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Arznei Mensch

JEAN ZIEGLER

Von Hans Peter Gansner *

Als Jean Ziegler letztes Jahr vom Ecowin-Verlag in Salzburg angefragt wurde, ob er ein neues Manuskript habe - denn der Verlag wolle dem Publikum zeigen, wer hinter der inzwischen berühmten Rede »Der Aufstand des Gewissens« stehe, die zur Eröffnung der Salzburger Festspiele gehalten werden sollte und von den Veranstaltern im letzten Moment abgesagt wurde - hatte der streitbare Zeitgenosse noch ein einziges Buch frei, dessen Rechte zu haben waren: seinen längst vergriffenen Klassiker »Die Lebenden und die Toten«, der erstmals 1975 bei Luchterhand erschienen war. Überarbeitet und aktualisiert und zudem um die globalisierungskritische Rede ergänzt, ist es jetzt also wieder verfügbar.

In seinem Standardwerk stellt Ziegler den archaischen Nagô-Kult, der ursprünglich aus Afrika stammt, sich dann aber auch in Brasilien ausbreitete, dem zynischen und verlogenen Umgang der westlichen Medizin mit dem Tod entgegen. Die Sterbens- und Todesrituale der Yoruba, eines in Nigeria, Benin und Ghana beheimateten Volkes, erlauben es nach Ziegler durch äußerst subtile Techniken eine Verbindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits herzustellen, die sowohl die Sterbenden als auch die Überlebenden davor schützen, an der Unerträglichkeit der »engen Pforte« (André Gide), durch die wir alle gehen müssen, nicht zu verzweifeln.

Ziegler hat selbst in Brasilien an diesen tage- und nächtelang dauernden, beeindruckenden Ritualen teilgenommen und beschreibt sie hier mit wissenschaftlicher Akribie wie auch im literarischen Stil eines Balzacs - vor allem aber mit einer persönlichen Betroffenheit, die den engagierten Genfer Autor so wohltuend von der Kaltschnäuzigkeit der bürgerlichen Wissenschaft abhebt.

In der Behandlung von Sterbenden und der Haltung gegenüber dem Tod macht der Soziologe eine fundamentale Kapitalismuskritik fest. Während bei den afrikanischen Yoruba der Tod eine Art umgekehrte Schöpfung darstellt und der Sterbende deshalb unter Anteilnahme der ganzen Bevölkerung mit größtem Respekt begleitet wird, versuchen die »Thanatokraten«, wie Ziegler die kapitalistischen Herren des Todes nennt, mit ihrer Definition des Todes diesen zu versachlichen und gleichzeitig zu tabuisieren. Mit immer neuen Methoden, Gesetzen und Paragrafen banalisieren sie die Einzigartigkeit eines jeden Menschenlebens. Gleichzeitig wird der Tod systematisch aus dem gesellschaftlichen Alltag verdrängt, werden die Sterbenden sowie ihre Angehörigen im Ungewissen gelassen, welche wirtschaftlichen Faktoren über Sein oder Nichtsein entscheiden.

Und das alles unter dem Deckmantel der Behauptung, im besten Falle noch in der naiv fälschlichen Annahme, die reine Tatsache der Existenz des Todes verliere damit ihren Schrecken. Nun, um zu ahnen, dass damit genau das Gegenteil erreicht wird, muss man wohl nicht Freudianer sein. Dahinter aber versteckt sich im Kapitalismus eine abgrundtiefe Verachtung des Menschen als einzigartigem Individuum, das für das Ausbeutungssystem nur so lange von Bedeutung ist, als es Rendite abwirft: Von der Wiege bis zur Bahre ist der Mensch im (kapitalistischen) System nur eine Ware.

Ziegler nimmt zwar jeden Herbst - wenn es ihm sein dicht gedrängter Terminkalender erlaubt - an den liturgischen Zyklen des Nagô-Kultes der Genfer Diaspora teil und hält es diesbezüglich mit dem französischen Soziologen Roger Bastide, dessen Andenken dieses wohl persönlichste Werk Zieglers gewidmet ist. Trotzdem hat er selbst, wie er gesteht, Angst vor dem Sterben und dem Tod. Was anderes wäre ja wohl auch nicht menschlich. Aber, so Ziegler, »der Mensch kann zur Arznei des Menschen« werden, wie es in einer afrikanischen Volksweisheit heißt. Und zwar, wenn er sich der Herrschaft der kapitalistischen »Thanatokraten« entzieht und sich »durch das klare Bewusstsein von seinem notwendigen Tod von der Fremdbestimmung befreit«. Ziegler schließt aus seinen Forschungen und Reflexionen: »Nur das verkörperte Wort, die Revolution, der gemeinsame Aufstand von Frauen und Männern, die entschlossen sind, ihre Freiheit und ihre Gleichheit zu erkämpfen wird dem Tod seinen Sinn wiedergeben«.

Abschließend sei noch erwähnt: Als Ziegler Abgeordneter der Schweizer Sozialdemokraten im Nationalrat war, schwänzte er die Sitzungen der Herbstsession, um am Nagô-Kult teilzunehmen, was ihm in den eigenen Reihen Kritik einbrachte und aus dem bürgerlichen Lager Hohn und Spott. Ziegler konnte dies jedoch nicht irritieren. Er hat eben Charakter.

Jean Ziegler: Die Lebenden und der Tod. Ecowin Verlag: Salzburg 2011 (Neuauflage), 312 S., geb., 19,95 €; ISBN-13: 9783711000187; ISBN-10: 3711000185

* Aus: neues deutschland, 14. März 2012 (Beilage zur Leipziger Buchmesse)


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