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Eine "flache Welt"

Vor 20 Jahren nahm die Welthandelsorganisation ihre Arbeit auf. Von Ingar Solty *

Teil I: Globalisierung für 0,01 Prozent der Menschheit

Niemand hat sie gewählt, niemand wurde oder wird gefragt, ob er ihr angehören will, eine Minderheit weiß überhaupt von ihrer Existenz, und doch bestimmt sie das Leben der Weltbevölkerung bis in die Kapillaren unseres Alltags: die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Vor 20 Jahren wurde sie gegründet. 123 Länder traten ihr sofort bei; heute zählt sie 160 Mitgliedsstaaten.

Neben dem Internationalen Währungsfond (IWF), der Weltbank und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ist die WTO die zentrale Institution – in Fachkreisen wird von einem zentralen internationalisierten Staatsapparat gesprochen –, der die Globalisierung des Kapitalismus vorantreibt. Während Erstgenannte die internationale Finanzarchitektur frei handelbarer Währungen und der Kapitalmobilität bilden sollen – der IWF zur Sicherung der internationalen Finanzstabilität auf dem Wege von Notkrediten, die Weltbank zur Finanzierung von Wirtschaftserholung –, hat die multilaterale WTO die Funktion, den internationalen Handel zu regulieren und weitgehend uneingeschränkte Kapitalmobilität zu ermöglichen.

Die Ursprünge der Welthandelsorganisation reichen allerdings bis in die unmittelbare Nachkriegszeit und den Kalten Krieg zurück. Die WTO ging aus dem von den USA initiierten GATT (Allgemeines Abkommen über Zölle und Handel) von 1947 hervor, das danach in sieben siebenjährigen Runden immer wieder bestätigt und unter wachsender Zahl der beteiligten Länder erweitert wurde. Ursprünglich gehörten 23 Staaten dem GATT an. Im kapitalistisch rekonstruierten »Westen« schuf der US-Staat so einen »eingebetteten (Wirtschafts-)Liberalismus« (»embedded liberalism«), der über das 1944 geschaffene Bretton-Woods-System internationalen Handel erleichterte, aber zugleich mit Kapitalverkehrskontrollen, fixen Wechselkursen und die Dollar-Gold-Bindung die Entwicklung keynesianisch regulierter, nationaler Wohlfahrtsstaaten erlaubte. Das GATT wurde geschaffen, um einen allmählich auszuweitenden einheitlichen Handelsraum zu schaffen. Sein Hauptzweck bestand darin, »diskriminierende Handelspraktiken« (Protektionismus) zu vermeiden, die für die Fragmentierung des Weltmarkts und die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verantwortlich gemacht wurden. Dazu diente das multilaterale Vorgehen: Das GATT zentralisierte die Handelsvereinbarungen und sollte so helfen, den Aufstieg von privilegierten Handelsblöcken zu verhindern. Dazu diente die Klausel »most favored nation« (MFN). Sie bedeutet, dass jedesmal, wenn ein Mitgliedsstaat die Bedingungen für einen Handelspartner verbessert, er dieselben Konditionen auch allen anderen Mitgliedsstaaten ermöglichen muss.

Neoliberale »Freihandels«-Vision

Die Gründung der WTO war das Ergebnis der 1986 begonnenen Uruguay-Runde des GATT. Die Welthandelsorganisation ging – begleitet von starker Lobbytätigkeit seitens der Großkonzerne und ihrer Thinktanks – allerdings weit über das GATT hinaus. Die »most favored nation«-Regel wurde beibehalten; im Gegensatz zum GATT reguliert die WTO allerdings den Welthandel allgemein. Die Uruguay-Runde war die erste, bei der es weniger um den multilateralen Abbau von Zöllen auf Handelsgüter ging als vielmehr um Fragen der ausländischen Direktinvestitionen, um Handel mit Dienstleistungen und um geistige Eigentumsrechte. Dazu gehört ein Regelwerk, das automatisch Sanktionen nach sich zieht (dazu mehr im Teil II).

Der WTO-Vertrag versprach der Weltbevölkerung paradiesische Zustände: die »Anhebung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung und ein hohes und stetig wachsendes Volumen der Realeinkommen und der effektiven Nachfrage, eine Expansion der Produktion von und des Handels mit Gütern und Dienstleistungen bei gleichzeitiger optimaler Verwendung der weltweiten Rohstoffe in Übereinstimmung mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung, die die Umwelt schützt und erhält«. Die dahinterstehende wirtschaftsliberale Theorie war und ist die der komparativen Kostenvorteile. Die WTO schreibt ihren Mitgliedsstaaten entsprechend vor, tarifäre Handelshemmnisse wie Außenhandelszölle und nichttarifäre Handelshemmnisse wie strafende Steuerarrangements, (Umwelt-)Auflagen, planwirtschaftliche Maßnahmen und staatliche (Produktions-)Vorschriften abzubauen. Zu letzteren gehört auch das Verbot bestimmter Produktionsweisen, von Inhaltsstoffen für Lebensmittel usw. Die einzige Ausnahme bildet das – wie auch immer definierte – »nationale Interesse«.

