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Rettet die WTO!

Ein Beitrag zum WTO-Gipfel in Cancún

"Es braucht die Welthandelsorganisation WTO. Aber sie müsste reformiert werden. Und zwar massiv." Dies ist das Fazit eines Beitrags, den Andreas Zumach anlässlich des bevorstehenden WTO-Gipfels in Mexiko für die Schweizer Wochenzeitung WoZ geschrieben hat und den wir im Folgenden dikumentieren.


Von Andreas Zumach

«Alle werden profitieren, es gibt nur Gewinner, keine Verlierer.» Mit Inbrunst verkündete Peter Sutherland, erster Generalsekretär der Welthandelsorganisation, solche Prognosen, als die WTO im April 1994 in Marrakesch aus der Taufe gehoben wurde. Damals stiess derartiger Zweckoptimismus noch kaum auf öffentlich wirksamen Widerspruch – zumal zeitgleich die «Uruguay-Runde» des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) nach fast achtjährigen Verhandlungen mit einem Abkommen abgeschlossen werden konnte.

Lediglich die britische Hilfsorganisation Christian Aid belegte bereits in Marrakesch mit einer Studie unter dem Titel «Die Armen werden immer ärmer», dass der Anteil der 48 nach Uno-Definition «am wenigsten entwickelten Länder» (LDC) am wachsenden Welthandel stetig zurückging. Ungehört verhallten Forderungen des World Wildlife Fund und von Greenpeace, wonach nicht nur Regierungsvertreter, sondern die Parlamente oder gar die Bevölkerungen der damals 122 Gatt-Staaten über den WTO-Gründungsvertrag und seine Auswirkungen auf internationale Umweltschutzabkommen abstimmen müssten.

Eine breite WTO-kritische Bewegung existierte vor neun Jahren noch nicht, «Globalisierung» war ein fast durchweg positiv besetzter Begriff. Als ärgster Gegner der neuen multilateralen Organisation profilierte sich der rechtskonservative US-Senator Jesse Helms. Er versuchte den Beitritt seines Landes zur WTO zu verhindern mit dem Argument, dass die USA dort – anders als in der Uno – kein Vetorecht hätten und daher Gefahr liefen, «von kleinen, sehr viel unwichtigeren Ländern überstimmt zu werden». Doch schliesslich setzte sich in Washington die Lobby der international konkurrenzfähigen Wirtschaftszweige durch, die sich von der WTO eine Erleichterung bei der Expansion auf die globalen Märkte erhofften. Aber auch die Regierungen fast sämtlicher Gatt-Staaten aus dem Süden versprachen sich Vorteile von einer globalen Institution und dem Umstand, dass sämtliche Vereinbarungen für alle Mitglieder die gleiche Gültigkeit hatten und dass ein geregeltes Verfahren für die Streitschlichtung existierte.

Vertrauen weg

Bereits zwei Jahre später war die Anfangseuphorie verflogen. Die WTO-Ministerkonferenz 1996 in Singapur wurde beherrscht vom Streit über die Einführung von Sozialstandards bei künftigen Handelsliberalisierungen. Insbesondere die USA verlangten, die Löhne und Arbeitsbedingungen in den Ländern des Südens zum Kriterium dafür zu machen, ob Handelspräferenzen zu gewähren seien. Die Länder des Südens lehnten derartige Massnahmen als Protektionismus ab. Eine grosse Mehrheit der WTO-Mitglieder war zudem erheblich verärgert, dass die vier WTO-Elefanten USA, EU, Japan und Kanada – im WTO-Slang auch «Quad-Gruppe» genannt – in Singapur ähnlich wie zuvor in Marrakesch zunächst untereinander ihre gemeinsamen Positionen aushandelten, um diese anschliessend allen übrigen Staaten aufzuzwingen.

Zum grossen Konflikt kam es dann 1999 in Seattle. Viele Länder des Südens hatten inzwischen realisiert, wie sehr sich Teile des Gatt-Abkommens zu ihren Ungunsten auswirkten: zum Beispiel der von ihnen zugesagte Abbau von Importhürden für Industrieprodukte aus den Ländern des Nordens sowie die Öffnung ihres heimischen Finanzdienstleistungs-Sektors (Banken, Versicherungen, Kreditkartenunternehmen et cetera) für multinationale Grosskonzerne. Vergeblich forderten sie in Seattle Nachbesserungen des Abkommens. Verschärft wurde der Nord-Süd-Konflikt durch die anhaltende Weigerung namentlich der EU, der USA und Japans, ihre weltmarktverzerrenden Agrarsubventionen spürbar zu reduzieren (siehe WOZ Nr. 35/03). Die dank einer Indiskretion kurz vor Seattle aufgeflogenen geheimen Vorbereitungen führender Industriestaaten für ein Investitionsschutzabkommen (MAI), das erheblich zulasten der Entwicklungsländer gegangen wäre, schufen zusätzliches Misstrauen zwischen den WTO-Mitgliedern aus Süd und Nord.

