"Sie haben mehr Macht als je ein Kaiser besaß"
Jean Ziegler über sein neues Buch "Das Imperium der Schande"
Das folgende Interview* entstand anlässlich der Herausgabe des jüngsten Buches von Jean Ziegler und des "Welternährungstags" 2005, der am 16. Oktober begangen wurde. Jean Ziegler ist UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Im Mai 2002 sprach Jean Ziegler auf einer großen Friedenskundgebung in Berlin anlässlich des damaligen Besuchs von George W. Bush: "Globalisierung ist tödlicher Terror".
Sie gelten als einer der scharfzüngigsten Kritiker des »globalisierten Raubtierkapitalismus«, sie
haben Großbanken und Multis attackiert und für die Hungernden gestritten. Ist Ihnen das in die
Wiege gelegt worden?
Nein, keineswegs. Mein Engagement geht auf Grunderlebnisse in Afrika zurück. Unmittelbar nach
der Ermordung Patrice Lumumbas arbeitete ich einige Zeit als Angestellter der UNO-Behörde für
Kongo und erlebte dort eine für mich bis dahin unvorstellbare Not und Unterdrückung. Die UNO war
im Hotel Royal untergebracht. Unter den Fenstern des Royal wiederhlote sich allabendlich, bei
Einbruch der Dunkelheit, das gleiche Schauspiel. Lange Züge hungernder Kinder aus den Vororten
von Kinshasa bewegten sich auf die von den Gurkhas bewachte Barrikade zu. Die schwarzen Kinder
durften die weiße Enklave nicht betreten; sogar das Betteln war ihnen verboten. Hinter dem Zaun:
die Gurkhas. Einer von ihnen richtet manchmal seine Maschinenpistole in den Himmel. Eine Salve
krachte, doch die abgemagerten Gestalten setzten ihren Weg fort. An der Absperrung angelangt,
brachen die meisten zusammen. Andere warfen sich in einem letzten Aufbäumen ihrer Kräfte gegen
den Stacheldraht und blieben darin hängen; wieder andere fielen mit ausgestreckten Armen zurück
auf die Straße. Bis an mein Lebensende werde ich den Blick ihrer Augen nicht vergessen.
Die Kinder starben unter aller Augen?
Ja. Wie ein feiner Regen rieselte sanfte Musik die weißen Fassaden des Hotelgebäudes hinunter,
unter den Kronleuchtern im Innern gab irgendein Botschafter für irgendeinen Geschäftsmann aus
irgendeinem europäischen Land einen Empfang. Dieser erhob sein Champagnerglas und lobte in
salbungsvollen Worten die zivilisatorische Mission des Westens im Kongo. Die Nase an das Fenster
gedrückt, sah ich die Kinder sterben. Die unerschütterlichen Gurkhas, die mit dem Rücken zum
Gebäude standen, beschränkten sich darauf, den kleinen Köpfen, die in gewissen zeitlichen
Abständen und mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung über den Barrikaden
auftauchten, mit dem Gewehrkolben einen Schlag zu versetzen. Andere Soldaten, die nur mit einem
Dolch ausgerüstet waren, befreiten die sterbenden Kinder aus dem Stacheldraht, in den sie sich
verheddert hatten, indem sie ihre Finger mit der Messerklinge lösten. Anschließend warfen sie die
leblosen Körper auf die Straße. In diesem Augenblick habe ich mir geschworen, nie mehr – auch
nicht zufällig – auf der Seite der Henker zu stehen.
Als junger Mann wollten Sie nach Kuba gehen.
Es war eine Nacht im April 1964. Ein Jahr zuvor hatte ich mit der Gruppe Clarté Kuba bereist. ich
wollte dorthin zurückkehren, um dort zu leben. Die von Che Guevara geleitete kubanische
Delegation auf der ersten Genfer Zuckerkonferenz war im Hotel Intercontinental auf dem Petit-
Saconnex abgestiegen. Die zwölf Kubaner teilten sich drei Zimmer im siebten Stock. Ich ersuchte
sie um ein Gespräch. Wir diskutierten die ganze Nacht.