Die WTO entfesselte so die Marktkräfte und ermöglicht dem expansiven Kapital eine schrankenlose Mobilität von Investitionen, Gütern und Dienstleistungen. Die Vision war und ist eine Welt, in der jedes Land sich und »seine« Lohnarbeiter spezialisiert und nur das produziert, worin es – aufgrund von Standort, natürlichen Umweltbedingungen etc. – am konkurrenzfähigsten ist. Dies solle zu einer optimalen Allokation von Kapital führen; nichteffiziente Produktionsmethoden scheide man auf diese Weise vom Produktionsprozess aus, die Produktivität würde steigen, Preise für Güter und Dienstleistungen würden dagegen fallen. Neue Waren bereicherten die Märkte und befriedigten die Konsumbedürfnisse der Mittelklassen vor allem im globalen Süden. Transparenz und Planungssicherheit würde für das Kapital sichere Investitionsbedingungen schaffen, die wiederum zu vermehrter Investitionstätigkeit und damit zu mehr Arbeitsplätzen führen sollten. Wie bei allen Freihandelsabkommen wurden Versprechungen über ein Sonderwirtschaftswachstum gemacht, um die Bedenken, was denn etwa aus den Arbeiterinnen und Arbeitern der nicht mehr konkurrenzfähigen Unternehmen wird, zu zerstreuen. Mit der Schaffung einer Freihandelswelt würde global Wachstum generiert. Soweit Theorie und Versprechen.

Schon beim englischen Ökonomen David Ricardo (1772–1823) war diese Theorie kapitalistisch-imperiale Ideologie. Der Freihandel ist immer im Interesse der am weitesten entwickelten kapitalistischen Staaten und dominanten Kapitalien und Industrien auf der Suche nach profitablen Anlagesphären (ausländische Direktinvestitionen) sowie Rohstoff- und Absatzmärkten. Das britische Empire etwa hatte sich bis 1840 zunächst merkantilistisch vom Weltmarkt abgeschottet, die eigene Industrie aufgebaut und erst danach weltweit Freihandel zugunsten ihrer Expansion durchgesetzt – und zwar oft mit »Kanonenbootdiplomatie« und militärischer Gewalt. Zusammen mit den USA bildete das britische Empire das »Herzland« des Weltkapitalismus und verfolgte im ausgehenden 19. Jahrhundert eine »Politik der offenen Tür«, die zu Recht mit dem Begriff des Freihandelsimperialismus beschrieben worden ist. Der britische und der US-Staat suchten mit ihm auf Grundlage einer letztlich falschen Annahme von den inneren Expansionsgrenzen des Kapitalismus dessen Überakkumulationsproblematik durch vermehrten Kapitalexport zu entgehen. Tatsächlich war auch das GATT aus Furcht der USA vor einem Rückfall in die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre entstanden, die letztlich nicht durch den »New Deal«, sondern erst durch den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg und die Kriegskredite an Großbritannien und Frankreich wirklich behoben worden war. Das GATT gehörte somit zur Geburtsstunde des »American Empire«, das sich zum Ziel setzte, den globalen Kapitalismus zu schaffen und zu managen. Nur die Existenz der Sowjetunion und der Ostblockstaaten beschränkte es zunächst auf die »Grand Area« des »Westens«.

Die WTO wurde damit vor allem im (Expansions-)Interesse der großen Konzerne und einer sich transnationalisierenden kapitalistischen Klasse gegründet. Sie sollte den Konzernen Sicherheiten schaffen, nicht nur im Inland produzierte (Industrie-)Güter im Ausland zu verkaufen, sondern ausländische Direktinvestitionen, also auch Kapitalverlagerungen, zu ermöglichen. Hiermit reagierten die politischen und ökonomischen Eliten auf die neuen Expansionsmöglichkeiten, die sich im Zuge des Mauerfalls 1989, der Auflösung der Sowjetunion und im Rahmen der Schockstrategie-Privatisierung von volkseigenen Betrieben ergeben hatten. Die »Grand Area« war jetzt global.

Eine globale Kapitalistenklasse

Der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten schuf für das Kapital neue Chancen, aber auch Strukturzwänge. Im Zuge der Privatisierungen entstand in Osteuropa ein riesiges neues Proletariat. Die WTO schuf die Grundlagen, das Lohngefälle zwischen West und Ost systematisch auszunutzen. Bis heute ist der größte Teil des Welthandels Intrafirmenhandel, d. h. transnationale Konzerne verlagern durch »Offshoring« und »Nearshoring« die arbeitsintensiven (und damit [lohn-]kostspieligen) Teile der Produktionsabläufe und Wertschöpfungskette ins Ausland. Ohne die WTO wäre dies nicht möglich gewesen. Es entstand die Vision eines grenzenlosen »neoliberalen« Globalkapitalismus, einer »flachen Welt« (Thomas L. Friedman).

Das Ergebnis ist bis heute ein mörderischer Konkurrenzkampf der entlang nationalstaatlicher Grenzen gespaltenen Weltarbeiterklasse. Im globalisierten Kapitalismus spielt das transnationalisierte Kapital die nationalen Arbeiterklassen gegeneinander aus und erzwingt mit der Androhung von Kapitalverlagerungen (oder Investitionsstreiks) Lohnzurückhaltung und Arbeitsintensivierung. Priesen neoliberale Ökonomen aus dem globalen Süden die »Globalisierung« des Kapitalismus als das »Ende der westlich dominierten Weltwirtschaft« an, so ist das Ergebnis in Wahrheit eine Entkopplung der Produktion von der Binnennachfrage sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden. Darum fiel nach Angaben des »ILO Global Wage Report 2014–2015« seit Gründung der WTO 1995 die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter am Bruttoinlandsprodukt, in allen entwickelten OECD-Ländern (Deutschland: von 61 auf 58 Prozent; Japan: von 67 auf 60; USA: von 60 auf 56; Italien: von 62 auf 55) genauso wie in sämtlichen Schwellenländern (etwa Mexiko: von 44 auf 38 Prozent, Türkei: von 42 auf 33). Auch in China ging sie seit dem – mit drakonischen Bedingungen forcierten – Beitritt 2001 von 54 auf 47 Prozent zurück.

