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Menschlichkeit und Machtpolitik

Forschungsprojekt an der Uni Marburg zur historischen Dimension humanitärer Interventionen - Interview mit dem Projektleiter Prof. Dr. Christoph Kampmann

Am 7. September 2009 erschien in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel "Humanitäre Interventionen - 'Ihr sagt Menschlichkeit und meint Macht'" ein Interview mit dem Marburger Historiker Prof. Dr. Christoph Kampmann. Der Schwerpunkt seiner Forschungen gilt der frühen Neuzeit. Instensiv hat er sich mit dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigt.
Im Folgenden dokumentieren wir:
  • eine Kurzbeschreibung des aktuellen Forschungsprojekts von Prof. Kampmann: "Humanitäre Interventionen", sowie
  • das FR-Interview, das inzwischen auch auf der Website der Uni Marburg verfügbar ist.

Menschlichkeit und Machtpolitik

Forschungsprojekt zur historischen Dimension humanitärer Interventionen *

Ein neues Forschungsprojekt an der Philipps-Universität untersucht historische Beispiele für Militärinterventionen aus humanitären Gründen. Der Neuzeithistoriker Professor Dr. Christoph Kampmann erhält für sein Vorhaben bis zu 130.000 Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Hinter dem Schlagwort „Humanitäre Intervention“ verbirgt sich ein Thema, das derzeit in der Politik- und Völkerrechtswissenschaft, aber auch auf politischer Ebene sehr kontrovers diskutiert wird: Dürfen sich Staaten oder Bündnisse militärisch in die Angelegenheiten anderer Staatswesen einmischen, um deren Einwohnern humanitären Schutz zu gewähren? NATO-Einsätze im ehemaligen Jugoslawien und Zentralasien oder das russische Eingreifen im Kaukasus unter Verweis auf ein sogenanntes „right to protect“ haben diese Auseinandersetzung neu angefacht.

Doch eine solche, quasi „humanitäre“ Begründung für militärisches Eingreifen ist keine Erfindung der jüngsten Zeit. Dennoch wird die aktuelle Diskussion unter weitgehender Vernachlässigung seiner historischen Dimension geführt. „Das ist bemerkenswert, weil die Thematik historisch erhebliche Bedeutung besitzt“, erklärt Christoph Kampmann vom Seminar für Neuere Geschichte der Philipps-Universität, der das Forschungsprojekt initiiert hat. Dies gelte in besonderem Maße für die Frühe Neuzeit: Immer wieder griffen Gemeinwesen oder Monarchen in zum Teil spektakulärer Weise in anderen Staaten ein, was sie damit begründeten, dass sie eine universale Schutzpflicht hätten und „tyrannisch“ bedrängte Untertanen anderer Herrscher vor Verfolgung bewahren müssten.

Diesen historischen Vorläufern gilt das aktuelle Vorhaben der Marburger Neuzeithistoriker unter dem Titel „Militärische Intervention zum Schutz fremder Untertanen in der Frühen Neuzeit“. Das von Kampmann geleitete Projekt soll zum einen die intensive politik- und völkerrechtliche Diskussion untersuchen, in der es seit dem 16. Jahrhundert um die Notwendigkeit eines solchen Schutzes, aber auch die Gefahren seines machtpolitischen Missbrauchs ging. An diesen Debatten beteiligten sich unter anderem prominente Köpfe wie Hugo Grotius.

Daneben nehmen die Wissenschaftler einen konkreten, sehr spektakulären Fall genauer unter die Lupe, nämlich die Intervention Wilhelms von Oranien in England im Jahr 1688. Sie wurde begründet mit dem Recht und der Pflicht des Oraniers, die Untertanen des englischen Königs, also eines anderen Herrschers, vor religiöser und politischer Tyrannei oder einem Bürgerkrieg zu bewahren. „Im Ergebnis führte diese mit gewaltigem militärischen Aufwand durchgeführte Intervention in einer äußert brisanten internationalen Lage zu einer vollständigen Umwälzung der machtpolitischen Verhältnisse in Großbritannien“, erläutert Kampmann.

„Die jüngste Förderzusage der DFG ist hervorragend geeignet, das Profil der Marburger Geschichtswissenschaft in Hinblick auf die Theorie und Praxis der Internationalen Beziehungen sowie auf die westeuropäische Geschichte weiter zu schärfen“, erklärt der Historiker erfreut.

