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Tante Tom

Hintergrund. Eine Afrikanerin in Den Haag: Vor einem Jahr übernahm Fatou Bensouda aus Gambia die Chefanklage am Internationalen Strafgerichtshof

Von Gerd Schumann *

Einen Tadel der besonderen Art fing sich jüngst Fatou Bensouda auf dem Gipfel der Afrikanischen Union (AU) Ende Mai in Addis Abeba ein. Man erwischte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) unvorbereitet und an ihrer empfindlichsten Stelle: Der ICC sei »rassistisch«, hieß es im Abschlußkommuniqué – ein in dieser Schärfe bisher singulärer Vorwurf gegen die seit 2002 in Den Haag tätige Institution. Als mittlerweile fester Bestandteil der internationalen Strafjustiz schwankt deren Ruf zwischen schlecht und miserabel – vor allem auf der südlichen Erdhalbkugel. Von dort stammt Bensouda. Man sehe in ihr eine »Marionette des Westens«, wie sie selbst sagt.

Eurozentrismus

Angela Merkel, Regierungschefin des EU-Schwergewichts BRD, reagierte umgehend auf den Rassismusvorwurf der AU und schickte Günter Nooke zum Deutschlandfunk, um Stellung zu beziehen. Der vom »DDR-Bürgerrechtler« zum »Afrikabeauftragten« aufgestiegene Parteifreund der deutschen Kanzlerin kritisierte am 29. Mai den afrikanischen Staatenbund in eurozentristischer Manier: Es würden »die Probleme, die man vielleicht selbst hat, nach außen verlagert und andere in einer Art und Weise beschimpft und mit etwas belegt, wofür es keinerlei Beweise gibt«. Jedenfalls weise Deutschland den Rassismusvorwurf gegen den ICC »klar« zurück. Man habe sich schließlich »sehr um diesen Strafgerichtshof bemüht«. Immerhin wird der Löwenanteil des Jahresbudgets – 2013 sind es 115 Millionen Euro – von europäischen Staaten getragen, darunter Deutschland als größter Beitragszahler.

Nooke führte zudem ein neuerdings beliebtes Argument dafür, daß der ICC »unabhängig arbeitet« und Afrika eben nicht benachteilige, ins Feld: »Man muß sich natürlich auch bewußt machen, daß die aktuelle Chefanklägerin aus einem afrikanischen Land kommt«, sagte er. Tatsächlich dienten als Hauptgründe für die Wahl Bensoudas zur Leiterin des »Office of the Prosecutor« (Büro der Anklage) weniger ihre juristische Qualifikation als vielmehr Herkunft und Hautfarbe. Als Afrikanerin erzeuge sie quasi automatisch eine neue Glaubwürdigkeit, hieß es. Sie sei geradezu prädestiniert, das in den vergangenen Jahren verfestigte ICC-Image der Parteilichkeit zu relativieren – und auch zu korrigieren. Beispielsweise könnte sie dessen bisherige Praxis ändern, ausschließlich Afrika betreffende Strafverfahren zu eröffnen. Zudem sei es ihr möglich, bei einigen der verfolgten sieben »Situations« (in Uganda, Tschad, Zentralafrika, Demokratische Republik Kongo, Kenia, Côte d’Ivoire, Sudan, Libyen) den Eindruck von Willkür und Selektivität aufzulösen.

Das alles geschah nicht. Statt dessen beschäftigt sich die Chefanklägerin mit einem weiteren afrikanischen Staat (Mali) und fügt sich so in die heikle, ihr zugewiesene Rolle des weiblichen Onkel Toms. »Uncle Tom« werden in den USA Afroamerikaner genannt, die sich freiwillig Weißen unterordnen.

