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Doha-Runde: Süden verliert in allen Bereichen

Welthandelsrunde vor dem Scheitern? Krisengipfel der WTO in Genf

Die Verhandlungen über eine Liberalisierung des Welthandels gehen nach mehreren erfolglosen Versuchen in eine neue Runde. Rund 50 Minister der 150 Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) haben sich [für den 29. Juni 2006] in Genf angesagt. Hauptstreitpunkt sind nach wie vor die hohen Subventionen, die die EU und die USA ihren Landwirten für Produktion und Export ihrer Erzeugnisse zahlen.
Über den Krisengipfel sprach für das "Neue Deutschland" Martin Ling mit dem WTO-Experten des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) Michael Frein. Wir dokumentieren im Folgenden dieses Interview.



ND: Wer hat den WTO-Krisengipfel in Genf anberaumt und warum?

Frein: Anberaumt hat ihn der WTO-Generalsekretär Pascal Lamy. Aus zwei Gründen: Der eine ist, dass die WTO sich vorgenommen hat, bis zur Sommerpause Ende Juli ihre Verträge soweit unter Dach und Fach zu bekommen, dass sie im nächsten Jahr unterschriftsreif sind. Und die Zeit wird knapp, weil USA-Präsident George W. Bush Ende 2006 das besondere Verhandlungsmandat des Kongresses für die WTO-Gespräche verliert. Das ist der zweite Grund für den Krisengipfel, denn ohne dieses Mandat muss Bush jeden einzelnen Schritt vom Kongress bewilligen lassen. Das würde den Verhandlungsprozess erheblich verzögern. Lamy will bis Ende Juli die Modalitäten festklopfen und bis Ende des Jahres die Feinheiten abstimmen. Der Ratifizierungsprozess bräuchte noch ein weiteres halbes Jahr, was dann gerade noch passen würde.

Bei den Verhandlungen stehen EU, USA und das relativ neu gegründete Schwellenländerbündnis G 20 im Zentrum. Wie verlaufen die Fronten in diesem Dreieck?

Vor allem im Landwirtschaftsbereich äußerst kompliziert. Das Grundziel, Liberalisierung des Marktzugangs, wird von allen im Dreieck geteilt, aber das Ausmaß ist umstritten. Die EU hat angeboten, ihre Agrarzölle um 39 Prozent zu senken, die USA fordern von der EU aber 66 Prozent und die G 20 54 Prozent. Die EU tut sich mit diesen Forderungen schwer, weil wichtige Länder wie Frankreich ihr Veto einlegen.

Welche Rolle spielen denn die Interessen der Gruppe der ärmeren Entwicklungsländer G 33 derzeit? Ihr Problem ist ja weniger der Marktzugang als vielmehr der Schutz der eigenen Produktion.

Da sind keine wirklichen Verhandlungsfortschritte zu sehen. Der Stand der Dinge ist, dass die G 33 einen Vorschlag gemacht hat, wie sie die speziellen Produkte, die für Ernährungssicherheit und ländliche Entwicklung wichtig sind, schützen möchte. Diese Vorschlag würde den G 33-Ländern das notwendige Maß an Flexibilität gestatten. Die USA haben bereits signalisiert, dass sie mit einem solchen Vorschlag nicht einverstanden sind. Sie wollen Schutzmöglichkeiten nur sehr eingeschränkt gestatten. Zu viele Ausnahmen würden das Prinzip der Marktöffnung verletzen, argumentieren sie.

Hier gibt es einen massiven Konflikt, der auch noch die aus entwicklungspolitischer Sicht unschöne Note hat, dass andere Entwicklungsländer wie Thailand im Grunde eine sehr ähnliche Position wie die USA vertreten.

Der Süden zieht in der WTO also nicht an einem Strang?

In den Agrarverhandlungen jedenfalls nicht. Die G 20 versucht zwar einen Ausgleich, denn in der G 20 sind auch Länder wie Indien, die stärker an Schutzmechanismen interessiert sind. Letztlich aber setzen sich bisher die Agrarexporteure durch. Länder wie Brasilien haben jedoch ganz andere Interessen als kleine afrikanische Länder. Die brasilianische Agroindustrie will exportieren und braucht dafür offene Märkte. Afrikanische Länder wollen ihre Kleinbauern schützen. Das heißt, sie wollen ihre Märkte möglichst nicht öffnen.

In anderen Verhandlungsbereichen stellt sich die Situation anders dar. Bei Industriezöllen etwa wehren sich nahezu alle Entwicklungsländer gegen weitreichende Marktöffnungen. Sie wollen ihre eigenen, im Aufbau befindlichen Industrien vor den Global Players schützen und sich Zollschutz als Instrument für die eigene wirtschaftliche Entwicklung nicht einfach aus der Hand schlagen lassen. Ähnlich sieht es bei Dienstleistungen aus, wo bei den allermeisten Ländern des Südens auch keine rechte Liberalisiserungseuphorie aufkommen will.