Zudem plündert das transnationalisierte Kapital die miteinander um ausländische Kapitaldirektinvestitionen konkurrierenden Nationalstaaten – einschließlich deren Bundesländer und Kommunen – über Steuersubventionen, die nach den WTO-Regelungen sowohl für »inländisches« wie »ausländisches« Kapital gleichermaßen und nichtdiskriminierend gelten müssen, regelrecht aus. Nach einer umfangreichen, zehnmonatigen Studie der New York Times von Dezember 2012 erhalten beispielsweise multinationale Konzerne jährlich durchschnittlich 80,4 Milliarden US-Dollar an Steuergeldern von US-Einzelstaats- und Lokalregierungen. Auf die Steuerkrise und den globalen Standortkrieg reagieren die Staaten wiederum mit Sozialabbau sowie dem Umbau des keynesianischen Wohlfahrts- in den neoliberalen Workfare-Staat. In ihm wird mit Kürzungen der Arbeitslosenversicherungen oder Sanktionen gegen Erwerbslose die Arbeitskraft diszipliniert und der Marktzwang erhöht.

Das Ergebnis dieses Prozesses ist entsprechend eine gigantische Umverteilung von der globalen Arbeiter- hin zur globalen Kapitalistenklasse. Sinkenden Einkommen aus Arbeit stehen immens steigende Einkommen aus Kapital gegenüber. Die Folge: die Entwicklung einer Welt, wie sie der französische Starökonom Thomas Piketty beschrieben hat, mit einer dramatisch zunehmenden Anhäufung und Konzentration von Vermögen in den Händen der globalen 0,1 bzw. sogar nur 0,01 Prozent. Für diese Entwicklung und die Entstehung einer transnationalen Bourgeoisie aber schaffte die WTO die entscheidenden Voraussetzungen. Erst jetzt konnten Konzerne wie Siemens beispielsweise ihre Software-Ingenieursabteilungen nach Indien »offshoren«. Beherrschen der Entwicklungsländer

Das Ergebnis war allerdings lange vorhersehbar: Nicht nur Marxisten warnten vor einer solchen Entwicklung. In einem Dissensgutachten hatten zwei Weltbank-Ökonomen schon 1993 prophezeit, dass die WTO den Druck auf die Unternehmen erhöhen werde, Kosten zu senken, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies werde, so der Bericht, die Löhne senken und die Einkommen der Arbeiterklasse reduzieren. Dabei gehe es nicht (nur) um die Ausbeutung der »Entwicklungsländer« durch die kernkapitalistischen Länder, sondern um die Polarisierung von Reich und Arm auf der ganzen Welt mit kleinen Inseln der Multimillionäre und Milliardäre, erodierenden Lohnabhängigen-Mittelklassen und einer breiten Verarmung der geringqualifizierten Lohnarbeiter: Man sei »besorgt, dass die globale wirtschaftliche Integration über den Freihandel zur Bevorteilung einer kleinen privilegierten Minderheit zu Lasten der Mehrheit in sowohl Industrie- als auch Entwicklungsländern führen wird«.

Die Staaten wurden von dieser »Globalisierung« tatsächlich nicht, wie von Globalisierungsfatalisten oft suggeriert, überrannt; sie schufen sie mit Institutionen wie der WTO aktiv selbst. Die Gründung der Welthandelsorganisation bezweckte oder akzeptierte wenigstens als Kollateralschaden einen globalen »Wettlauf nach unten«: in bezug auf Löhne, Arbeitsstandards (Arbeitszeit, Arbeitsschutz) und Umweltstandards. Dieser ist zwar nicht ungebrochen: Denn dort, wohin Kapital sich verlagert, in den Schwellenländern, entsteht eine neue kämpferische Arbeiterklasse. Und dennoch ist – wie die Entwicklung der Lohnquote in China, Mexiko oder Türkei zeigt – die Wirkung der Globalisierung des Kapitalismus eine dramatische Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit im Weltmaßstab. Sie war aber seit der Profitklemme des Kapitals in den 1970er Jahren der eigentliche Zweck des Staatsprojekts »(neoliberale) Globalisierung«. Der globale Kapitalismus ist ein Klassenprojekt. Sein Zweck war die Wiederherstellung von Kapitalprofitabilität und Kapitalmacht. Dieses Projekt war zunächst weitgehend erfolgreich. Zugleich produzierte es seine eigenen inneren Widersprüche, die in die globale Krise von 2007 ff. mündeten.