Weitere Informationen:
Ansprechpartner: Professor Dr. Christoph Kampmann,
Seminar für Neuere Geschichte
Tel.: 06421 28-24604
E-Mail: kampmanc@staff.uni-marburg.de

* Quelle: www.uni-marburg.de (externer Link).

"Ihr sagt Menschlichkeit und meint Macht" **

Herr Kampmann, es ist zehn Jahre her, dass Nato-Bomben im Kosovo fielen. Seither diskutieren Völkerrechtler über den Sinn humanitärer Interventionen. Sie erforschen nun Kriege, die aus humanitären Gründen geführt wurden - und zwar im 17. Jahrhundert. Warum tun Sie das?

Militärisches Eingreifen aufgrund von Menschlichkeit war völkerrechtlich immer ein Problem, weil es kein klassischer Kriegsgrund ist. Ein klassischer Kriegsgrund liegt vor, wenn man angegriffen wird, wenn ein Angriff droht, wenn eigene Rechte verletzt werden. Er liegt aber nicht vor, wenn die Bürger eines anderen Landes bedrängt werden. Auch heute bewegen sich solche Interventionen ja in einer völkerrechtlichen Grauzone. Schon in der frühen Neuzeit gab es eine breite öffentliche Diskussion, die man in den damaligen Massenmedien, also Büchern und Flugschriften, nachlesen kann.

Das Phänomen ist also gar nicht neu?

Nein, die Beispiele reichen sogar bis weit ins Mittelalter zurück. In modernem Sinne stellt sich das Problem erst, seit es Staatlichkeit gibt, also seit dem 15., 16. Jahrhundert. Dann setzt es aber massiv ein, und zwar mit dem Beginn der Reformation. Da unterdrücken katholische Herrscher ihre evangelischen Untertanen und protestantische ihre katholischen Untergebenen. Andere Herrscher greifen ein, die die Religion der unterdrückten Bürger teilen. Sie haben eigentlich überhaupt keinen Rechtstitel dazu, sagen aber, wir handeln, weil dort Tyrannei ausgeübt wird.

Sie erforschen nun erstmals systematisch Fälle von "Humanitären Interventionen" aus der frühen Neuzeit. Warum ist niemand vor Ihnen darauf gekommen?

Man lässt sich leicht von der Terminologie täuschen. Politikwissenschaftler und Völkerrechtler gehen davon aus, humanitäre Interventionen seien ein Phänomen unserer Zeit, weil der Begriff der Humanität in der frühen Neuzeit gefehlt hat. Das heißt aber nicht, dass es nicht von der Sache her genau das gleiche ist. Auch die Regeln des internationalen Systems sind ähnlich: Man erkennt die Souveränität des anderen Landes an, niemand erhebt offiziell Herrschaftsansprüche im anderen Land. Auch Wilhelm von Oranien, der 1688 in England interveniert, bestreitet dem dort herrschenden Jakob II. nicht das Thronrecht. Er greift trotzdem ein, und zwar für dessen Untertanen.

Die Politiker denken aber, Humanität sei ein Alleinstellungsmerkmal unserer Zeit?

Den Politikern würde ich gar nicht den entscheidenden Vorwurf machen. Politiker müssen aus der Situation heraus handeln, von ihnen erwarte ich nicht, dass sie groß historische Wälzer lesen. Ich glaube, wir müssen vor allem die politiknahen Wissenschaften betrachten, Politikwissenschaft und Völkerrecht. Die Diskussion um den Kosovo-Krieg ist erstaunlich wenig historisch unterfüttert. Aufgabe der Wissenschaft ist es aber, politikberatend zu wirken. Wir müssen den Politikern die historische Dimension liefern.

Was können die historischen Fälle zur aktuellen Diskussion beitragen?

Wenn so ein Interventionsfall kommt, dann steht die Politik immer vor der Frage: Wie geht das weiter? Welche Risiken gehen wir ein? Wie sind Nutzen- und Schadensbilanz zu ziehen? Das ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Wenn man in die Geschichte schaut, hat man das alles schon geliefert. Man kann analysieren, wie solche Interventionen legitimiert wurden, wie sie abgelaufen sind und welche Folgen das hatte.

Die Intervention Wilhelm von Oraniens in England ging als Glorreiche Revolution in die Geschichte ein, sie leitete den Parlamentarismus ein. Gibt es noch mehr berühmte Fälle?