Dienerin westlicher Geostrategie …

Zur Person: Fatou Bensouda, 52 Jahre alt, Juristin, in den 1990ern Oberstaatsanwältin sowie Justizministerin (bis März 2000) im westafrikanischen Gambia. Am ICC diente die Mutter von drei Kindern ab 2004 acht Jahre lang dem eitlen, selbstherrlichen, vor allem jedoch gefährlich ignoranten und kritikresistenten Chefankläger Luis Moreno Ocampo als Stellvertreterin. Im Dezember 2011 ohne Gegenkandidatur einhellig von den damals 121 Mitgliedsstaaten des ICC dazu bestimmt – mittlerweile war noch Côte d’Ivoire hinzugekommen –, übernahm sie dessen Posten offiziell am 16. Juni 2012. Die anspruchsvolle Aufgabe lautet, auf Basis des Rom-Statuts von 1998 Vergehen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen zu verfolgen. Ihre Amtszeit ist, wie die ihres Vorgängers, auf neun Jahre ausgelegt.

Der Gambierin wird nachgesagt, sie sei im Gegensatz zum zuvor autokratisch agierenden Argentinier eher eine Teamplayerin. Und tatsächlich hatte sie ihren Vorgänger zunächst leicht kritisiert: »Es ist meine Aufgabe, seine Aufbauarbeit zu schützen, aber wir haben auch Veränderungen nötig. Ich bin absolut bereit, diese Veränderungen zu verantworten.« Solange sie im Rahmen bleiben, hätte sie hinzufügen müssen, als sie das Zauberwort »Change« öffentlich aussprach. Denn, so Thomas Scheen, Afrikakorrespondent der Frankfurter Allgemeinen, am 14. Juni 2012: Bensouda habe »das entscheidende Problem des Strafgerichtshofes« »haarscharf« erkannt, als sie formulierte: »Wir sind eine juristische Einrichtung, aber wir agieren immer in einem politischen Kontext.«

Folgerichtig blieb die oft als »Internationale Gemeinschaft« bezeichnete globale Vorherrschaft des Imperialismus auch am »Weltstrafgericht« unangetastet. Dessen Kurs im Fahrwasser der Mächtigen hatte bis dato Moreno Ocampo wie kein anderer personifiziert. In seiner beeindruckend offenen Art, den ICC politisch zu instrumentalisieren, hatte er insbesondere mit seinem Vorgehen gegen amtierende Staatschefs die Einbindung des Haager Gerichtshofs in die Geostrategie des Westens geradezu provokativ demonstriert. Inmitten hochbrisanter Krisenlagen beantragte er Haftbefehle gegen Omar Hassan Al-Baschir (Sudan), Muammar Al-Ghaddafi (Libyen) und Laurent Gbagbo (Côte d’Ivoire). Er mischte sich somit offensiv auf seiten der jeweiligen Opposition ein – in Darfur wie in Bengasi und Abidjan.

Bensoudi verfolgt diesbezüglich – jeweils unter Anerkennung der Legitimität jener völkerrechtswidrigen »Menschenrechtskriege« in Libyen, Côte d’Ivoire und jüngst in Mali – weiterhin stur die vorgegebene Linie ihres ehemaligen Chefs. In der Folge schwinden stetig Autorität und Ansehen des ICC. Ein Ende des Niedergangs ist nicht in Sicht. Das Verfahren gegen Mali, eingeleitet unter Bensouda, ist hierfür in jeder Beziehung typisch.

… in Mali …

Am 16. Januar 2013 begannen Ermittlungen in Mali; geforscht wurde nach Verbrechen ab Januar 2012. Beantragt worden war das juristische Eingreifen in dem Sahelstaat im Juli 2012 durch die provisorische Regierung in dessen Hauptstadt Bamako, einerseits abhängig von Putschisten aus der Armee, andererseits von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und der von ihr gesteuerten westafrikanischen Gemeinschaft ECOWAS.

Der Zeitpunkt war Programm: Im Januar 2012 begannen im Norden Malis die Großoffensiven der Nationalen Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA), einer laut eigener Programmatik multi­ethnischen, laizistischen Organisation im Siedlungsgebiet der Tuareg. Sie verlangte zunächst mehr soziale Rechte und Autonomie für Malis drei Nordprovinzen. Schließlich rief sie – nach der totalen Niederlage der zerrütteten malischen Armee sowie gescheiterten Verhandlungsbemühungen – am 6. April 2012 die Unabhängigkeit eines »Staates Azawad« aus. Dieser existierte aber nur kurz.

