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Wanted – dead or alive

Tot oder lebendig? Wie der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen afrikanische Staatschefs erließ und sich damit aktiv an der Vorbereitung von Kriegsverbrechen beteiligte

Von Gerd Schumann *

Fatou Bom Bensouda scheint eine kluge Frau zu sein. Die 1961 in Gambia geborene neue Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs zu Den Haag (International Criminal Court, ICC), ehemals gambische Generalstaatsanwältin und Justizministerin, kam am 14. Juni 2012 anläßlich ihrer Amtsübernahme zu einer bemerkenswerten Einschätzung. Diese betrifft nicht nur ihre eigene hochdotierte Arbeitsstelle, sondern die gesamte wohlgesponserte Institution ICC. Bensouda: »Wir sind eine juristische Einrichtung, aber wir agieren immer in einem politischen Rahmen.« Und den setzen andere.

Ihre Erfahrung sammelte Bensouda während jener fast acht Jahre, in denen sie als Stellvertreterin des Argentiniers Luis Moreno-Ocampo diente, eines an US-Universitäten und in TV-Gerichtsshows gestählten Juristen. Dessen ICC-Karriere war von Skandalen begleitet, doch insbesondere machte er von sich reden durch die Haftbefehle gegen amtierende oder ehemalige Staatspräsidenten: Omar Hassan Al-Baschir (Sudan), Muammar Al-Ghaddafi (Libyen) und Laurent Gbagbo (Côte d’Ivoire) – allesamt Politiker von Staaten, die nicht dem Rom-Statut, das die vertragliche Basis des ICC bildet, unterliegen, was Moreno-Ocampo indes nicht kümmerte.

Nach Ablauf seiner Amtszeit Mitte Juni 2012 nach neun Jahren wurde er sogar von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die seine Entscheidungen zuvor durchweg billigend gestützt hatte, als »selbstherrlich« gegeißelt: eine treffliche Charakterisierung seiner Person. Dabei erledigte der erste Chefankläger des am 1. Juli 2002 offiziell eröffneten ICC (siehe jW-Thema, 30.6/1.7.2012) doch lediglich und mit mehr oder weniger Fingerspitzengefühl seinen Auftrag, erteilt von einem fälschlich als »internationale Gemeinschaft« bezeichneten exklusiven Kreis mächtiger Staaten und Bündnisse. Deren politischer Kurs bestimmt die Arbeit des ICC und macht diesen in der Konsequenz zu einem Instrument supranationaler Klassenjustiz.

Ernüchterndes Fazit

Die zunächst von den Initiatoren in den ICC gesetzten Hoffnungen auf eine Art über den Dingen stehendes »Weltgericht« wurden enttäuscht – eine bittere Erfahrung insbesondere für jene etwa 1500 Nichtregierungsorganisationen, die sich Mitte der 1990er Jahre zur »Koalition für einen internationalen Strafgerichtshof« zusammengefunden hatten mit dem Ziel, ihre Einsatzbedingungen in den Krisengebieten dieser Erde zu verbessern. Mit dem – aktuell von 121 Staaten ratifizierten, 1998 verabschiedeten – Statut von Rom, auf dessen Grundlage der ICC arbeitet, sollte es möglich werden, weltweit die Protagonisten von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression persönlich zu verfolgen. Zudem sollte allein die Existenz eines derartigen Gerichtshofs durch Druck auf potentielle Täter für Prävention sorgen – eine Idee, die sich damals nach Beendigung der globalen Bipolarität und vieler neuer Konflikte in deren Folge aufdrängte.

Aus den Fakten nach zehn Jahren ICC ergibt sich ein durch und durch ernüchterndes Fazit: In Den Haag glänzt Justitia, die Göttin mit den verbundenen Augen, in den Händen Richtschwert und austarierte Waage, durch Einseitigkeit. Verfolgt wurden bisher ausschließlich mutmaßliche Täter vom afrikanischen Kontinent, aus Uganda, der DR Kongo, Kenia, Côte d’Ivoire, der Zentralafrikanischen Republik, Libyen, Sudan. Und auch in den fünf Vorermittlungen, die in anderen Erdregionen laufen, sind mit Honduras, Kolumbien, Afghanistan, Georgien, Korea – dort wird gegen den Norden wegen »Kriegsverbrechen« in Südkorea recherchiert – Staaten der Peripherie betroffen.

