Mit gespaltener Zunge
Menschenwürde, Rasterfahndung und die fehlende Gefahrensituation
Den folgenden Artikel haben wir der Homepage der VdJ entnommen (www.vdj.de). Auf dieser Seite der Vereinigung demokratischer Juristen gibt es mehr zum Thema "Innere Sicherheit" und "Anti-Terror-Gesetze".
Von Martin Kutscha
"Ein deutscher Christenmensch tut so etwas nicht!" -
Ganz so plump hat das Oberlandesgericht Düsseldorf seine
Entscheidung zur Rasterfahndung natürlich nicht begründet. In
der nüchternen juristischen Fachsprache klingt es anders: Die
Rasterfahndung, so das Gericht, müsse auf diejenigen
Personen beschränkt werden, die die Staatsangehörigkeit
eines anderen, als verdächtig geltenden Landes besitzen, dort
geboren oder islamischen Glaubens sind. Nur in solchen
Kreisen vermuten die Düsseldorfer RichterInnen schlafende
Terroristen. Der Beifall recht(s)schaffender deutscher
Stammtische dürfte ihnen damit sicher sein.
Allerdings lassen die entsprechenden Gesetze der
Bundesländer eine Rasterfahndung, wie sie seit Monaten
vielerorts betrieben wird, nur beim Bestehen einer
"gegenwärtigen Gefahr" zu. Das Düsseldorfer Gericht hat dies
bejaht. Aber versichert uns nicht die Bundesregierung nach
dem 11. September immer wieder, dass es keinerlei Hinweise
auf geplante Terroranschläge in Deutschland gibt? Auch nach
der Entscheidung des Bundestages, deutsches Militär zum
Kampf gegen den Terrorismus im Mittleren Osten bereit zu
stellen, blieb der Bundesinnenminister bei seiner Einschätzung:
Niemand müsse Angst haben. Nach wie vor lägen keine
konkreten Anhaltspunkte für Gefahren oder terroristische
Anschläge vor. - Sollte diese Aussage etwa nur
Beschwichtigungscharakter haben?
Anders als die Düsseldorfer RichterInnen haben die
Landgerichte Berlin und Wiesbaden die verantwortlichen
Politiker unlängst beim Wort genommen und eine
"gegenwärtige Gefahr" verneint. Schließlich sei die
Bundesregierung mit den ihr zur Verfügung stehenden
Erkenntnisquellen mehr als jede andere Stelle in der Lage, die
Gefahrensituation zu beurteilen. "Dass auf diese Beurteilung
kein Verlass wäre", meint das Landgericht Wiesbaden, "darf
wohl nicht angenommen werden". Auf dieser Grundlage haben
die beiden Landgerichte, juristisch schlüssig, mangels
gegenwärtiger Gefahr die Rasterfahndung für unzulässig erklärt,
und zwar nicht nur bezogen auf Deutsche, sondern auf alle
davon Betroffenen.
Ganz anders lesen sich allerdings die Stellungnahmen
aus dem Hause Schily zur Begründung der diversen
"Terrorismusbekämpfungsgesetze". Da war plötzlich die Rede
davon, dass zahlreiche Bestimmungen "der neuen
Bedrohungslage angepasst werden" müssten. Nach der Eile,
die dabei an den Tag gelegt wurde, musste die neue
"Bedrohung" geradezu immens sein - während ansonsten eine
Verschärfung der Gefahrenlage amtlicherseits doch gerade
bestritten wurde. Die Tinte auf den verschiedenen
Gesetzentwürfen konnte gar nicht so schnell trocknen, wie diese
durch den Bundestag gepeitscht wurden. Den
Sachverständigen blieben gerade zwei, drei Tage Zeit, die
monströsen Otto-Pakete zumindest teilweise aufzuschnüren
und ihren brisanten Inhalt richtig zu erfassen. Wann je in der
deutschen Geschichte haben staatliche "Sicherheitsbehörden"
auf einen Schlag ein solches Maß an neuen
Eingriffsbefugnissen zugesprochen bekommen? So erhielt der
Verfassungsschutz polizeiartige Ermittlungskompetenzen:
Künftig darf er unsere Bankkonten durchforsten und, mehr noch
als bisher, unsere Briefe, unsere E-Mails und unsere
Telefongespräche überwachen. Beschränkungen für deutsche
Geheimdienste, die die alliierten Besatzungsmächte 1949 nach
den schlimmen Erfahrungen mit der Gestapo und dem
"Reichssicherheitshauptamt" der Nazizeit verfügten, wurden
hinweggefegt.