Azawad wurde sofort international geächtet, was die an politischen Lösungen des Konflikts interessierte MNLA gegenüber den fundamentalistischen Bündnispartnern um Ansar Dine entscheidend schwächte. Diese islamistische Gruppierung verdrängte die Befreiungsbewegung der Tuareg als führende Kraft, verbreitete Schrecken und zerstörte Kulturdenkmäler. Derweil bestand das politische Machtvakuum im Süden des Landes weiter. Eine Restrukturierung der malischen Armee mit Hilfe des Westens erwies sich als kurzfristig nicht machbar. Der Westen entschied, zur Sicherung seiner geostrategisch wichtigen Einflußsphäre selbst militärisch einzugreifen. Erst die neokolonialistische Hightech-Intervention französischer Truppen führte zur – scheinbaren – Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Dabei kam es zu massiven Übergriffen auf Zivilisten und zu Racheakten an Aufständischen durch die malische Armee. Nichts deutet derzeit darauf hin, daß sich die Haager Ermittler damit beschäftigen werden.

Allen bisherigen Erfahrungen zufolge werden sie sich ausschließlich den Ereignissen im Zuge des Aufstands im Norden widmen und damit der Einseitigkeit, jetzt vertreten durch Bensouda, verpflichtet bleiben. Die Chefanklägerin hatte dies signalisiert, als sie Anfang Juli 2012 die Angriffe der Ansar Dine auf die Sidi-Yahia-Moschee in Timbuktu als »Kriegsverbrechen« bezeichnete. Zu französischen Bombardements und zu Gewalttaten der Verbündeten Frankreichs sagte sie nichts.

… und in der DR Kongo

Das erste Urteil des ICC wurde Juli 2012 gesprochen. Bensouda war also schon Chefanklägerin. Es betraf den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubango Dyilo, der der Rekrutierung von Kindersoldaten beschuldigt wurde. Lubango, 2006 verhaftet, erhielt eine Haftstrafe von 14 Jahren. Gegen zwei weitere Chefs von bewaffneten Gruppierungen, die in den rohstoffreichen Provinzen im Südosten der Demokratischen Republik Kongo agierten, laufen Prozesse. Darüber hinaus wird gegen die Hutu-Rebellentruppe FDLR ermittelt.

Es gibt viele Akteure in der »Schatzkammer Afrikas«, die gegen geltendes Gesetz verstoßen. Das Problem indes besteht darin, daß einige – offensichtlich bewußt – verschont bleiben. Das betrifft in den Kivu-Provinzen neben weiteren bewaffneten Verbänden die kongolesische Armee. Auch die Nachbarstaaten Uganda, Ruanda und Burundi spielen eine Rolle. Das gilt sowohl für den Einsatz von Soldaten – Ruandas Armee war lange Zeit Interventionspartei im Kongo – als auch für die Unterstützung oder Installation von Söldnergruppen. Letztlich bleiben diese Kräfte, allesamt westlich orientiert, unbehelligt. Der Handel mit den in der kongolesischen Republik gestohlenen Bodenschätzen – Coltan, Diamanten, Gold und andere Erze – läuft weiter über das ruandische Kigali in Richtung Norden zu den Abnehmern in diversen Konzernzentralen.

Der Kongo als »der erste große Ermittlungskomplex in Den Haag« ist beispielhaft dafür, wie »sowohl die horizontale als auch die vertikale Selektivität der Strafverfolgung die Legitimität und die Effizienz des Weltstrafgerichts in der gesamten Region massiv beeinträchtigten«, wertet Wolfgang Kaleck in seinem Buch »Mit zweierlei Maß« die Folgen für das ICC-Image. Das betrifft im übrigen ausnahmslos alle bisher dort behandelten Fälle. Das hat System, weil der ICC Teil des Systems ist.