Für die Entwicklungs- und Schwellenländer bedeutete der Freihandelsimperialismus darüber hinaus aber folgendes: Insofern alle Länder, die der WTO beitreten, sich dazu verpflichten, ausländisches Kapital wie inländische Unternehmen zu behandeln und ihnen die gleichen Steuervorteile etc. zu gewähren, verhindern sie zum Beispiel den Aufbau von nationalen Industrien und somit auch jene importsubstituierenden Entwicklungs- und Unabhängigkeitsstrategien, wie sie die Drittweltländer in den 1950er und 1960er Jahren verfolgt hatten. Die Länder des globalen Südens werden so in Richtung von exportorientierten Wachstumsmodellen umstrukturiert. So werden sie aber auch vom Export und von fluktuierenden Weltmarktpreisen abhängig gemacht. Sind sie auf die Produktion einiger weniger weltmarktkonkurrenzfähiger Produkte beschränkt und fallen dann plötzlich die Weltmarktpreise wie gegenwärtig die Energiepreise für ölexportierende Länder wie Irak, Iran, Libyen, Venezuela, Nigeria etc., dann werden auf diese Weise Entwicklungsmodelle und -länder quasi über Nacht ins Chaos gestürzt. Zum Beispiel hat auch die Frackingtechnologie die USA gerade von einem Nettoenergieimporteur in einen Nettoenergieexporteur verwandelt. Das hatte zur Folge, dass die USA zwischen 2011 und 2014 etwa ihre Ölimporte aus Nigeria von 1,15 Millionen auf unter 50.000 Barrel reduzierten! Hieran sollte man denken, wenn man das nächste Mal Zeitungsartikel über Boko Haram liest – oder über Occupy Nigeria.

Ein weiterer Punkt ist: Für die Entwicklungsländer verschlechtern sich im globalen Freihandelskapitalismus die »terms of trade« stetig, da die Preise für Hochtechnologieimporte nicht in demselben Maße fallen wie die Preise für Agrarprodukte und Ressourcen. Es herrscht das Prinzip des »ungleichen Tausches«. Das bedeutet, dass die herrschenden Eliten im Inland die Ausbeutungsrate durch Unterdrückung und Verfolgung der Gewerkschaften und Verschärfung der Arbeitsmarktzwänge erhöhen »müssen«, um in ihren Bereichen global wettbewerbsfähig zu bleiben und durch Mehrexport ihre Außenhandelsschulden zu begleichen, damit so die entwicklungsnotwendigen Technologien importiert werden können. Der Freihandel ist somit auch ein System der entwickelten kapitalistischen Länder, aus dem Süden Tribute zu extrahieren.

Brechen der eigenen Regeln

Dies gilt umso mehr, als sich die kapitalistischen Kernstaaten des »Westens« selbst nicht an den Freihandel halten und Monopolrenten einfahren. Das beste Beispiel für diese Art von Tributextraktion ist das 1996 für alle WTO-Mitgliedsstaaten in Kraft getretene TRIPS-Abkommen (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights). Dieses soll den Konzernen »geistige Eigentumsrechte« sichern. Es bedient vor allem die Interessen der pharmazeutischen Konzerne, aber auch von Musik-, Film- und IT-Konzernen. Das TRIPS ist zum einen das Paradebeispiel für die kapitalistische In-Wert-Setzung der »Commons«. Ob frei verfügbare Güter wie Luft, Wasser oder ein Zugang zum Meer, ob freie Software oder auch öffentliche Dienstleistungen wie kostenlose Bildung oder Gesundheitsversorgung unabhängig vom Geldbeutel – alles wird »eingehegt«, d. h. privater Verfügungsgewalt und dem Profitprinzip unterworfen. Diese »Commons« werden zu »handelbaren Waren« (gebührenfinanziertes Studium, Privatstrände, Luftrechte wie Überflugszonen, digitale Informationen wie Wetterberichte etc.).

Es ist tatsächlich eine aus den Fugen geratene Welt, die mit der neoliberalen Wende in den 1980er Jahren geboren und mit der WTO – diesem »neoliberalen Quintessenzdokument« (David Harvey) – beschleunigt wurde. Aber der Kapitalismus tendiert inhärent zur Barbarei. Zivilisatorische Standards wie das Verbot von Kinderarbeit, der Achtstundentag, das arbeitsfreie Wochenende, die öffentlichen Sozialversicherungssysteme, Mindestlöhne oder Kündigungsschutz mussten historisch von der Arbeiterbewegung immer gegen den Widerstand von Kapital und Staat erkämpft werden. Aus sich selbst heraus treiben das Konkurrenzgesetz und der Zwang zur Profitmaximierung den Kapitalismus zur Barbarei.

Teil 2 (und Schluss): Das neoliberale Kapitalprojekt und sein innerer Widerspruch

Der Hauptzweck der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) bestand, wie im ersten Teil dargelegt, in der Forcierung des neoliberalen Projekts »Globalisierung«, das sich mit dem marxistischen Theoretiker Leo Panitch als »Ausbreitung kapitalistischer Sozialverhältnisse in jeden Winkel unseres Planeten und jede Facette unseres Lebens« definieren lässt. Zugleich ist diese Organisation ein hervorragendes Beispiel für die spezifische Form der Entdemokratisierung im Neoliberalismus. So schuf die WTO Strukturen, die systematisch die demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Weltbevölkerung aushebeln und letztlich nationalstaatliche Souveränität untergraben.

