehnte argumentieren sie, dass diese Art von Freihandel nur großen Unternehmen – im Norden wie im Süden – zugute komme, während die Interessen der Menschen, der Umwelt und die soziale Gerechtigkeit unter die Räder kämen. Ihre Forderung ist schlicht: Stoppt die WTO, in jeder Hinsicht.


Doha-Runde

Im November 2001 riefen die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) die »Doha-Runde« ins Leben. Getagt wurde in der gleichnamigen Hauptstadt des Wüstenstaats Katar – abgeschieden von der Weltöffentlichkeit, nachdem es 1999 bei der Ministerratstagung in Seattle zu Massenprotesten gekommen war, die zum Scheitern der Konferenz beigetragen hatten.

Die Doha-Konferenz fand unter dem Eindruck des 11. September 2001 statt. »Mehr Entwicklung ist mehr Sicherheit«, lautete die Formel, weshalb die Doha-Runde zur Entwicklungsrunde ausgerufen wurde. Bis 1. Januar 2005 sollte der weltweite Warenaustausch zum Vorteil der Entwicklungsländer reformiert werden. Doch der Versuch, bei der Konferenz im September 2003 in Cancún ein Rahmenabkommen festzulegen, scheiterte am Widerstand vieler Entwicklungsländer. Streitpunkt war vor allem der Agrarhandel. Aber auch die so genannten Singapur-Themen sind den Entwicklungsländern ein Dorn im Auge.

Diese vor allem von der EU geforderten neuen Abkommen sollen Regelungen über Investitionen, Wettbewerb, Staatsaufträge und Handelserleichterungen enthalten. Insbesondere fordern die Industriestaaten, dass die Schwellenländer ihre eigenen Unternehmen bei der Auftragsvergabe nicht bevorzugen dürfen. Erst am 31. Juli 2004 wurde in Genf das Rahmenabkommen zur Wiederbelebung der Doha-Runde verabschiedet, das der bis Juli 2005 amtierende WTO-Generaldirektor Supachai Panitchpakdi als »historischen Durchbruch« bezeichnete. Seitdem wurde in Genf weiter verhandelt. Die Doha-Runde zu einem Abschluss zu bringen, wird seinem Nachfolger obliegen: Pascal Lamy, ehemaliger EU-Handelskommissar, der seit dem 1. September die Geschäfte der WTO führt. Vorsichtshalber hat Lamy für Hongkong die Erwartungen tief gehängt: Um kein neues Seattle oder Cancún zu erleben, wird nur eine Grundsatzeinigung angestrebt, die baldige weitere Verhandlungen ermöglicht.

Martin Ling


Welthandelsorganisation

Die Welthandelsorganisation (WTO) nahm am 1. Januar 1995 in Genf ihre Arbeit auf und ging aus den so genannten Uruguay-Verhandlungen (1986-94) des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) der Internationalen Handelsorganisation (ITO) hervor. Sie will alle zwischenstaatlichen Handelsbeziehungen und den Dienstleistungsverkehr sowie den weltweiten Schutz des geistigen Eigentums regeln und überwachen. Offizielle Ziele sind die Ausweitung des Welthandels und die optimale Nutzung der weltweiten Ressourcen, um den globalen Wohlstand zu erhöhen. Derzeit hat die WTO 149 Mitglieder, die Aufnahme von Tonga steht bevor. Verhandlungen mit Russland laufen.

Höchstes Organ ist die alle zwei Jahre tagende Ministerkonferenz der Mitgliedstaaten. Halbjährlich tritt der Allgemeine Rat zusammen, der die Umsetzung der Abkommen überwacht. Er umfasst die Streitschlichtungsstelle und das Organ zur Überprüfung nationaler Handelspolitiken. Geregelt wird der globale Handel derzeit über drei Abkommen: dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT 94, dem Abkommen für den Handel mit Dienstleistungen GATS und dem Abkommen über handelsbezogene Aspekte des Schutzes geistiger Eigentumsrechte TRIPS.

ML



* Aus: Neues Deutschland, 13. Dezember 2005


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