Die wahren Kriegsherren verschont

Generell machten der Gerichtshof und dessen Chefanklage während ihrer nun bald elfjährigen Tätigkeit keinerlei Anstalten, gegen die wichtigsten »Masters of War« vorzugehen. Dabei mutet das Argument, US-Präsidenten könnten nicht verfolgt werden, da die Vereinigten Staaten das Rom-Statut nicht anerkennen, etwas sonderbar an: Dasselbe trifft auf Sudan und Libyen zu. Während jedoch die völkerrechtswidrige Irak-Invasion, die Folterskandale von Abu Ghraib und Guantánamo, die Bomben auf Libyen und die Drohnenangriffe auf die pakistanische Bevölkerung für die verantwortlichen Präsidenten George W. Bush und Barack Obama folgenlos blieben, erließ der ICC auf dem Höhepunkt des Darfur-Konflikts, in einer Bürgerkriegssituation also, Haftbefehl gegen Al-Baschir, den Präsidenten Sudans.

Zu den Rätseln, die Bensoudas Agieren im vergangenen Jahr aufgibt, gehört die Frage, warum sie in der Sache Al-Baschir nicht die Chance nutzte, einen »Change« des ICC-Kurses wenigstens zu probieren. Wider jegliche Vernunft hält sie den Haftbefehl aufrecht. So war das Staatsoberhaupt – gesucht auf Betreiben von George W. Bush auch wegen »Völkermords« – wiedergewählt worden und reiste ungeachtet des Fahndungsaufrufs im April 2013 sogar in den vom Sudan abgespaltenen Staat Südsudan. Unübersehbar ist: Ein Vorgehen gegen den sudanesischen Präsidenten im Sinne des ICC würde die Konfliktlösung in der gesamten Region – auch in der zerrütteten Sahelzone mit Zentralafrika, dem Tschad, Mali, Niger – nachhaltig beeinträchtigen. Nichtsdestotrotz forderte Bensouda erst kürzlich von den afrikanischen ICC-Mitgliedern, den Haftbefehl gegen Al-Baschir umzusetzen. Auf diese Weise isoliert sie sich weiter.

Nicht nur bezüglich der USA, sondern ebenso Israels als Nichtunterzeichner des Rom-Statuts, präsentiert sich der Gerichtshof von seiner Gründung im Jahr 2002 an geradezu autistisch. Großbritannien und Frankreich erkennen den ICC zwar an, ihre ehemaligen und gegenwärtigen Staatschefs – Anthony Blair, David Cameron, Nicolas Sarkozy, François Hollande – und andere an »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« beteiligte Personen laufen jedoch nicht ansatzweise Gefahr, wegen Straftaten in Irak, Libyen sowie Côte d’Ivoire und Mali behelligt zu werden. Auch der deutsche Exoberst Georg Klein – mittlerweile zum Brigadegeneral aufgestiegen – kann sich trotz des von ihm am 4. September 2009 verursachten Massakers im afghanischen Kundus an etwa 140 Zivilisten in Sicherheit wiegen.

Simone Gbagbo

Dagegen fiel Simone Gbagbo tief. Dabei hätte Bensouda gerade im Fall der ivorischen »Première Dame« (2000–2011) Rückgrat zeigen können. Die Chefanklägerin wirft deren Ehemann und damaligem Präsidenten Laurent Gbagbo eine indirekte Beteiligung an »Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mißhandlungen und sexueller Gewalt, Drangsalierung und anderen unmenschlichen Taten« vor. Nun geht sie auch gegen dessen Frau vor, indem sie im November 2012 – Bensouda war da bereits fünf Monate im Amt – die Auslieferung der Literaturwissenschaftlerin, ehemaligen Freiheitskämpferin und Leiterin der antikolonialen Regierungspartei Ivorische Volksfront forderte.