Herrschaft einer Minderheit

Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ist von einem Dilemma der Bourgeoisie gekennzeichnet: Sie ist eine kleine gesellschaftliche Minderheit, kann sich ihrer Herrschaft also nie sicher sein. Historisch versuchte der Liberalismus – die zentrale Ideologie der Bourgeoisie – die Volksmassen (einschließlich der Frauen und Kolonialbevölkerungen) zunächst durch Eigentumsqualifikationen, Zensuswahlrecht oder Analphabetismustests vom Wahlrecht auszuschließen. Auf die Dauer ließ sich das jedoch nicht aufrechterhalten. Der Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erzwang halbherzige Wahlreformen und die allmähliche Öffnung der Parlamente für den Klassengegensatz. Aus der Perspektive der Bourgeoisie stellte sich nun eine drängende Frage: Wie sollte die kleine, aber wirtschaftlich herrschende Bourgeoisieminderheit unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts verhindern, dass die entstehende Lohnabhängigenmehrheit das Mittel ihrer Klassenherrschaft, d. h. das kapitalistische Privateigentum, nicht auf dem Gesetzeswege abschaffen und die Kommandohöhen der Wirtschaft durch Sozialisierungsmaßnahmen in Volkseigentum überführt? Es ist kein Zufall, dass in dieser Phase der Vordenker des Neoliberalismus Ludwig von Mises den barbarischen Faschismus ausdrücklich als »Retter der Zivilisation« begrüßte, weil er das Privateigentum sicherte, indem er die Führer und Organisationen der Arbeiterbewegung und den Parlamentarismus liquidierte.

Der Faschismus gefährdete aber wegen seiner aggressiven Ausrichtung gegenüber allen Nationalstaaten den Bestand des Kapitalismus. Nach der Befreiung von ihm, dem Aufbau des sozialistischen Staatenblocks und im Zuge radikaler antikapitalistischer Stimmungen in Westeuropa machten es sich die USA, wie im ersten Teil ausgeführt, zur Aufgabe, den Kapitalismus wieder aufzubauen. Ein Mittel hierzu war der WTO-Vorläufer GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). Im Kontext der Systemkonkurrenz gehörte dazu auch eine Internationalisierung des »New Deals« in Form von keynesianisch regulierten Wohlfahrtsstaaten auf der Grundlage von fordistischer Massenproduktion und -konsumtion. Dies war ein »historischer Kompromiss« zwischen Kapital und Arbeit.

Dem Neoliberalismus – verstanden als die Ideologie des rechten Flügels der Bourgeoisie – war diese Form der Demokratisierung des Kapitalismus (im Sinne eines Ausbaus der sozialen Grundlagen der Demokratie) allerdings verhasst. Für den Moment waren die Neoliberalen jedoch geschlagen. Sie zogen sich zurück, gründeten 1947 die Mont Pelerin Society und warteten auf die Stunde, in dem ihre antidemokratischen Ideen für das Kapital wieder von Nutzen sein würden und es gegen den Sozialstaat in die Offensive gehen könnte. Dieser Moment kam in der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren. Der Keynesianismus hatte durch Vollbeschäftigung die strukturelle Macht des Kapitals eingeschränkt. Ohne Massenarbeitslosigkeit waren Lohnabhängige tendentiell nicht mehr gezwungen, jeden Job anzunehmen, jede Intensivierung des Arbeitstages hinzunehmen etc. Dies ist der Hintergrund der Kulturrevolution der 1960er Jahre – von Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll.

Ausweg Neoliberalismus

Die Folge war jedoch eine Profitklemme des Kapitals. In dieser Situation in der Mitte der 1970er Jahre gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder würde es der globalen Arbeiterbewegung und der sozialistischen Linken gelingen, die Macht des Kapitals endgültig zu brechen und zum Sozialismus voranzuschreiten, oder das Kapital würde in seiner Gegenoffensive siegreich sein. Auf diesen Moment hatten die Neoliberalen gewartet. Mit ihren Ideen siegte das Kapital und setzte das »Projekt Globalisierung« zur Wiederherstellung der Profitraten um. Der »Volcker-Schock« – eine dramatische Leitzinserhöhung in den USA im Jahre 1979 als letzter Schritt hin zum Neoliberalismus – brach der Arbeiterbewegung daheim mit der Herstellung von Massenarbeitslosigkeit das Genick und erzwang zugleich auf dem Weg von IWF-Notkrediten die Marktöffnung im globalen Süden. So wurde ein Prozess der hundertmillionenfachen Proletarisierung von Subsistenz- und Kleinbauern eingeleitet, und die Arbeiterklassen weltweit wurden in Konkurrenz zueinander gesetzt. Die strukturelle Macht des Kapitals, seine Mobilität plus die Existenz einer globalen industriellen Reservearmee, war wiederhergestellt.

Im Chile der Pinochet-Diktatur nach 1973 waren die marktradikalen Ideen des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman und seiner Chicago Boys zum ersten Mal ausprobiert worden. Die Zusammenarbeit mit Augusto Pinochet unterstreicht den grundsätzlich antidemokratischen Geist der Neoliberalen. Ihr eigentliches Ziel waren und sind jedoch nicht Faschismus und Diktatur, sondern die Lösung des Bourgeoisie-Minderheit/Arbeiterklasse-Mehrheit-Problems auf »neo«liberalem Wege. Gewährleistet werden sollte, dass die Volksmassen in den einzelnen Ländern zwar nach allgemeinem Wahlrecht Parteienvertreter wählen dürfen und so das Gefühl haben, sie entschieden über ihre eigenen Belange, dass aber ihre Entscheidungen die Marktkräfte – die Macht der Bourgeoisie – nicht gefährden würden.

Dieses Ziel vor Augen bedienten sich die Neoliberalen eines Tricks: der Konstitutionalisierung oder Verfassungsherrschaft. Das neoliberale Kapital verfolgte zielstrebig ein Programm, das vorsah, die wesentlichen finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen vom Volkswillen und der demokratischen Dynamik in den Parlamenten abzukoppeln und diese damit zu entpolitisieren. Auf dem Wege der verfassungsrechtlichen Festlegung sollte der Markt von der Gesellschaft entbettet werden. Diese (Quasi-)Verfassungen sind dabei teilweise die nationalen Verfassungen, in denen beispielsweise eine »Schuldenbremse« verankert oder Zentralbanken zu »unabhängigen«, d. h. demokratisch nicht rechenschaftspflichtigen und unkontrollierten Institutionen erklärt werden, um zukünftige Regierungen von vornherein auf eine neoliberale, also marktorientierte und kapitalfreundliche Wirtschaftspolitik festzulegen.