Ja, etwa im Dreißigjährigen Krieg. Gustav Adolf von Schweden greift in Deutschland ein. Er begründet das zwar einerseits damit, dass er selbst angegriffen wird, sagt aber in seiner Propaganda auch, er tue dies zugunsten der unterdrückten deutschen Protestanten. Frankreich interveniert im Dreißigjährigen Krieg, um die unterdrückten Reichsfürsten zu verteidigen und spricht sogar ausdrücklich von protection. Auch im Zuge der Französischen Revolution gibt es solche Fälle: Die französische Revolutionsregierung greift in anderen Staaten Europas ein, um den revolutionären Gedanken "gegen die Tyrannen" zum Erfolg zu bringen.

Wie beurteilte man denn früher solche Interventionen?

Im Grunde wurde die Diskussion genau über dieselben Fragen geführt wie heute: Die eine Seite argumentiert mit Menschlichkeit und sagt, hier werden Leute unterdrückt. Im 17. Jahrhundert sprach man vom Naturrecht und meinte damit die persönlichen Rechte eines Individuums. Das kommt dem sehr nahe, was wir heute unter Humanität verstehen. Auch völkerrechtlich diskutierte man auf derselben Ebene. Die Gegner sagten: Ihr sagt zwar Menschlichkeit, meint aber Macht. Denn ihr greift nicht zufällig da ein, wo´s euch machtpolitisch behagt. In einigen Teilen der Welt sind euch Menschenrechtsverletzungen egal, an wirtschaftlich oder strategisch bedeutsamen Stellen seid ihr auf einmal dabei. Die Diskussion wurde auch 1688 geführt.

Und sie hat den Kern getroffen?

Ja, denn einerseits ging es Wilhelm von Oranien wohl wirklich darum, den Engländern zu helfen, andererseits - und das war ihm wahrscheinlich noch wichtiger - wollte er England in ein Bündnis gegen Ludwig XIV. bringen. Es war also Machtpolitik.

Sie konzentrieren sich in Ihrer Forschung auf die Glorreiche Revolution. Warum?

Sie hat sowohl den englischen als auch den europäischen Geschichtsverlauf wesentlich verändert, sie hatte die Durchsetzung des Parlamentarismus zur Folge. Zunächst verankerte Wilhelm von Oranien in der Bill of Rights einige Rechte des Parlaments. Noch wichtiger war, dass England durch die Intervention Wilhelms in eine Phase von Kriegen mit Frankreich geriet, das die geflohenen Stuarts unterstützte. Dadurch entstand erheblicher Finanzbedarf für die Krone, die naturgemäß nur das Parlament decken konnte. Als Gegenleistung gestand Wilhelm dem Parlament Mitwirkung bei Regierungsentscheidungen zu. Das markierte den entscheidenden Durchbruch zum parlamentarischen Regierungssystem. Zudem argumentiert der Intervenierende hier ausschließlich mit Humanität: Er sagt, ich will den Engländern zu ihrer Freiheit verhelfen. Wenn sie die haben, gehe ich wieder.

Sie beschäftigen sich auch mit Wilhelms geheimer Krisendiplomatie. Wie sah die aus?

Wilhelm von Oranien hat mit 453 Schiffen und 40 000 Militärpersonen nach England übergesetzt. Schon aus heutiger Sicht ist das eine riesige Armee, für die damalige Zeit war sie gigantisch: viermal so groß wie die Armada! Das musste er natürlich diplomatisch absichern, konnte das aber nicht mit offiziellen Deklarationen machen. Oft hatten die Diplomaten, die das vorbereiteten, einen offiziellen Auftrag, in dem es um ganz undramatische Routineangelegenheiten ging. So verhandelte ein Emmissär Wilhelms in Wien am Kaiserhof offiziell über irgendwelche Erb- und Lehensfragen des Reichs - Dinge, die regelmäßig mit dem Kaiser erörtert werden mussten. Im inoffiziellen, aber entscheidenden Auftrag ging es dann um die Intervention. Wie die geheimen Kanäle im Detail aussahen, erforsche ich aber erst noch.

Sie sagten, Wilhelms Einfall in England habe dem Parlamentarismus den Weg bereitet. Ist es also ein gelungenes Beispiel humanitärer Intervention?