Im Osten zog über dem Montblanc der Morgen herauf. Unten erwachte die Stadt. Um die in
milchiges Licht getauchte Seebucht erloschen nach und nach die farbigen Neonschilder der Banken,
Versicherungen und berühmten Juweliere. In seiner olivgrünen Uniformjacke stand der hagere Che
an seinem Fenster. Er rief mich zu sich und sagte mit seiner immer ein wenig heiseren Stimme:
»Siehst du diese Stadt? ... Hier bist du im Gehirn des Ungeheuers! Was willst du mehr?... Dein
Schlachtfeld ist hier.«
Seine schroffe und definitive Ablehnung meines Wunsches auszuwandern, kränkte mich. Ich war
überzeugt, dass der Argentinier an meinem revolutiönären Engagement oder an meinen Fähigkeiten
zweifelte. Doch Che Guevara hatte natürlich recht.
In Ihrem Buch »Das Imperium der Schande« beschreiben Sie jenes Monster als »eine neue Klasse
von Feudalherrschern, die Kosmokraten der großen Konzerne«.
Diese neuen Feudalherren haben mehr Macht als je ein Kaiser, König oder Papst besessen hat.
2004 kontrollierten die 500 größten Konzerne 52 Prozent des Weltsozialprodukts. Ihre einzige
Handlungs-Maxime ist die Profitmaximierung. Ihre Profitgier ist grenzenlos. Ihr Wirtschaftskrieg unter
sich und gegen die Völker ist permanent. Sie haben ein weltweites System der strukturellen Gewalt
entwickelt. 140 Jahre vor Christi Geburt ließ der römische Feldherr Cornelius Scipio Aemilianus
Karthago dem Erdboden gleichmachen und viele seiner 700 000 Bewohner ermorden. Doch nach
seiner Rückkehr nach Rom war er wieder dem ius gentium unterworfen, dem Rechtssystem, das die
Beziehungen von Rom zu anderen Völkern regelte. Doch heute herrscht die extreme Gewalt
permanent. Es handelt sich nicht mehr, wie es Max Horkheimer verstand, um eine vorübergehende
»Verfinsterung der Vernunft«.
Warum haben Sie als Ausgangspunkt Ihrer Kritik die Französische Revolution gewählt?
Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und der damit verbundenen Zurückweisung des
Marxismus ist eine große geistige Leere entstanden – auch bei den Linken. Ein großer Teil des
europäischen Kollektivbewusstseins wurde verschüttet. Das Buch will den wirklichen Horizont der
Geschichte zeigen, die große Periode der Aufklärung, die die Menschenrechte postulierte, von
denen viele ihrer Verwirklichung harren – das Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Würde, aber nicht
zuletzt auch das in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung der USA fixierte Recht auf das
Streben nach Glück. Im 18. Jahrhundert war das pure Utopie, doch heute verfügt die Menschheit
auch über die materiellen Mittel, diese Rechte zu verwirklichen. Doch zugleich haben Hunger und
Elend heute ein schrecklicheres Ausmaß angenommen als in jeder anderen Epoche der
Menschheit. Während die Französische Revolution dem Feudalsystem den Todesstoß versetzte, hat
jetzt eine Refeudalisierung der Welt eingesetzt: die transkontinentalen Konzerne dehnen ihre Macht
über den ganzen Planeten aus.
Sie rufen immer wieder die französischen Revolutionäre Babeuf, Saint-Just und Jacques Roux als
Kronzeugen gegen die neuen Herrscher der Welt an.
Die Französische Revolution hatte ja schon eine eigene Linksopposition – Quellen, die ich wieder
freigelegt habe. Saint-Just proklamierte, dass zivile und politische Menschenrechte nichts taugen
ohne soziale und wirtschaftliche Menschenrechte. Roux rief dem Konvent entgegen: »Die Freiheit ist
ein eitles Hirngespinst, wenn eine Klasse von Menschen die andere ungestraft aushungern kann.«
Das gilt heute mehr denn je. In Argentinien, Brasilien und anderen Ländern Südamerikas gibt es
Demokratie, aber der Hunger nimmt zu. Das heißt nicht, dass Demokratie und politische
Menschenrechte falsch, sondern dass sie vollkommen ungenügend sind. Deshalb ist der Kampf um
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unverzichtbar.