Neben den nationalstaatlichen Verfassungen sind es aber vor allem die Institutionen der »Globalisierung« – Handelsverträge und Investitionsabkommen –, die hierfür genutzt werden. Die WTO ist das Beispiel par excellence. Die globale kapitalistische Expansion wird dadurch erleichtert, dass die supranationalen Institutionen ihren Mitgliedsstaaten neoliberale Entwicklungspfade vorschreiben, wenn etwa die Beitrittsbedingung zur WTO die Gleichbehandlung von inländischem und ausländischem Kapital ist. Dabei funktioniert die Umsetzung neoliberaler Politikzwänge über die globalen Quasiverfassungen am leichtesten. Denn während die Nationalparlamente wenigstens noch formal gewählt werden und sich Regierungen bei Verfassungsänderungen vor dem Souverän verantworten müssen, hat niemand etwa über globale Handelsverträge abgestimmt, vielmehr wurden diese von Regierungen unterzeichnet. Zudem sind Entscheidungsträger transnationaler Organisationen, der Chef der Europäischen Zentral- oder US-Notenbank oder die Mitglieder der Europäischen Kommission weder gewählt noch parlamentarischer Kontrolle unterworfen.

Für das Kapital sind diese Institutionen damit äußerst verlässlich. Das mächtigste WTO-Organ ist beispielsweise die Ministerkonferenz, bestehend aus den Wirtschafts- und Handelsministern, die ebenfalls den Nationalparlamenten keinerlei Rechenschaft schuldig ist. Dies ist aber gerade Sinn und Zweck der Apparate des internationalisierten Staates: die Zentralisierung der Brot-und-Butter-Entscheidungen und ihre Entfernung von Parlament und Wahlbevölkerung, die Herrschaft durch (transnationalisierte) Exekutivapparate und technokratische Eliten sowie die verfassungsrechtliche Einengung der nationalstaatlichen Entscheidungskompetenzen. Der ehemalige WTO-Generaldirektor Renato Ruggiero bestätigt das: »Wir schreiben die Verfassung einer vereinten Weltwirtschaft«, eine »Verfassung für den globalen Kapitalismus«.

Das Prinzip der »Rechtsstaatlichkeit« gehört zu diesem Bild dazu. Es meint hier allerdings die Idee, dass nicht Menschen, sondern (supranational vorgeschriebene) Gesetze herrschen sollen. Die Vision ist die der »Einen Welt« mit immergleichen Rechten fürs Kapital, die nicht durch demokratische Entscheidungen wieder in Frage gestellt werden können. Dies beinhaltet, wie das TRIPS-Unterabkommen der WTO zeigt, weitreichende konstitutionelle Garantien des kapitalistischen Privateigentums gegen demokratische Entscheidungen: »Governance« statt »Government«.

Der undemokratische Höhepunkt der Konstitutionalisierung des Weltkapitalismus, wie sie von der WTO verkörpert wird, sind dabei die – allerdings bloß bilateralen – Investitionsschutzabkommen, die transnationalen Konzernen zukünftige Profite auf Kosten der Demokratie garantieren. So verklagte auf der Grundlage dieser Weltkapitalismusverfassungen der schwedische Atomkonzern Vattenfall den deutschen Staat wegen des »Atomausstiegs« oder der Tabakkonzern Philip Morris die Staaten Australien und Uruguay wegen »Rauchergesetzen« zu Schadensersatz in Milliardenhöhe. Tatsächlich sorgen derlei »Freihandels«- und Investitionsschutzabkommen dafür, dass Staaten schon vorab in ihrer demokratischen Willensbildung von Kapitalprofite einschränkenden Gesetzen Abstand nehmen müssen.

Souveräner Souveränitätsverlust

Vor diesem Hintergrund stellt sich eine grundsätzliche Frage der WTO und des »Freihandels« allgemein: Warum entschieden sich diejenigen Nationalstaaten, die nicht durch Schuldenkrisen und IWF-Strukturanpassungsprogramme ihre Märkte öffnen mussten, für eine solche Selbstbeschränkung ihrer eigenen Souveränität? Warum also gaben sie die nationalstaatliche Kontrolle über Teile der für alle anderen Politikbereiche essentiellen Finanz-, Steuer- und Investitionspolitik auf? Warum sollten Regierungen einen solchen Knebelvertrag freiwillig unterschreiben, wenn er doch die Unterwerfung unter die Diktatur der Marktkräfte bedeutet?

Das, was da von der WTO bis TTIP weltweit passiert, ist zweifellos Stoff für Verschwörungstheorien. Haben sich korrupte Regierungseliten von privaten Konzernen schlicht schmieren lassen? Haben sie – unter Umgehung des Parlaments – wissentlich die eigenen Bevölkerungen an das transnationale Kapital verkauft und die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie betrieben? Gar um sich privat zu bereichern? Ist die politische Weltelite wirklich – und zwar durch und durch – so korrupt, ja so bösartig?