Schock von Seattle

Bereits allein wegen der WTO-internen Streitpunkte wäre die Ministerkonferenz von Seattle gescheitert. Dazu bedurfte es gar nicht der tagelangen Proteste, Demonstrationen und Blockaden von über 50 000 WTO-GegnerInnen, mit denen sich in Seattle erstmals eine breite, allerdings auch sehr heterogene globalisierungskritische Bewegung der Öffentlichkeit präsentierte. Von dem «Schock von Seattle» (so der damals amtierende Generaldirektor Michael Moore) hat sich die WTO bis heute nicht erholt. Zumal keiner der damaligen Konflikte inzwischen gelöst wurde, einige sich in den letzten vier Jahren sogar noch verschärft haben und neue Streitthemen hinzugekommen sind. Inzwischen belegen selbst Studien von Weltbank und Internationalem Währungsfonds sowie interne Untersuchungen der WTO, dass sich die optimistische Prognose ihres ersten Generalsekretärs («Alle werden gewinnen») nicht erfüllt hat. Im Gegenteil: Trotz zunehmendem Welthandel (in den letzten neun Jahren ist er mehr als dreimal so stark gestiegen wie die weltweite Güterproduktion) ist die Schere zwischen Reich und Arm seit Gründung der WTO deutlich grösser geworden – sowohl im globalen Massstab wie innerhalb fast sämtlicher Staaten des Südens und auch der meisten Länder des Nordens. Ganz zu schweigen von den Umweltbelastungen durch den Güterverkehr, der ebenfalls erheblich zugenommen hat.

Auch die Streitschlichtungsausschüsse der WTO haben viele Erwartungen nicht erfüllt. Zwar räumen auch Kritiker ein, dass die Existenz dieser Institutionen mit ihren verbindlichen Verfahrensregeln ein Fortschritt ist im Vergleich zur weitgehend rechtlosen Zeit vor der WTO-Gründung. Und anerkannt wird, dass auch der WTO-Riese USA trotz zum Teil massiven Pressionen auf die Schlichter schon bei einigen Verfahren verurteilt wurde. Doch die Statistik zeigt, dass es in den inzwischen fast hundert Schlichtungsfällen überwiegend um Klagen zwischen den vier WTO-Elefanten ging und im Rest der Fälle fast ausschliesslich um Beschwerden eines Industriestaats gegen ein Entwicklungsland. Das heisst, für die Länder des Südens sind die Schlichtungsausschüsse kein geeignetes Instrument, um ihren zahlreichen Klagen über unfaire Handelspraktiken der Industriestaaten Gehör zu verschaffen und Verbesserungen durchzusetzen.

Auf die Strasse

Angesichts dieser Negativbilanz bleibt die Frage: Ist die WTO noch zu retten? Sollten sich Kritikerinnen und Gegner der WTO überhaupt mit dieser Frage befassen, ja sich möglicherweise gar an der Rettung beteiligen? Das könnte notwendig sein, um ein noch grösseres Übel zu verhindern: den Rückfall in bilaterale und regionale Handelspolitiken und -blöcke. Dafür gibt es zunehmend Anzeichen. Gerade auch in der Politik der USA. In einem solchen Szenario würden die schwachen Länder noch stärker von den Wirtschaftsriesen dominiert als innerhalb der WTO. Die Rettung der WTO ist allerdings nicht zu haben ohne eine Veränderung ihrer Verfahrensweisen und die Korrektur einiger besonders problematischer Abkommen. Zum Beispiel sollten die Fristen für den Abbau von Zöllen im Süden verlängert werden. Dies wird allerdings nur gelingen, wenn die WTO-kritische Bewegung die Auseinandersetzung rechtzeitig und in erster Linie an den Orten führt, wo überhaupt noch Einfluss zu nehmen ist: nicht an den grossen Ministerkonferenzen der WTO in Seattle, Doha oder Cancún, wo sich zwar die Existenz der Bewegung gegenüber den Weltmedien dokumentieren lässt, in der Sache aber meist nichts mehr bewegt werden kann. Sondern viele Monate vor diesen Grossereignissen in den nationalen Öffentlichkeiten der WTO-Staaten und als wohlorganisierte Lobby gegenüber den Parlamenten. Damit könnte Einfluss genommen werden auf die Positionen, mit denen die Regierungen sich dann auf die Ministerkonferenzen oder an den Verhandlungstisch in der Genfer WTO-Zentrale begeben. Eine derartige Einflussnahme hat es abgesehen von der erfolgreichen Lobbykampagne der Bauernverbände in der EU und den USA gegen Subventionskürzungen zumindest in den Industriestaaten noch zu keinem der Themen gegeben, zu denen die WTO bisher Vereinbarungen getroffen hat.

Beim Thema öffentliche Dienstleistungen besteht nun erstmals die Chance, dass Liberalisierungsmassnahmen, auf die sich zumindest Brüssel und Washington bereits im Grundsatz verständigt hatten, nicht – oder zumindest nicht im geplanten Ausmass – von der WTO beschlossen werden.

Aus: WoZ, 4. September 2003


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