Simone Gbagbo wäre die erste Frau, die in Den Haag einsitzen würde. Dabei ist immer noch die ICC-Zuständigkeit für die Monate nach den Wahlen in Côte d’Ivoire, die im November 2010 stattfanden, strittig. Die Erklärung des ivorischen Außenministeriums aus dem Jahr 2003, mit der die Haager Gerichtsbarkeit seinerzeit anerkannt wurde, bezog sich auf das Putschszenarium von 2002. Eine erneute Bekräftigung der Anerkennung erfolgte im Dezember 2010 ausgerechnet durch Alassane Ouattara, Gbagbos Gegenkandidat bei den Wahlen und Drahtzieher des Putsches von 2002, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Machtfrage offen war. Gbagbo wie Ouattara beanspruchten den Wahlsieg für sich, und erst der Einsatz von französischen Truppen und UN-Blauhelmen auf seiten der Rebellen entschied Anfang April 2011 die Situation zugunsten des ehemaligen IWF-Spitzenkaders und Milliardärs Ouattara. Der antikolonial agierende Gbagbo landete Ende 2011 hinter Haager Gittern und steht nun – angeklagt von Bensouda – vor Gericht.

Bis heute verweigern sich aber die neuen politischen Herrscher in Abidjan dem ICC-Gesuch, Simone Gbagbo zu überstellen. Sie befindet sich in den Händen der obsiegenden, vom Westen gestützten Aufständischen, die ihre Gefangene offensichtlich als eine Art Faustpfand betrachten. Unstrittig ist selbst im Westen, daß im ivorischen Bürgerkrieg und auch nach der Gefangennahme der Gbagbos seitens der »Rebellen« unzählige Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Forderungen an den ICC, daß diese – auch um den Schein der Überparteilichkeit zu erzeugen – ebenfalls behandelt werden müßten, zeigten bisher keine Wirkung. Schließlich hatte auch der ICC zum Sieg von Ouattaras Leuten beigetragen.

Die 63jährige Gbagbo hat derzeit keinen Kontakt zu ihren Anwälten und zur Familie. Sie wird an einem geheimen Ort festgehalten. Die Mutter von fünf Kindern ist gesundheitlich angeschlagen. Anfang Mai ließ Präsident Ouattara – offenbar unter Druck geraten – zwar deren medizinische Untersuchung in Abidjan zu, doch wurde die Gefangene danach in den Norden des Landes deportiert – und nicht, wie vom ICC verlangt, nach Den Haag. Regierungssprecher Bruno Kone, zugleich ivorischer Informationsminister, deutete die Umstände an, unter denen Simone Gbagbo gefangengehalten wird: »Wenn man in Haft ist, befindet man sich nicht in einem Fünf-Sterne-Hotel. Sie kann nicht bei jeder kleinen Erkältung über die Haftbedingungen herziehen.«

Der Ghaddafi-Sohn

Das Gezerre um Simone Gbagbo gleicht dem Umgang mit Ghaddafi-Sohn Saif Al-Islam und dem ehemaligen libyschen Geheimdienstchef Abdallah Al-Senussi. Beide waren vom ICC zusammen mit Muammar Al-Ghaddafi im März 2011 zur Fahndung ausgeschrieben worden und sind in Libyen inhaftiert.

Spätestens seit dem internationalen Skandal, den sich die neue libysche Politelite Mitte 2012 leistete, ist das Verhältnis zu Den Haag mehr als gespannt. Die Rebellenregierung ließ eine vierköpfige ICC-Abordnung festnehmen und in Untersuchungshaft wegen »Spionage« stecken, darunter die vom Gerichtshof bestimmte Pflichtverteidigerin von Saif Al-Islam, Melinda Taylor.

Welcher Deal letztlich drei Wochen später zu deren Freilassung führte, ist nicht bekannt. Tripolis sprach von einer »humanitären Geste« und strengte kurz darauf einen eigenen Prozeß gegen den Ghaddafi-Sohn an. Ihm wird paradoxerweise »Geheimnisverrat« an den ICC vorgeworfen. Das Verfahren soll am 19. September fortgesetzt werden. An einer Auslieferung des Angeklagten nach Den Haag besteht derzeit kaum Interesse. Die Rebellen müssen fürchten, mit ihren Übergriffen – Lynchmorde, Folter, Tötungen vor allem schwarzafrikanischer Arbeiter, illegale Verhaftungen – ebenso konfrontiert zu werden wie mit der grausamen Ermordung Ghaddafis am 20. Oktober 2011. Folgerichtig dienen die Gefangenen als Rückversicherung.

