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Zum Wohle der Unternehmen im Norden

WTO-Verhandlungen in Bali: Der indische Aktivist Biraj Patnaik sieht die Ernährungssicherheit in Gefahr *


Ein Streit über Indiens subventioniertes Ernährungsprogramm bleibt Stolperstein bei den Verhandlungen auf der bis Freitag laufenden Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Biraj Patnaik von der »Right to Food Campaign«, einem Netzwerk indischer Nichtregierungsorganisationen, das sich für das Recht auf Nahrung für alle einsetzt, hält dagegen EU und USA für die Blockierer. Mit dem Aktivisten sprach auf Bali Andreas Behn.


Die Verhandlungen auf der WTO-Ministerkonferenz in Bali kommen nicht voran. Vor allem Indien wird dafür verantwortlich gemacht. Warum?

Die EU und die USA versuchen bei diesen Verhandlungen, die Länder des Südens zu spalten. Sie machen die Annahme des Maßnahmenbündels zur Stärkung der ärmsten Staaten davon abhängig, dass die Entwicklungsländer den beiden anderen Teilabkommen des Bali-Pakets – den Handelserleichterungen und dem Agrarabkommen – zustimmen. Dadurch ist der Druck, dem vorliegenden Kompromissvorschlag beim umstrittenen Thema Nahrungsmittelreserven zuzustimmen, enorm hoch. Dieser Vorschlag sieht eine Erlaubnis von staatlichen Subventionen zur Bildung von Lebensmittelreserven lediglich für vier Jahre vor.

Warum ist dieser Punkt so wichtig?

Aus indischer Sicht ist dies ein großes Problem bei der Versorgung der Bevölkerung in Krisenzeiten. Indien, das auf der Ausweitung staatlicher Subventionen zur Ernährungssicherheit besteht, wird deswegen als Buhmann dargestellt und für die Schwierigkeiten bei der Verabschiedung des Bali-Pakets verantwortlich gemacht.

Hat die indische Regierung hierbei Bündnispartner?

Bei dem Vorstoß zur Ernährungssicherheit handelt es nicht um eine indische Initiative. Er ging von den 46 Entwicklungsländern der G33-Gruppe (Staaten mit hohem Anteil an bäuerlicher Bevölkerung, d. Red.) gemeinsam aus. Vielen dieser Staaten würde der jetzige Verhandlungsstand künftig verbieten, ihre Bauern zu unterstützen. Es handelt sich also um einen Interessenkonflikt zwischen den ärmeren Staaten und den großen Unternehmen des Nordens.

Welche Haltung nehmen die anderen G33-Staaten ein?

Bisher stehen die meisten noch zu dem ursprünglichen Vorschlag, das Verbot der Bildung von Nahrungsmittelreserven zu staatlich festgelegten Preisen dauerhaft aufzuheben. Doch hinter den Kulissen wird heftig Druck ausgeübt, insbesondere seitens der USA und der EU. Sie benutzen finanzielle Hilfszusagen an die ärmsten Staaten, um diese dazu zu bewegen, mit der Position der G33 zu brechen. Aus meiner Sicht sind es die USA und die EU, die einen Konsens über das Bali-Paket verhindern.

Haben nichtstaatliche Gruppen Einfluss auf die Verhandlungen?

Problematisch ist, dass die Verhandlungen zumeist hinter verschlossenen Türen geführt werden. Das stärkt die Position der großen Unternehmen aus den reichen Ländern. Es geht um Lobbyarbeit, bei der die Stimme der Zivilgesellschaft, von Bauernorganisationen oder Frauengruppen einfach nicht gehört wird.

Dem brasilianischen WTO-Chef Roberto Azevedo zufolge ist ein Konsens in Bali im Interesse aller Länder, insbesondere der armen Staaten. Wie beurteilen Sie dies?

Für die Entwicklungsländer beinhaltet das Bali-Paket zwei große Nachteile: Einerseits werden wir von den Industriestaaten gezwungen, dem Themenblock der Handelserleichterungen zuzustimmen – eine Öffnung unserer Märkte, die vor allem den Unternehmen im Norden nützt. Andererseits sollen wir auf unser Recht verzichten, die einheimischen Bauern mit Subventionen zu unterstützen. Das ist vollkommen ungerecht.

Welche Probleme beschert der Freihandel den Ländern des Südens?

Zuerst muss gesagt werden, dass echter Freihandel noch nie existiert hat und wohl auch nie existieren wird. Freihandel ist viel mehr ein Druckmittel, um Ländern wie Indien Bedingungen aufzuerlegen. Unter anderem sollen die Entwicklungsländer ihre Märkte für Produkte öffnen, die in den Industriestaaten hoch subventioniert werden. Zum Beispiel ist Baumwolle von US-Farmern konkurrenzfähiger als die indischer oder westafrikanischer Farmer. Auch wenn die USA eigentlich dazu verpflichtet sind, die Subventionen zu kappen, geschieht dies nicht. Wie bei den europäischen Exportsubventionen, die offiziell abgeschafft wurden, gelingt es den Industriestaaten immer wieder, ihre Staatshilfen so umzudefinieren, dass sie nicht unter die Verbote der WTO fallen. Aber es bleiben Subventionen und sie bringen die Landwirte im Norden immer wieder in eine bessere Marktposition.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Dezember 2013


Ungerechtfertigt und unverschämt

Niema Movassat, Entwicklungspolitiker der Fraktion Die Linke im Bundestag, erklärte am Mittwoch zum drohenden Scheitern des sogenannten Bali-Pakets auf der 9. Welthandelskonferenz und den einseitigen Schuldzuweisungen an Indien durch USA und EU:

Die Mahnungen und Kritik an Indien sind ungerechtfertigt und unverschämt. Im Jahr 2011 starben bis zu 1,5 Millionen Kinder in Indien an den Folgen von Unterernährung. Der von der indischen Regierung geplante Aufbau staatlicher Nahrungsmittelreserven verdient angesichts dieser monströsen Zahlen die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Die Nahrungsmittelsicherheit der eigenen Bevölkerung ist der indischen Regierung wichtiger als die Handelsinteressen transnationaler Konzerne und ihrer Regierungen. Dafür muß man ihr angesichts des internationalen Drucks Respekt zollen, obwohl es sich eigentlich um eine Selbstverständlichkeit handeln sollte.

Die Bundesregierung will in Zukunft mit Schwellenländern wie Indien keine Entwicklungszusammenarbeit mehr betreiben, obwohl in diesen die meisten Armen weltweit leben. Im Chor mit den USA und der EU torpediert sie jetzt außerdem die eigenständige Hungerbekämpfungsstrategie der indischen Regierung. (…)




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