Westeuropa und Nordamerika blieben jedenfalls verschont. Keinerlei Rolle spielten in der ICC-Praxis die Verantwortlichen der großen imperialistischen Nord-Süd-Kriege der Gegenwart, von Afghanistan über Irak und Libyen bis Côte d’Ivoire. Angezettelt in den Metropolen des Westens, zuvorderst in Washington, London und Paris, mitgetragen meist auch von Berlin, Rom und von anderen Regierungen des NATO-Raums, geht es bei denen immerhin um den aktuell schwersten Bruch des Völkerrechts. Doch tangierte den ICC weder die befohlenen Aggressionen an sich, noch deren Folgen wie Kundus, Abu Ghraib, Guantánamo Bay, mobile Folterzentren, Erschießungen an Straßensperren in Bagdad oder Bombardierungen von sozialer Infrastruktur in Tripolis. Die 18 Richter und – als Scharfmacher – ihr Prosecutor Moreno-Ocampo haben den Gerichtshof zu einem streng-konturierten Organ des Nordens gegen den Süden entwickelt. Und so wird er dort im übrigen auch wahrgenommen.

Wenn nun die neue Chefanklägerin leise Kritik an der robusten Praxis ihres Vorgängers ansatzweise durchklingen läßt, versucht sie vor allem, das ramponierte Image des ICC aufzuhübschen. Moderatere Töne sollen den Charakter des Gerichts schwerer durchschaubar machen. Sie sei bereit, »Veränderungen zu verantworten«, sagt sie – ohne indes konkret zu werden. Bürgermedien interpretieren, sie sei eben eine bewährte »Teamspielerin« und setze nicht auf autoritäres, also abschreckendes, nur mühsam vermittelbares Gehabe. Indes: Seit wann bestimmt die Form den Inhalt?

US-Sonderweg

Sie werde, so Frau Bensouda, »neue Verfahren in Afrika anstrengen, wenn es sein muß, aber ich werde nicht zögern, anderswo genauso zu verfahren, wenn die Kriterien der Römischen Statute erfüllt sind«. Nicht gebunden an diese Kriterien ist unter anderen mit den USA die Supermacht der neuen und alten Krieger. Das Weiße Haus zog 2002 seine Unterschrift unter das Rom-Statut zurück und regelt seitdem, wie zuvor, den Umgang mit US-Straftätern im Ausland durch Allmacht – wie in Sachen der Oberbefehlshaber George W. Bush, Barack Obama und der nachfolgenden Hierarchie bis ins letzte Glied – oder durch bilaterale Abkommen mit betroffenen Staaten, um eine Überstellung seiner Bürger nach Den Haag zu verhindern.

Das haben manche Mitgliedsländer des Rom-Statuts, vor allem die Granden Europas, offensichtlich nicht nötig. So hätte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy 2011 zwingend vom ICC belangt werden müssen, nachdem seine Jagdbomber – gemeinsam mit britischen – in Libyen angegriffen und ungezählte Zivilisten getötet hatten. Insgesamt starben in dem von Paris, London und anderen NATO-Staaten mitgetragenen Krieg etwa 50000 Menschen. Auch in Côte d`Ivoire, der ehemals französischen Kolonie, liegt die Zahl der Opfer im fünfstelligen Bereich.

In der ivorischen Metropole Abidjan, in der sich auch der Regierungssitz befindet, sorgten die dort stationierten Trikolor-Truppen im März und April 2011 zusammen mit UN-Blauhelmsoldaten für den Sieg der Rebellenarmee eines unter obskuren Umständen zum Präsidenten gekürten ehemaligen Vizedirektors des Internationalen Währungsfonds (IWF). Alassane Ouattara, eilends unter dem Schutz ausländischer Truppen Anfang Dezember 2010 als Staatsoberhaupt in Abidjans »Hôtel du Golf« vereidigt, schrieb dem ICC umgehend am 12. Dezember, er erkenne dessen Gerichtsbarkeit an – offensichtlich in weiser Voraussicht, daß sein an einem von Paris unabhängigen Kurs Côte d’Ivoires orientierter Konkurrent, der langjährige Präsident Laurent Gbagbo, in absehbarer Zeit ebendort vor Gericht gestellt werden könnte. Ermittlungen des ICC gegen ihn liefen bereits. Letztlich ging Ouattaras Plan auf: In Anwesenheit von Nicolas Sarkozy wurde er auch offiziell zum Staatschef gekürt. Derweil saß der malträtierte Gbagbo hinter Gittern.