Doch auch am ICC dürfte in Sachen »Libyen« Zurückhaltung dominieren. Moreno Ocampo hatte im Dezember 2011 zwar leichtfertig »Ermittlungen« zu den Todesumständen des libyschen Revolutionsführers erwogen und von einem »ernsten Verdacht« gesprochen, daß es sich um ein Kriegsverbrechen handeln könnte. Seitdem gibt Den Haag keine Auskunft zum Stand eventueller Nachforschungen, die Aischa Al-Ghaddafi, die Schwester des Gefangenen Al-Islam, Mitte Dezember 2011 beim Strafgerichtshof ICC beantragt hatte. Ihr Vater und ihr Bruder Mutassim seien auf brutalste Weise ums Leben gebracht, deren Leichen gegen alle Regeln des Islams geschändet und zur Schau gestellt worden, schrieb ihr Jerusalemer Anwalt Nicholas Kaufman damals an den Gerichtshof.

Es ist unwahrscheinlich, daß überhaupt erwogen wird, dem Verdacht des damaligen Chefanklägers nachzugehen. Denn das wäre nicht opportun. Libyen ist kein ICC-Mitglied. Und die Resolutionen 1970 und 1973 des UN-Sicherheitsrats, auf deren Grundlage die Koalition der Willigen inklusive des ICC in Libyen angriffen, sind zwar Dokumente des Grauens, aber eben auch Beschlüsse. Außerdem ist angesichts der ungezählten Ziviltoten, die den westlichen Luftattacken zum Opfer fielen, die Zusicherung Den Haags im Vorfeld des Überfalls, den Angreifern Immunität von der Strafverfolgung zuzusichern, völlig ungeeignet, das lädierte Image des ICC zu verbessern.

Anspruch und Praxis

Die Fälle Al-Islam und Simone Gbagbo offenbaren einmal mehr die Parteinahme, die der vormalige Chefankläger praktizierte, und zeigen andererseits die unter Bensouda wachsenden Widersprüche zwischen proklamiertem Anspruch – Verfolgung von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« – und selektiver Praxis. Wenn dann noch, wie im Fall Uhuru Kenyatta ein von Bensouda steckbrieflich Gesuchter zum Präsidenten Kenias gewählt wird, läßt sich die zwiespältige Lage, in die sich der ICC ohne Not selbst manövriert hat, nicht mehr kaschieren. Es kommt zu Protesten wie denen eingangs dargestellten der AU.

Das einseitige Vorgehen des ICC wird erst recht öffentlich nicht mehr vermittelbar, wenn sich diejenigen, die in der Vergangenheit davon profitierten, nun gegen das Gericht wenden. Siehe Côte d`Ivoire, siehe Libyen. Und demnächst Syrien?

Baschar Al-Assad

Die Schweiz und 57 mitunterzeichnende Staaten verlangten bereits im Januar 2013 vom UN-Sicherheitsrat, wegen der Situation in Syrien den ICC einzuschalten. Dieser könnte dann Ghaddafi-erprobt und bewährt einseitig Haftbefehl gegen Präsident Baschar Al-Assad erlassen. Erstmals geriete ein außerafrikanischer Fall auf die ICC-Agenda. Allerdings scheinen Teile des UN-Sicherheitsrats mit den Vetomächten Rußland und China an der Spitze aus der libyschen Tragödie gelernt zu haben, als sie mit der naiven Billigung von Resolution 1973 durch Enthaltung der westlichen Invasion Tür und Tor öffneten und, nebenbei bemerkt, alle Bemühungen der AU um eine politische Lösung zunichte machten.

Moreno Ocampo übernahm damals den juristischen Part gegen Libyen und unterstützte den Krieg flankierend, doch tatkräftig von Den Haag aus. Dort stände diesmal Bensouda zur Verfügung, und sie würde einen Haftbefehl rechtfertigen und jegliche Kritik in bewährter Art abbügeln – wie vor ihrem Amtsantritt 2012 die aus Afrika. Einige Politiker des Kontinents versuchten, so Bensouda seinerzeit, den ICC »zu diffamieren und als Instrument der ehemaligen Kolonialmächte zur Durchsetzung von deren Interessen darzustellen«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013


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