Welche Hoffnungen setzen Sie dabei in die Vereinten Nationen?
Die UNO hat im Laufe der Jahrzehnte eine Vielzahl wichtiger Konventionen verabschiedet, gerade
auch über Menschenrechte. Wenn man sich die Texte anschaut, ist das humanitäre Recht in
ständiger Entwicklung begriffen. Aber in der Realität werden immer mehr Schranken des
internationalen Rechts niedergerissen. Jüngstes Beispiel: Der neue USA-Botschafter John Bolton
will die Folter-Konvention den neuen USA-Praktiken des Kampfes gegen den Terror anpassen. Die
Folter soll neu definiert werden. Nur die bleibende Verstümmelung eines Gefangenen soll verboten
bleiben. Die UNO selbst ist heute äußerst geschwächt. Die neuen Feudalherren sind weder auf die
Staaten noch auf die UNO angewiesen. Welthandelsorganisation, Weltbank und Internationaler
Währungsfonds genügen ihnen als willige Söldner ihrer Strategien. In diesem Jahr feierten die
Vereinten Nationen ihren 60. Geburtstag. Aber es kann durchaus sein, dass sie ihn nicht lange
überleben.
Weshalb haben Sie dennoch das Amt eines UNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf
Nahrung übernommen?
Gewiss, die Einflussmöglichkeiten dieses Amtes sind gering. Aber ich habe auch eine Chance
gesehen, die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte gleichsam als Waffe gegen das
Imperium einzusetzen. Jedenfalls kann ich mit meinen UNO-Berichten – den fünften werde ich am
27. Oktober in New York vorlegen – Transparenz über die Folgen der Herrschaft der neuen
Feudalherren schaffen. Die Anzahl der Menschen, die unter Hunger leiden, steigt von Jahr zu Jahr.
Ob jüngst in Niger, der Mongolei oder den besetzten palästinensischen Gebieten – überall habe ich
das tägliche Massaker des Hungers erlebt. 100 000 Menschen sterben täglich an Hunger oder
seinen unmittelbaren Folgen – meist in den 122 Ländern der Dritten Welt, in denen 4,8 Milliarden
Menschen leben. Hunger ist zu einer Massenvernichtungswaffe geworden. Dabei sagt derselbe
Welternährungsbericht, der diese Opferzahlen vorlegt, dass die Weltlandwirtschaft in ihrer heutigen
Entwicklungsstufe ohne Problem 12 Milliarden Menschen, das Doppelte der gegenwärtigen
Weltbevölkerung, ernähren könnte – bei 2700 Kalorien pro Tag. Es gibt keine Fatalität. Ein Kind, das
an Hunger stirbt, wird ermordet. Die Weltordnung des globalisierten Raubtierkapitalismus ist nicht
nur mörderisch. Sie ist auch absurd. Sie tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit.
Glauben Sie, dass das Millenniumsziel – Halbierung des Anteils der Weltbevölkerung, der unter
extremer Armut und Hunger leidet – bis 2015 erreicht wird?
Nein. Armut und Hunger nehmen immer mehr zu anstatt zurückzugehen. Sehen Sie sich den
Ansturm der Afrikaner auf die spanische Exklave Melilla an. Ob in Niger, Mali, Senegal oder
Mauretanien – viele Familien oder Dörfer sehen keinen anderen Ausweg aus ihrer Misere, als ihre
jungen Männer nach Europa zu schicken. Sie sammeln Geld für sie, in der Hoffnung, das sie den
langen Weg durch die Sahara schaffen und die Stacheldrahtzäune überwinden können.
Was sollte die EU zur Lösung der Flüchtlingskrise tun?
