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Endet Nürnberg nun in Afrika?

William A. Schabas beschreibt die Zwickmühle, in der sich die internationale Strafjustiz befindet

Von Philipp Martin *

Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass es auf der heute in Kapstadt beginnenden Tagung »Afrika und der Internationale Strafgerichtshof« heiß hergehen wird. Auf dem Sondergipfel der Afrikanischen Union Mitte Oktober waren bereits harsche Töne an die Adresse von Den Haag zu hören. Der Westen wurde angeklagt, den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) »zu benutzen, um Politiker ihrer Wahl zu installieren und missliebige afrikanische Führer auszuschalten«. Kenia ist bereits aus dem IStGH ausgetreten. Aus Protest gegen die eröffneten Verfahren gegen Präsident Kenyatta und dessen Vize Ruto, die der Anstiftung zu hundertfachem Mord, Vertreibung und Raub angeklagt sind.

Droht eine Austrittswelle afrikanischer Staaten? Diese Befürchtung hatte schon zur Einberufung einer internationalen Konferenz unlängst in Berlin geführt. Tatsächlich betreffen die 18 derzeit am IStGH anhängigen Fälle nur Afrika. Auf der Berliner Tagung »Präsidenten vor Gericht – Ein Meilenstein für die internationale Strafjustiz?« wiederholte Hans-Peter Kaul, Richter am IStGH, sein Sondervotum zur Eröffnung der Verfahren gegen Kenyatta und Ruto. Die den beiden zur Last gelegten Verbrechen seien rein nationale und müssten von der kenianischen Justiz geahndet werden. Und Zhu Wenqi von der Renmin Universität in Beijin/China verwies auf das Komplementaritätsprinzip des IStGH, also der vorrangigen nationalen Strafverfolgung, bevor Den Haag eingreifen kann.

Passend zur Kontroverse liegt nun auf Deutsch das Buch von William A. Schabas vor. Der Professor für internationales Recht in London und Lehrstuhlinhaber an der University of Ireland untersucht akribisch, ob und inwieweit die internationale Strafjustiz politisch interessengeleitet ist. Zunächst bietet er einen historischen Exkurs zur Geschichte der internationalen Gerichtsbarkeit. Er würdigte den Alliierten Militärgerichtshof in Nürnberg 1945/46 gegen Haupt- und Nazikriegsverbrecher als Geburtsstunde des modernen Völkerstrafrechts. Nach Ansicht von Schabas hat das Nürnberger Tribunal vor allem drei wichtige Einsichten und Grundsätze fixiert: Erstens, Aggressionskriege sind ein Völkerrechtsverbrechen. Zweitens, auch Gräueltaten einer Regierung gegen das eigene Volk sind als internationale Verbrechen anzusehen. Und drittens ist es die Pflicht aller Staaten, dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen für internationale Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Demnach wäre die Sache im Falle Kenyatta-Ruto klar. Oder etwa doch nicht?

Schabas erinnert an die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda in den 1990er Jahren. »Sie schienen zunächst nur ein Experiment zu sein. Doch die Idee entwickelte eine erstaunliche Dynamik.« Am 1. Juli 2002 trat das Römische Statut in Kraft. Innerhalb eines Jahres waren Richter und Ankläger gewählt. Und der Gerichtshof konnte seine Tätigkeit aufnehmen, die seitdem von hochbrisanten politischen Debatten begleitet wird – wie schon das Sondertribunal gegen Milošević, dessen Anhänger von Siegerjustiz sprachen. Schabas fragt: Wer hat Angst vor Siegerjustiz? Zugleich diskutiert er, ob Den Haag die Anforderung an die Neutralität internationaler Rechtsprechung erfüllen könne? Wie groß ist der Einfluss der Politik? Wie agieren internationale Gerichte im Spannungsfeld zwischen Friedenssicherung und Gerechtigkeit? Verbietet das Völkerrecht Amnestien? Darf der IStGH die Immunität von Staatsoberhäuptern aufheben? Artikel 27 des Römisches Statuts ist eindeutig: keine Immunität für Staatsoberhäupter bei Völkerrechtsverbrechen.