Historiker tun sich natürlich schwer mit solchen Bewertungen. Wilhelm von Oranien hat vielmehr einen überraschenden Totalerfolg erzielt. Er wollte Jakobs Untertanen eigentlich nur helfen. Nachdem Jakob II. das Land verlassen hatte, weil er nicht die nötige Unterstützung bekam, hat er die Herrschaft aber selbst übernommen. Wilhelm hat in der Folge einige Reformen eingeführt, die eine beispiellose Wende der englischen Geschichte herbeigeführt haben: In der bill of rights wurde das Recht der Parlamente festgelegt, in den folgenden Kriegen das Parlament als Institution gestärkt und schließlich die protestantische Thronfolge geregelt. All diese Reformen haben England bis zum 20. Jahrhundert als protestantische Seemacht gegen Frankreich bestimmt. Soweit wollte Wilhelm gar nicht gehen. Insofern war die Intervention erfolgreich. Und er hat die protestantische Religion tatsächlich bewahrt.

Für Irland waren die Folgen weniger glorreich.

Ja, wenn man nach Irland guckt, wäre es zynisch zu sagen, die Intervention war erfolgreich. Für die katholische Bevölkerungsmehrheit begann 1688 eine Leidenszeit. Für die ist das Jahr noch heute im nationalen Bewusstsein eine Katastrophe, weil damit die protestantische, wenn man so will, Kolonialherrschaft in Irland begann, mit vielen Opfern und politischer Entrechtung. Das dürfte wohl immer so sein, wenn es um Machtpolitik geht. Es gibt Gewinner und Verlierer.

Sagen Sie damit, dass humanitäre Interventionen immer ein Schwindel sind?

Ein Schwindel sind sie nicht, aber grundsätzlich besteht die Frage nach den angemessenen Mitteln. Solche Interventionen führen in der Regel zu Krieg, und das hat natürlich gerade, was die Humanität angeht, enorme, katastrophale Folgen. Es ist schwer, von Erfolg und Misserfolg zu sprechen, weil man solche Opferzahlen nicht aufrechnen kann. Interventionen können zwar etwas verändern, haben aber zugleich immer so genannte Kollateralschäden, die zum Teil viel höher sind, als die eigentlichen Erfolge der Intervention. Ob mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird, kann gar nicht vorhergesehen werden. Die Rechnung hat immer eine Tendenz zum Zynismus.

Gibt es typische Strategien der Kriegsrechtfertigung?

Es ging los mit einer Deklaration. Der Kriegführende legt seine Gründe dar und sagt dann entweder: Der Herrscher ist ein Tyrann, unterdrückt seine Leute, wir müssen ihn an seiner Herrschaft hindern. Oder man sagt: Der Herrscher ist persönlich unschuldig, aber er hat sein Land nicht unter Kontrolle. Als Elisabeth I. in Frankreich eingreift, sagte sie: Ich möchte dem französischen König nichts Böses, aber er ist nicht in der Lage, seine Untertanen zu schützen. Deshalb tue ich das für ihn.

Gab es jemals einen Fall, wo Regenten aus reiner Hilfsbereitschaft anderen geholfen haben? Oder ging es immer nur darum, die eigene Macht zu erhalten oder zu erweitern?

Es muss immer beides zusammen kommen. Die Empörung über das menschliche Leid muss sich mit machtpolitischen Interessen verbinden, sonst setzt man keine Militärmaschinerie in Gang. Mir fällt kein einziger Fall ein, in dem man wirklich sagen kann: Hier spielt Machtpolitik keine Rolle. Das hieße ja, dass man auch in Weltteilen eingreift, wo man keine strategischen Interessen hat. Solche Fälle gibt es meines Erachtens nicht. Übrigens auch in der Moderne nicht: Es ist nicht das Ausmaß der Menschenrechtsverletzung, das den Ausschlag gibt. Wenn wir mal an Afrika denken - da finden in unseren Zeiten Menschenrechtsverletzungen statt bis hin zum Völkermord, denen wir im Grunde tatenlos zusehen.

Warum ist es so wichtig, diese historischen Beispiele zu erforschen?

Völkerrechtler und Politikwissenschaftler tun so, als habe das Problem mit dem Kosovokrieg in den 1990er Jahren begonnen. Wenn man aber die ganze Debatte des 17. Jahrhunderts liest, merkt man schnell: Die Argumente sind topmodern, dieselben wie heute. Im Unterschied zu heute kann man aber die Folgen sehr genau ablesen, weil man die Entwicklungen danach kennt. Warum soll man die Fehler immer wiederholen, wenn man aus der Erfahrung der Vergangenheit lernen kann? Die Geschichtslosigkeit schadet der Debatte.

Interview: Anne Meyer

Erstveröffentlichung in der Frankfurter Rundschau, 7. September 2009; dokumentiert auf der Website der Uni Marburg: www.uni-marburg.de


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