Tatsächlich hat sich der ICC im Laufe seines Bestehens nicht nur als einseitig ausgerichtetes Gericht konstituiert. Er wurde zudem in den beiden neuen Kolonialkriegen von 2011, die unter dem Vorwand der Verteidigung von Menschenrechten – Stichworte in Libyen wie Côte d’Ivoire: »Schutz der Zivilbevölkerung« – geführt wurden, selbst zur politischen Partei. Im vorgegebenen »politischen Rahmen« mischte er in Krisengebieten mit, die Konflikte anfeuernd und polarisierend. Das betrifft auch die Darfur-Krise im Sudan, selbst wenn dort bisher, und trotz des »Völkermord«-Vorwurfs von 2004 durch den damaligen US-Präsidenten George W. Bush, keine offene militärische Intervention stattfand.

In allen drei Fällen der Strafverfolgung von Staatschefs, den einzigen in der Geschichte des ICC, begab sich das Gericht in Den Haag an die Seite von seit langem oder kürzerem mit Waffen, Ausbildern, Knowhow, Manpower und politischem Beistand vom Westen geförderten Aufständen. Dazu dienten die Haftbefehle, von Moreno-Ocampo beantragt, von den Richtern meist unverändert gebilligt. Alle drei Fälle hat seine damalige Stellvertreterin Bensouda nun übernommen, wobei sich das Vorgehen gegen Muammar Al-Ghaddafi durch dessen Tod für den ICC erledigt hat. »Beendigung des Falls gegen ihn am 22. November 2011 in Folge seines Todes« vermerkte das Gericht lapidar.

Jagd auf Ghaddafi

Allerdings schien es eine Zeitlang so, als würde der »Fall Ghaddafi« den ICC trotz dessen Ableben weiter beschäftigen, wenn auch nicht mehr im ursprünglich verfolgten Sinne. Nunmehr ging es darum, die Umstände, unter denen der Oberst ums Leben gebracht wurde, aufzuklären. Am 13. Dezember 2011 hatte Moreno-Ocampo in New York unter dem Druck der Ereignisse immerhin »Ermittlungen zum Tod Ghaddafis« (FAZ, 17.12.2011) erwogen. Es gebe den »ernsten Verdacht«, daß es sich um ein Kriegsverbrechen handeln könnte. Über ein halbes Jahr danach allerdings herrscht diesbezüglich in Den Haag weitgehendes Schweigen vor. Und das aus gutem Grund, liefe doch der ICC Gefahr, daß seine schändliche Rolle im Libyen-Krieg zum Thema würde: Tatsächlich müßte das Gericht, was den Tod des Revolutionsführers betrifft, gegen sich selbst ermitteln.

Schon bald nach Beginn der Proteste in Bengasi hatte sich der ICC-Chefankläger Mitte Februar 2011 aufgeschlossen für eine Einmischung gezeigt. »Informationen zufolge greifen Truppen, die loyal zu Oberst Muammar Ghaddafi stehen, Zivilisten an«, stellte Moreno-Ocampo fest. Es könnte sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln, die gestoppt werden müßten. Am 2. März kündigte er die Einleitung von Ermittlungen an, und Anfang Mai ließ er verlautbaren, Haftbefehle gegen drei Personen zu beantragen, seit dem 27. Juni wurden Al-Ghaddafi, dessen Sohn Saif Al-Islam sowie der »militärische Führer« und Geheimdienstler Abdullah Al-Senussi steckbrieflich gesucht. »Mit ihrer Entscheidung sind die drei Richter dem Gesuch von Chefankläger Luis Moreno-Ocampo in Rekordzeit gefolgt«, kommentierte Die Welt.

Die Einmischung des ICC in Libyen und gegen Ghaddafi stützte nicht nur die aggressive Propaganda gegen den »Tyrannen« (Spiegel), sondern beförderte den Eindruck von Legitimität, den die völkerrechtswidrige Bombardierung Libyens besitze. Am 17. März setzten zuvorderst Frankreich und Großbritannien die Resolution 1973 im UN-Sicherheitsrat durch, zwei Tage später – die libysche Armee stand kurz vor der Einnahme Bengasis und also die Aufstandsmilizen kurz vor ihrer Niederlage – erfolgten die ersten Angriffe auf das Maghrebland. Sie sorgten für die militärische Wende. Die Hetzjagd auf Ghaddafi wurde von grotesken, haßerfüllten Ausbrüchen Sarkozys eingeleitet, der laut Le Monde tobte: »Wir werden ihm Staub zu fressen geben, wir zwingen ihn in die Knie!« Die »Rebellen« des »Übergangsrats« in Bengasi setzten schließlich ein Kopfgeld von 1,7 Millionen US-Dollar auf Ghaddafi aus. Tausende ekstatischer, außer Rand und Band geratene Männer trieben den Oberst in seinem Geburtsort Sirte in die Enge und ermordeten ihn. Auf dem Steckbrief des ICC stand zwar nicht »Wanted – dead or alive« (Gesucht – tot oder lebendig), doch war der Tod einkalkuliert – bei Al-Ghaddafi ebenso wie bei Gbagbo und wohl auch bei Al-Baschir.