Verschwörungstheorien, die sich auf Elitenforschung kaprizieren und den »korrupten Eliten«, denen man nichts mehr glauben könne, das gute, aber »verarschte Volk« (anstelle von Klassen) entgegenstellen, suggerieren genau dieses Bild. Es ist zugleich Ausdruck einer subjektiven gesellschaftlichen Ohnmacht – und verstärkt diese, indem es Eliten zu übermächtigen Akteuren erklärt. Dieses zur Paranoia tendierende Bild wird – auch wenn es Korruption bis hin zu Verschwörungen im kleineren Maßstab durchaus immer wieder gibt – der Wirklichkeit nicht gerecht.

Zunächst aber: Eine weitere – sich von Verschwörungstheorien abgrenzende – Erklärung für das Rätsel der nationalstaatlichen Selbstentmachtung wäre, dass die Staatslenker der »neoliberalen Ideologie« aufsaßen. Das ist aber eine Pseudoerklärung. Ideen sind nicht ohne ihre sozialen Träger, ohne Klassen, zu denken, aus denen sie herrühren und deren Interessen sie artikulieren. Sie schweben nicht einfach im Raum.

Eine plausiblere Erklärung geht der Frage nach, in welchem Interesse Staaten handeln, denn sie sind im Kapitalismus keine neutralen Akteure. Gemäß dem marxistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas sind Staaten als soziale Verhältnisse zu denken, in denen sich die gesellschaftlichen Klassen und ihr Kräfteverhältnis institutionell verdichten. Dabei hängen die Staaten zudem funktional vom Kapital ab, insofern die Erfüllung ihrer gesamten Staatsfunktionen unter Normalbedingungen die Schaffung eines »investitionsfreundlichen Klimas« voraussetzt. Denn schaffen sie das nicht, droht Kapital in den Investitionsstreik zu treten oder das Land zu verlassen, was zur Folge hat, dass sich die (zumeist schuldenfinanzierten) Staatsfunktionen – öffentliche Infrastruktur etc. – plötzlich nicht mehr finanzieren lassen.

So wird jedenfalls ein Schuh draus: In einer berühmten Definition Poulantzas’ lässt sich an dem, was aus dem Staat »hinten rauskommt«, d. h. anhand seiner Gesetze und deren Profiteuren, definieren, wer die »Staatsmacht« innehat. Im Fall des globalen Kapitalismus ist dies das transnationalisierte Kapital. Die WTO-Globalisierung ist in seinem Interesse. Daraus folgt, dass diese dominante Kapitalfraktion sich in den Staaten der entwickelten kapitalistischen Länder weitestgehend durchsetzen konnte.

Eine Debatte über den »Neuen Konstitutionalismus« zwischen dem Neogramscianer Robert W. Cox und Panitch entzündete sich an einer Formulierung von Cox, derzufolge die Nationalstaaten als »Transmissionsriemen« von Weltordnungsinstitutionen wie WTO, NAFTA, EU etc. funktionieren, die kapitalfreundliche Regelungen einfach von oben nach unten weiterleiten und vorschreiben würden. Gegen diesen »Top down«-Ansatz wurde klassentheoretisch moniert: Die transnationalen Weltordnungsinstitutionen seien als »Formen transnationaler Staatlichkeit« selbst auch Verdichtungen von Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit, Verdichtungen »zweiter Ordnung«. Diese kennzeichne aber eine besondere Stärke des geeinten transnationalen Kapitals und eine besondere Schwäche der international fragmentierten Arbeit. Dies sei der Grund, warum der Klassenkampf des Kapitals auf diesen Ebenen und von oben besonders erfolgreich geführt werde.

Poulantzas’ Staatsdefinition verdeutlicht auch, warum Nationalstaaten nicht nur durch schuldenimperialistische Praktiken des »Westens« in die neoliberale Weltmarktordnung integriert wurden, sondern sich auch viele kernkapitalistische Staaten wie die USA und Deutschland, reiche Ölstaaten oder Schwellenländer wie Brasilien, Russland und China dem »Neuen Konstitutionalismus« freiwillig untergeordnet haben, wenn auch – wie China – nicht immer ganz vollständig. Denn auch sie sind als Verdichtungen von Kräfteverhältnissen zwischen den (transnationalisierten) Klassen zu denken. So hat der US-Staatstheoretiker Clyde W. Barrow am Beispiel Mexikos gezeigt, warum sich Mexiko aktiv um eine Mitgliedschaft im Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA bemühte, nämlich weil das transnationale Kapital nach der Schuldenkrise in den 1980er Jahren schon längst Teil des mexikanischen Staates war. Tatsächlich bekämpften die Staaten des globalen Südens die Integration von Sozialstandards in Freihandelsverträgen seit langem und lehnen sie teilweise bis heute als Standortnachteile ab. Auch sie sind entsprechend klassengespalten und werden oft von – im Westen ausgebildeten – neoliberalen Politikmanagern bestimmt.

Widerstand und Krise der WTO

Die WTO geriet allerdings bald nach ihrer Gründung in die Krise. Zu ihrer Formierung war es auf dem Höhepunkt des neoliberalen »Washington Consensus« der westlichen kernkapitalistischen Staaten und im Kontext relativ hoher Wachstumsraten gekommen. Vor dem Hintergrund der historischen Schwächung der Arbeiterbewegung im Zuge der neoliberalen Wende und des Zusammenbruchs des Realsozialismus, der sich auf die gesamte Linke verheerend auswirkte, konnte in den frühen 1990er Jahren das radikale neoliberale Programm im Interesse des transnationalen Kapitals umgesetzt werden.