Auf der Berliner Tagung hatte – Kaul widersprechend – Njonjo Mue, Mitglied des Obersten Gerichts von Kenia, gefordert, dass der IStGH »auf seinem Kurs bleiben« und die (momentan auf Februar 2014 vertagten) Verfahren gegen Kenyatta und Rutu fortführen solle. Sein Landsmann Haron Ndubi nannte diese »einen wichtigen Faktor für den Heilungsprozess in Kenia«. Der Terroranschlag auf das Einkaufszentrum »Westgate« in Nairobi sei nur willkommener Anlass für die Regierung gewesen, die Aussetzung der Verfahren zu verlangen und aus dem IStGH auszutreten. Den Haag dürfe sich jedoch nicht mit dem Argument des »Kampfes gegen Terrorismus« erpressen lassen. Straflosigkeit, warnte Ndubi, zementiere den Status quo. Die Mächtigen können weiter Verbrechen begehen.

Schabas schreibt: »Die internationale Justiz gilt immer stärker als unverzichtbarer Bestandteil der Bemühungen der Vereinten Nationen und regionalen Organisationen, Konflikte zu beenden und dauerhaften Frieden zu schaffen.« Wird die »Causa Afrika« nun den mit Nürnberg begonnenen, hoffnungsvollen Weg beenden? Die derzeitige Chefanklägerin in Den Haag, Fatou Bensouda aus Gambia, hat zwar stets dem Vorwurf der Voreingenommenheit des IStGH gegenüber Afrika bestritten. Und auch Kaul beteuert, in seiner zehnjährigen Tätigkeit am hohen Gericht nie eine anti-afrikanische Haltung erlebt zu haben. Die Wahrnehmung ist in Afrika offenbar eine andere. Und nicht nur dort. So titelte der Berliner Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck sein zum zehnten Jahrestag des IStGH erschienenes Buch: »Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht« (Wagenbach, 2012).

Fünf der 21 am IStGH tätigen Richter, darunter der Vizepräsident, sind Afrikaner. Und mit 34 Mitgliedern stellt Afrika die größte Gruppe der Signatarstaaten. Ist insofern zukünftig eher eine zu starke Einflussnahme afrikanischer Staaten zu fürchten? In Berlin wurden diese als hochverdiente Mitbegründer und Unterstützer des IStGH gewürdigt.

Schabas referiert die Verwunderung der Weltöffentlichkeit, warum sich Den Haag nicht Verbrechen etwa in Sri Lanka oder Myanmar annimmt. Und er beklagt zwei verpasste Chancen: 2006 bekannte der Chefankläger, ihm lägen Beweise vor, dass britische Truppen in Irak Gräuel begangen hätten; es kam nicht zu einer Anklageerhebung. 2012 lehnte Moreno-Ocampo die Einleitung einer Untersuchung zu 2009 in Gaza begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab. »Zu Beginn seines zweiten Jahrzehnts steht der Internationale Strafgerichtshof an einem Scheideweg«, bemerkt Schabas. Er könne den kommoden traditionellen Weg gehen. Oder einen Weg einschlagen, auf dem er Konflikte mit den Großmächten riskiert. Und, was man in Kapstadt wohlwollend registrieren dürfte: »Dieser zweite Weg wird zugleich aber zu einer Annäherung an die Staaten der südlichen Hemisphäre und an die Menschen führen, die weltweit nach einer wirklich universellen, fairen und gerechten Justiz verlangen, bei der alle vor dem Gesetz gleich sind.«

William A. Schabas: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Die Rolle der internationalen Strafjustiz. Hamburger Edition, 2013. 104 S., geb., 12 €

* Aus: neues deutschland, Freitag, 22. November 2013


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