Mißhandelt und ermordet

Schockierende Videos kursieren seit jenem 20. Oktober 2011 im Internet, die Erzählungen Beteiligter bestätigen die Grausamkeit einer Gruppe Bewaffneter, die im Namen der Menschenrechte handelten und sich auf den ICC-Haftbefehl beriefen. Die gefürchtete Brigade Waten (Heimat) hätte Ghaddafi gefangengenommen. In den ersten Sekunden sei er noch nicht geschlagen worden. Doch seien immer mehr »Kämpfer«, so der Spiegel, unter »Allahu akbar«-Rufen (Allah ist groß) zusammengeströmt – die Mißhandlungen sind kaum zu beschreiben. »Auf Handy-Bildern ist einer der Rebellen zu sehen, wie er dem Diktator einen Stock in den After stößt und sich ein dunkler Fleck auf der Khakihose ausbreitet« (Der Spiegel, 44/2011). Peter Scholl-Latour spricht von einer »Pfählung«. Er selbst hätte Ghaddafi, so der Publizist in einer ARD-Talkshow, »eine Kugel in den Kopf gegönnt und nicht, daß er gepfählt worden ist mit einer Eisenstange. Das ist eine Sauerei gewesen.«

Das Internetportal kriegsberichterstattung.de berichtet von Handyaufnahmen, die belegen würden, daß Ghaddafi mit einem Messer mit einer zirka 20 Zentimeter langen Klinge in den After gestoßen wurde. Es sei zu einer »Gesichtsskalpierung, bei der ihm auch ein Ohr abgeschnitten« worden sei, gekommen. Er sei elend verblutet. Sein Sterben sei von Aufständischen gefilmt worden. Später wurde der Körper des Toten halbnackt zusammen mit dem seines ebenfalls ermordeten Sohns Mutassim und des langjährigen Verteidigungsministers Abu Bakr Junis Dschabir über vier Tage hindurch, bis zum Verwesungsbeginn, ausgestellt und schließlich bei Nacht weggeschafft und in der Wüste verscharrt worden. Die Gräber von Ghaddafis Mutter, Großmutter und weiterer Angehöriger wurden aufgehackt, die Überreste der Leichen verschleppt.

Auch acht Monate danach bleibt unklar, ob sich der ICC mit dem Tod des von ihm selbst zur Fahndung ausgeschriebenen Staatschefs auch nur zu befassen gedenkt. Dessen Tochter Aischa Al-Ghaddafi hatte bereits Mitte Dezember vom ICC Ermittlungen gefordert. Ihr Vater und ihr Bruder seien auf brutalste Weise ums Leben gebracht, ihre Leichen gegen alle Regeln des Islams geschändet und zur Schau gestellt worden, schrieb ihr Anwalt Nicholas Kaufman an den ICC. Der renommierte Jurist aus Jerusalem erklärte, daß Aischa »schwer traumatisiert« sei »von der brutalen Art und Weise, auf die ihr Vater und ihr Bruder Mutassim ermordet wurden«.

Doch der ICC schweigt. Kaufman wartet derweil auf eine Entscheidung des Gerichts zum Gesuch seiner Mandantin, über den »Stand der Ermittlungen wegen des Mordes an Muammar Al-Ghaddafi, den der vormalige Chefankläger Luis Moreno-Ocampo als Kriegsverbrechen beschrieben hat«, zu informieren – so der Anwalt auf meine diesbezügliche Anfrage vom 26. Juni. Dagegen sah sich das Büro der Chefanklägerin bisher nicht dazu in der Lage, zum Ermittlungsstand Auskunft zu geben, wie in meinem Schreiben vom 22. Juni gewünscht. Offensichtlich herrscht Ratlosigkeit angesichts der aktuellen Entwicklung in Tripolis. Der »Fall Ghaddafi« könnte zum Bestandteil zukünftiger Verhandlungen mit der neuen Übergangsregierung – am 7. Juli sollen »die ersten freien Wahlen seit 40 Jahren« (taz) stattfinden – werden. Frau Bensouda hat ernste Probleme.