Es zeigte sich aber rasch, dass der Neoliberalismus das Versprechen des WTO-Vertrags nicht halten konnte, den Lebensstandard der globalen Arbeiterklassen zu heben. Der »freie Markt« entpuppte sich als imperialistische und Klassenideologie. Der Aufstand der Zapatisten in Chiapas in Mexiko gegen NAFTA 1994 war ein erstes Signal. Der globale Kapitalismus offenbarte sich bald als krisenanfällig. Mit der tiefen Finanzkrise in Ostasien 1997/98, die sich auf die Türkei, Russland und Brasilien ausweitete, entwickelte sich auch der globale Widerstand. Die »Schlacht von Seattle« beim WTO-Treffen von 1999 wurde zum Fanal; es war letztlich die Geburtsstunde der globalisierungskritischen Bewegung. Die transnationalen Elitetreffen der WTO oder G-8-Staaten wurden seither von Massenprotesten begleitet. Im Rahmen des ersten Weltsozialforums in Porto Alegre 2001 und fortan wurden alternative Ideen diskutiert. Zeitgleich entpuppten sich die New-Economy-Träume mit dem Börsencrash im selben Jahr endgültig als Schäume. Der Kapitalismus geriet in eine tiefe Rezession; zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus wurde von seiten des »Westens« zunehmend direkte Gewalt ausgeübt.

In den Ländern des globalen Südens und vor allem in Lateinamerika entwickelte sich zugleich der Widerstand gegen die »Einhegung der Allmende«, z. B. in Cochabamba in Bolivien gegen die Wasserprivatisierung; Bauernbewegungen wie die Landlosenvereinigung MST in Brasilien oder Via Campesina international richteten sich massiv gegen das TRIPS-Abkommen und die Saatgut-Praktiken der transnationalen Agrarkonzerne sowie gegen den Import von hochsubventionierten Agrarprodukten des »Westens«, die den globalen Süden destabilisiert haben. Auch von seiten nationaler Gewerkschaften in Nord und Süd wuchs die Opposition. Der multilaterale Freihandel geriet vor dem Hintergrund sozialer Verheerungen und wachsenden Widerstands im Norden wie im Süden zunehmend unter Druck. Auf dieser Grundlage kamen in Lateinamerika Linksregierungen mit unterschiedlichen Strategien und Achsen an die Macht, die regionale Integrationsprojekte wie den MERCOSUR forcierten: Brasilien, Argentinien, Uruguay einerseits und Venezuela, Bolivien, Ecuador, Kuba andererseits. Letztere Gruppe entwickelte 2002 – auf der Grundlage steigender Rohstoffpreise – gegen die gescheiterte neoliberale gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA das solidarische Alternativmodell ALBA.

In Ostasien wiederum forcierte die Krise einerseits die Einordnung in den neoliberalen Weltmarkt. Die Tatsache aber, dass sich gerade die Länder eher als immun erwiesen hatten, die wie China und Taiwan ihre Kapitalmärkte nicht liberalisiert hatten, verstärkte auch hier regionale Integrationsprojekte – inklusive Schutzmechanismen gegen Finanzspekulationen und Tributextraktionen wie der ostasiatische Währungswechsel im Rahmen der Chiang-Mai-Initiative. Inwiefern sie Keimformen von alternativen Integrationsprojekten sind oder vom American Empire absorbiert werden, ist heute allerdings noch offen. Rivalisierende Projekte zum Empire sind vorläufig noch nicht in Sicht. China etwa trat 2001 unter harschen Konditionen der WTO bei – und sein Beitritt zwang andere Mitgliedsstaaten, etwa Argentinien, aufgrund der wachsenden Konkurrenz zu inneren Austeritätsprogrammen.

Die WTO ist seither trotzdem zunehmend dysfunktional geworden. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie verglichen mit dem IWF oder der Weltbank, in denen das Prinzip »Ein Dollar, eine Stimme« gilt, etwas demokratischer ist, da die einzelnen Staaten gleiche Stimmrechte haben. Mit der Doha-Runde von 2001 begann ihre tiefe Krise. 2003 brach die nächste Runde der WTO in Cancun aufgrund des Widerstands der Entwicklungsländer (Gruppe der 20+ und Gruppe der 77) zusammen, die 65 Prozent der Weltbevölkerung und 72 Prozent der Weltbauern repräsentierten. Die Zukunft der WTO ist seither ungewiss.

Die USA und die EU verfolgen nun – mühselig – bilaterale Freihandels- und Investitionsabkommen, wie zum Beispiel mit Kolumbien. Auch TTIP, CETA und TPP fallen hinter die Ambitionen einer Weltkapitalismusverfassung wie der WTO zurück. Der »Neue Konstitutionalismus« ist damit allerdings nicht tot. Im Gegenteil, die Freihandelsforcierung feiert in der globalen Krise und seit dem globalen Übergang zur Austeritätspolitik und exportorientierten Wettbewerbs- und Wachstumsstrategien der USA, der Euro-Länder und darüber hinaus fröhliche Urstände. Die Zahl der bilateralen »Investitionsabkommen« ist in den letzten Jahren auf über 3.000 angestiegen. Und die Investitionsschutz-Profitgarantien für privates Kapital im Rahmen von CETA, TTIP und TPP stehen der WTO in Sachen antidemokratisch-neoliberalem Geist in nichts nach.

* Beide Teile erschienen in: junge Welt, Mittwoch, 31. Dezember 2014, und Freitag, 2. Januar 2015


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