2004 haben die Industriestaaten ihren Bauern 349 Milliarden Dollar Produktions- und
Exportsubventionen bezahlt... fast eine Milliarde Dollar pro Tag! Auf dem Markt in der
senegalesischen Hauptstadt Dakar kann man europäisches Obst und Gemüse zu einem Drittel des
Preises der einheimischen Früchte und des Gemüses kaufen. Die europäische Dumpingpolitik
verwüstet die afrikanischen Agrarwirtschaften. Die EU sollte ihre riesigen Agrarsubventionen
abschaffen, die Importschranken für Waren und Güter aus afrikanischen Ländern senken und die
Schulden der Entwicklungsländer streichen. Die Menschen müssen in ihren Ländern ein
Auskommen in Würde finden – aber nicht durch Almosen. Während die Industrieländer 2003 der
Dritten Welt staatliche Entwicklungshilfe im Umfang von 54 Milliarden Dollar gewährten, mussten die
gleichen Länder 436 Milliarden Dollar als Schuldendienst überweisen. Es kommt also nicht so sehr
darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen.
Als UNO-Beauftragter haben Sie nicht selten mit jenen neuen Feudalherrschern debattiert.
Sie preisen alle die gleichen Instrumente: Man muss privatisieren. Sie scheuen Fülle und
Verfügbarkeit der Güter, das beeinträchtigt den Maximalprofit. Sie wollen sich nun auch der Natur
bemächtigen, der Wasserquellen vor allem, und Leben – die genetischen Eigenschaften der
Pflanzen und Tiere – zu ihrem alleinigen Nutzen patentieren lassen.
Die Kosmokraten haben selbst keine Truppen. Doch sie besitzen – so schreiben Sie – de facto
einen bewaffneten Arm: den USA-Staatsapparat.
Der Raubüberfall auf Irak von März 2003 zeigt das ganz deutlich. Schauen wir uns nur das Personal
an. Condoleezza Rice war, bevor sie in Washington aufstieg, Direktorin von Chevron, Bush hat sein
Vermögen in der Ölindustrie gemacht, Rumsfeld war bei Texaco und Cheney bei Halliburton. Der
Irak-Krieg ist die direkte Umsetzung der Konzernstrategie der Ölgesellschaften. Das Ergebnis: fast
2000 tote US-amerikanische Soldaten und 160 000 Iraker, die vom Beginn des Überfalls bis zum Juli
dieses Jahres im Krieg bzw. an seinen Folgen starben. Aber eben: Der Irak besitzt die zweitgrößten
Ölreserven der Welt: 112 Milliarden Barrel.
Brasiliens Präsident Lula erscheint in Ihrem Buch als große Lichtgestalt.
Lula ist für mich eine große Hoffnung. In Brasilien ist eine demokratische, antikapitalistische
Revolution im Gange, die weitgehend über die Zukunft der antikapitalistischen Volksbewegung der
ganzen Welt entscheiden wird. Mit dem Programm »fome zero« (Null Hunger) will Lula den Hunger
eliminieren. 44 der 182 Millionen Brasilianer sind permanent schwerst unterernährt. Doch Lula hat
vor allem von der Militärdiktatur eine Auslandsschuld von über 242 Milliarden Dollar geerbt. Der
Schuldendienst verhindert den Kampf gegen den Hunger. In der Arbeiterpartei gärt es bereits. Lula
befindet sich in einer unmöglichen, schwierigen Situation, er braucht unsere Solidarität.
Mit großer Sympathie zitieren Sie Babeuf über den Sturz aller alten barbarischen Institutionen – eine
Utopie?
Nicht wenn die Opfer der barbarischen Globalisierung zu Akteuren ihres Schicksals werden. Mit
meinem Buch möchte ich helfen, diesen Prozess in Gang zu setzen, der in einen Aufstand
verbündeter autonomer Kräfte der sich abzeichnenden planetarischen Zivilgesellschaft münden
kann. Mein Buch möchte eine Waffe sein in diesem Kampf. In meinem Genfer Büro hängt ein Foto.
Es zeigt Bertolt Brecht, auf einer Berliner Parkbank sitzend, ein Buch in der Hand. Darunter steht
»Bertolt Brecht – bewaffnet«.
Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. C. Bertelsmann Verlag, München 2005, 320 S., geb.,
19,90
* Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2005
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