Konflikt unter Freunden

Die Ermittlungen gegen die seinerzeit zusammen mit Muammar Al-Ghaddafi zur Fahndung ausgeschriebenen Saif Al-Islam und Abdullah Al-Senussi laufen zwar weiter, doch mehr als zögerlich. Den Haag will die beiden Männer, die sich in den Händen libyscher Milizen befinden, wegen »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« anklagen und fordert deren Auslieferung. Doch steht die Politelite Libyens, ein Konglomerat aus religiösen Fanatikern, feudalen Clanchefs, Monarchisten, Technokraten und Karrieristen, dem Ansinnen nicht aufgeschlossen gegenüber. Offensichtlich möchte sie selbst kurzen Prozeß mit den Gefangenen machen und so ein spektakuläres Verfahren auf internationaler Bühne vermeiden.

Als diesbezüglich überdeutliches Signal ließen die Verantwortlichen in Tripolis Anfang ­Juni schon mal eine vierköpfige ICC-Abordnung festnehmen und in Untersuchungshaft wegen »Spionage« stecken, darunter die vom Gerichtshof bestimmte Pflichtverteidigerin von Saif Al-Islam, Melinda Taylor. Anläßlich deren Freilassung Anfang Juli sprach die libysche Seite zwar von einer »humanitäten Geste«, doch welcher Deal tatsächlich geschlossen wurde und ob auch der Mord an Ghaddafi eine Rolle gespielt hat, ist nicht bekannt.

Sollte der Westen der Geister, die er rief, nicht mehr Herr werden? Bisher läuft die gewünschte Neuausgabe von Öl- und Gas-Lizenzen zu günstigeren Bedingungen als in der Ghaddafi-Ära – die ausländischen Energiekonzerne mußten zwischen 80 und 90 Prozent der Produktionserlöse an die staatliche libysche National Oil Corporation abführen – eher schleppend wie auch die Vergabe von Aufträgen zum Wiederaufbau der zerbombten Infrastruktur an westliche Baufirmen. Zudem werden die unterschiedlichen Interessen von regionalen Führern und der Zentralregierung deutlich. Ölreiche Regionen fordern Autonomie, mit Abspaltungen wird gedroht, was aus dem »Great Man Made River«, dem weltweit größten Pipelinesystem zur Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, werden wird, ist nicht bekannt.

Tatsache dagegen ist, daß sich die politische Landschaft Afrikas grundsätzlich verändert hat. Mit dem Tod Ghaddafis verliert die Afrikanische Union (AU) ihren wichtigsten Geldgeber und antikolonialen Inspirator. Zudem habe sich der Libyer für eine afrikanische Einheitswährung eingesetzt – einer der Gründe, weswegen er beseitigt wurde, meint Professor Nicolas Agbohou. Die AU habe nunmehr keine klare, auf Unabhängigkeit des Kontinents gerichtete Orientierung mehr und werde sie auch nicht bekommen – gekapert seien die Strukturen, die die gestürzte libysche Regierung maßgeblich aufrechterhalten hatte, so der Politologe und Wirtschaftsfachmann an der Universität von Gabun.

Der Fall Gbagbo

Bereits in Sachen Côte d’Ivoire habe die AU »versagt«, wertete Agbohou auf meine Frage hin jüngst in Berlin. Der geborene Ivorer geht davon aus, daß Staatspräsident Gbagbo von Frankreich vor allem auch deswegen »weggebombt« wurde, weil er die Pariser Vorherrschaft infrage stellte. Die ehemalige Kolonialmacht sichere diese im Finanzbereich mit Hilfe der von ihr bestimmten Währung Franc CFA, deren Name mit der halbseidenen »Entkolonisierung« des französischen Zentral- und Westafrika 1958 von CFA für »Colonies Françaises d’Afrique« (»französische Kolonien Afrikas«) in »Coopération/Communauté Financière en Afrique« (»Finanzgemeinschaft in Afrika«) geändert wurde.