"Sicherheitsüberprüfungen" unter Beteiligung des
Verfassungsschutzes wurden auf einen großen
Personenkreis ausgedehnt. In der Bundesrepublik lebende
AusländerInnen, bisher schon die am konsequentesten
überwachte und registrierte Bevölkerungsgruppe, wurden
einem Totalverdacht unterstellt. Im Ausländerzentralregister
werden noch mehr personenbezogene Daten erfasst, und es
erfüllt inzwischen auch für die Geheimdienste die Funktion
eines elektronischen Selbstbedienungsladens.
Offenbar ist längst vergessen, dass das
Bundesverfassungsgericht eine "gänzliche oder teilweise
Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit" als mit
der Menschenwürde unvereinbar wertete. Das Prinzip des
gläsernen Menschen, das bei AusländerInnen anscheinend
reibungslos durchgesetzt werden konnte, soll künftig auf die
gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden. Biometrische
Merkmale (Fingerabdrücke, Gesichts- oder Handgeometrie)
sollen künftig in verschlüsselter Form in alle Personalausweise
aufgenommen werden. Damit wird zwar nicht die
Fälschungssicherheit erhöht, wohl aber die Überwachung einer
Vielzahl von Menschen im öffentlichen Raum durch den Einsatz
von Videokameras mit entsprechender
Gesichtserkennungssoftware ermöglicht. Die Visionen von
George Orwell nehmen sich dagegen harmlos aus. Die
heutigen technischen Möglichkeiten und die inzwischen
geschaffenen gesetzlichen Ermächtigungen müssten nur
konsequent umgesetzt werden, und die Grenze zu einem
totalitären Staatswesen wäre eindeutig überschritten.
Einen demokratischer Verfassungsstaat kennzeichnet es
indessen, dass der Staat nicht jeden und jede als potentielle
RechtsbrecherInnen behandelt. Nur unter bestimmten,
gesetzlich exakt geregelten Voraussetzungen darf er in die
Freiheitsrechte der Bürger und Bürgerinnen eingreifen. Dabei
ist er strikt an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und an
das Übermaßverbot gebunden. Das bedeutet, dass Eingriffs-
und Überwachungsmaßnahmen nur dann erlaubt sind, wenn sie
durch eine konkrete Gefahrensituation geboten oder durch
einen Tatverdacht veranlasst sind.
Manche Sicherheitspolitiker hierzulande reden offenbar mit
gespaltener Zunge: Einerseits beschwören sie die akute
Bedrohung durch weltweiten Terrorismus und suchen sich als
energische Schützer der Inneren Sicherheit zu profilieren.
Andererseits verkünden sie, dass in der Bundesrepublik
gegenwärtig keine besondere Gefährdungssituation besteht.
Wenn aber letzteres richtig ist, gibt es für die Anwendung
zahlreicher Instrumentarien des Ausnahmezustandes, wie wir
sie gegenwärtig erleben, keinerlei Rechtfertigung. Sie sind
kontraproduktiv, sie gefährden das demokratische System, das
auf der Freiheit der BürgerInnen beruht. Ja, sie zerstören die
Strukturen jener Zivilgesellschaft, die angeblich gerade vor der
terroristischen Herausforderung geschützt werden soll.
Wenn eine gesteigerte Gefahrensituation nicht existiert,
kann und muss auf Maßnahmen aus dem Arsenal des
Ausnahmezustandes oder die weitreichenden neuen
Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste getrost verzichtet
werden - dies gebieten die Grundrechte unserer Verfassung.
Es ist das Verdienst der zuständigen RichterInnen in Berlin und
Wiesbaden, uns anlässlich des Streites um die Rasterfahndung
an dieses rechtsstaatliche Gebot erinnert zu haben.
* Prof. Dr. Martin Kutscha lehrt Staatsrecht in Berlin und ist
Bundesvorsitzender der Vereinigung Demokratischer
Juristinnen und Juristen - VDJ (www.vdj.de). Als
Sachverständiger nahm er u. a. an der Anhörung zum
"Terrorismusbekämpfungsgesetz" im Bundestag teil.
Hinweis: Die Gerichtsentscheidungen sowie
Stellungnahmen von Bürgerrechtsorganisationen u. ä.
sind abrufbar unter www.cilip.de/terror
Der Artikel von der Homepage der vdj war am 18. Februar 2002 in der taz veröffentlicht worden.
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