Brasiliens Präsident Lula propagiert eine neue Geografie des Handels, die den Süd-Süd-Handel stärken soll. Spielen die ärmeren Länder dabei eine Rolle?

Die neue Geografie des Handels scheint ihre Grenzen offensichtlich an denjenigen Interessengruppen innerhalb Brasiliens zu finden, die starke Exportinteressen haben, eben die Agroindustrie. Die kümmert sich weniger darum, inwieweit der Schutz von Kleinbauern wichtig ist.

Was ist aus dem Entwicklungspaket geworden, das in Hongkong für die 32 am wenigsten entwickelten Länder (LDCc) geschnürt worden ist?

Nichts. Verhandelt wird jetzt vor allem über Landwirtschaft und Industriezölle. Daneben geht es noch um Dienstleistungen. Das Entwicklungspaket ist so schnell untergetaucht, wie es in Hongkong aufgetaucht ist. Von der Entwicklungsrunde, wie sie 2001 in Doha zu Beginn der seitdem laufenden WTO-Verhandlungen ausgerufen wurde, ist nichts zu spüren. Tatsächlich sind die Interessen und Bedürfnisse der Entwicklungsländer hinten angestellt. Von der Logik der Marktöffnung profitieren zuvorderst die Industrieländer: ob im Bereich Dienstleistungen, Agrar oder Industrie. Bei Landwirtschaft gewinnen noch einige größere Agrarexporteure des Südens. Entwicklungsländer mit nur geringen oder gar keinen Agrarexportinteressen drohen die großen Verlierer zu werden.

Was erwarten Sie jetzt vom Krisengipfel in Genf?

Es ist ein bischen wie Kaffeesatz lesen. Das WTO-Sekretariat hat im Agrarpapier, das jetzt auf dem Tisch liegt, 738 als umstritten gekennzeichnete Passagen gezählt. Bei Industriezöllen ist man offenbar noch weiter voneinander entfernt. Es gibt also Grund zu hoffen, dass es in Genf keine Einigung gibt. Damit wäre die Entwicklungsrunde, zumindest vorerst, gescheitert. Für die allermeisten Entwicklungsländer, insbesondere für ärmere Länder, wäre dies eine gute Nachricht. Ein Abschluss zum jetzigen Zeitpunkt würde den Welthandel noch ungerechter machen, als er ohnehin schon ist.

Doha-Runde

Im November 2001 riefen die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) die »Doha-Runde« ins Leben. Getagt wurde in der gleichnamigen Hauptstadt des Wüstenstaats Katar – abgeschieden von der Weltöffentlichkeit, nachdem es 1999 bei der Ministerratstagung in Seattle zu Massenprotesten gekommen war. Die Doha-Konferenz fand unter dem Eindruck des 11. September 2001 statt. »Mehr Entwicklung ist mehr Sicherheit«, lautete die Formel, weshalb die Doha-Runde zur Entwicklungsrunde ausgerufen wurde. Bis 1. Januar 2005 sollte der weltweite Warenaustausch zum Vorteil der Entwicklungsländer reformiert werden. Doch der Versuch, bei der Konferenz 2003 in Cancún ein Rahmenabkommen festzulegen, scheiterte am Widerstand vieler Entwicklungsländer. Streitpunkt war vor allem der Agrarhandel. Aber auch die so genannten Singapur-Themen sind den Entwicklungsländern ein Dorn im Auge. Diese vor allem von der EU geforderten neuen Abkommen sollen Regelungen über Investitionen, Wettbewerb, Staatsaufträge und Handelserleichterungen enthalten. Erst am 31. Juli 2004 wurde ein Rahmenabkommen zur Wiederbelebung der Doha-Runde verabschiedet. Doch seitdem haben die zerstrittenen 150 WTO-Mitglieder – davon 100 Entwicklungsländer – keinen substanziellen Fortschritt erzielt. Auch der Welthandelsgipfel 2005 in Hongkong enttäuschte die Erwartungen.
Die WTO wurde am 1. Januar 1995 gegründet und ging aus den so genannten Uruguay-Verhandlungen (1986-94) des Allgemeinen Zoll und Handelsabkommens (GATT) der Internationalen Handelsorganisation (ITO) hervor. Das höchste Organ ist die alle zwei Jahre tagende Ministerkonferenz aller Mitgliedstaaten. Halbjährlich tritt der Allgemeine Rat zusammen, der die Umsetzung der Abkommen überwacht. Er umfasst die Streitschlichtungsstelle und das Organ zur Überprüfung nationaler Handelspolitiken.
ML


* Aus: Neues Deutschland, 29. Juni 2006


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