Gbagbo hatte, nachdem Paris in Côte d’Ivoire am 11. Februar 2011 von einem Tag auf den anderen sämtliche Banken, auch die Privaten, geschlossen hatte, den gesamten Finanzsektor nationalisiert – und damit die einzige Möglichkeit genutzt, den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Frankreich wählte schließlich den militärischen Weg, Gbagbo zu beseitigen. Er habe die Kreise Frankreichs in Westafrika »gestört«, so der linke französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon. Deswegen habe sich Paris in die inneren Angelegenheiten eingemischt. Am 11. April 2011 wurde er schließlich von den Rebellen mit Unterstützung der Kolonialtruppe »Opération Licorne« (Operation Einhorn) und UN-Soldaten gefangen genommen. Ende November verbrachten die frankophilen Regierenden in Abidjan den Politiker der antikolonialen Ivorischen Volksfront (FPI) nach Den Haag. Ab dem 13. August 2012 soll er dort wegen »indirekter« Beteiligung an Vergewaltigung, unmenschlichen Akten und Verfolgung vor Gericht stehen.

Der Fall Al-Baschir

Der sudanesische Staatspräsident Omar Al-Baschir, gegen den Moreno-Ocampo 2008 einen ICC-Haftbefehl beantragte, steht unterdessen weiter auf der Fahndungsliste. Ihm wird neben Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen seit 2010 auch Völkermord in der sudanesischen Westprovinz Darfur vorgeworfen. Dort, so Moreno-Ocampo, würden Millionen Flüchtlinge »unter Völkermordzuständen, wie in einem gigantischen Auschwitz« festgehalten. Zwar erklärten nahezu alle afrikanischen Staaten, daß sie den Haftbefehl gegen Al-Baschir ignorieren würden, trotzdem stellt sich die Lage des Präsidenten alles andere als rosig dar. Der Quotenstreit um die Öleinnahmen mit dem vor einem Jahr am 9. Juli 2011 abgespaltenen, nun unabhängigen Südsudan hält ebenso an wie der – offensichtlich von außen unterstützte – Krieg zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Gruppen in Darfur.

Seit 1993 steht der Sudan – nach Syrien, Kuba und Iran – auf der US-Liste für »Schurkenstaaten«. Davon profitierte zwar zunächst China, das das westliche Embargo gegen Khartum als eine Art »Lückenbüßer« füllte und dafür mit Geld, Investitionen und der Schaffung von Infrastruktur zahlte. Doch hat die Niederlage der antikolonialen Kräfte in Libyen, Côte d’Ivoire und infolgedessen der AU auch die Süd-Süd-Kooperation des afrikanischen Kontinents insgesamt geschwächt.

Claudia Roth tanzt

Unterdessen saßen Grüne-Vorsitzende Claudia Roth, ehemals Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, gemeinsam mit Barbara Lochbihler, EU-Parlamentarierin und ehemals Vorsitzende von Amnesty Deutschland, wegen eines Milizenüberfalls in Libyen fest. Sie blieben unversehrt, und »Roth tanzte in Tripolis spontan mit Einheimischen zu libyscher Musik auf dem Markt. Zehn Monate nach der Eroberung der Stadt durch die Rebellenkämpfer gegen Diktator Muammar Al-Gaddafi guckte sich Roth gemeinsam mit der Grünen-Europaabgeordneten Barbara Lochbihler die Graffiti der Revolutionäre an den Hauswänden an«, berichtete dpa. Lochbihler bilanzierte letztlich kritisch, daß sich »auch weiterhin rund die Hälfte der 8000 Gefangenen in der Hand bewaffneter Revolutionstruppen« befänden. »Immer wieder hörten wir Berichte von Folter und Mißhandlung in Gefangenschaft, auch von zahlreichen Todesfällen war die Rede. Selbst zum Verkauf von Gefangenen soll es gekommen sein. Das ist nichts anderes als Sklavenhandel, vor unserer europäischen Haustür.«

Die Stimmung im Land sei »fast euphorisch«, meinte dagegen Roth. »Man spürt den Durst nach einem Neubeginn.« Ihr Altvorderer, der ehemalige BRD-Außenminister Joseph Fischer, hatte die Enthaltung der BRD im UN-Sicherheitsrat im März 2011 »ein einziges Debakel, vielleicht das größte seit Gründung der Bundesrepublik« bezeichnet. Deutschland hätte die Einrichtung einer Flugverbotszone unterstützen müssen – das Mandat, das die Westmächte ach so »großzügig« auslegten, wie der Spiegel bemerkte: Sie »wirkten im Kampf gegen Ghaddafi de facto als Luftwaffe der Rebellen«. Und der ICC als deren juristische Vorhut.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Juli 2012


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