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Grobritannien trägt die Schuld an vielen Problemen der Welt / Britain to blame for many world problems

Zu einem britischen Disput über die Last der Geschichte und über "liberalen Imperialismus"

Der britische Außenminister Jack Straw hat in der letzten Woche eine erregte Debatte ausgelöst, als er in verschiedenen Äußerungen wenig Respekt vor der "glorreichen" Kolonialgeschichte des British Empire an den Tag legte. In Großbritannien erinnert man sich nicht gern an jene dunklen Flecken der eigenen Geschichte der letzten 300 Jahre, schon gar nicht ist man es gewohnt, von führenden Staatsmännern (Margret Thatcher machte als Frau hierin überhaupt keine Ausnahme) kritische Töne über die Zeit zu hören, in der das britische Commonwealth globale Dimensionen erreichte, der britische Kolonialismus und Imperialismus weltbeherrschend waren und damit eine Position einnahmen, die vielleicht am ehesten mit der Rolle der USA heute zu vergleichen ist. Nun hat es die Geschichte immer schon mit sich gebracht, dass Ereignisse und Verhältnisse einer Epoche über ihre eigene Zeit hinausragen und späteren Epochen ihren Stempel aufdrücken. Geschichte hat es eben "in sich". Im Musterland des Kolonialismus kommt hinzu, dass die Kolonialgeschichte nicht schon mit dem Ersten Weltkrieg beendet war, sondern dass sie noch weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein reichte und sich das Empire häufig nur widerwillig und zögerlich aus den Kolonien zurückzog bzw. zum Rückzug gezwungen wurde. Dies tat das Vereinigte Konigreich nicht immer mit Geschick, sondern es hinterließ jede Menge Probleme in den ehemaligen Kronkolonien, Mandatsgebieten oder Protektoraten. Gibraltar, bis zum heutige Tag kolonialer Bestandteil des britischen "Mutterlands", ist hier zweifellos eine Ausnahme: Wie die jüngste Abstimmung gezeigt hat, wünschen sich fast alle Einwohner den Verbleib ihres Gebiets bei Großbritannien und ihren Status als Untertanen der Königin. So harmonisch war sonst das Verhältnis Londons zu seinen Kolonien nie.

An diesen Problemen nun setzt Jack Straw an und behauptet, dass die Ursachen für einen Großteil der Probleme, mit denen sich die betroffenen Völker heute noch herumschlagen müssen, in der verfehlten Politik der ehemaligen "Schutzmacht" zu suchen sind. Wobei die verfehlte Politik sich nicht allein auf die langjährige Ausbeutung und Unterdrückung fremder Völker aller Kontinente bezieht, sondern speziell auch auf die Vorgänge um die Entkolonialisierung, die vor etwa einem halben Jahrhundert insbesondere in Südasien, im Nahen Osten und in Teilen Afrikas stattfand. Nicht von ungefähr - und das macht die politische Brisanz der Äußerungen von Straw aus - sind das heute die sensibelsten und explosivsten Regionen der Welt.

Am 15. November 2002 veröffentlichte das britische Magazin "Times of London" einen Artikel von Richard Beeston, einem der Herausgeber, zu dem umstrittenen Thema. Dem Artikel lag ein Gespräch zugrunde, das Beeston mit dem Außenminister geführt hatte und aus dem eine Reihe wörtlicher Zitate in den Artikel einflossen (wir dokumentieren den Originalartikel weiter unten). Straw setzte sich auch mit anderen Meinungen - auch in seinem eigenen Haus - auseinander, so wenn er z.B. den Ansichten Robert Coopers widersprach, einem seiner führenden Diplomaten, der das Wort vom "liberalen Imperialismus" geprägt hatte, um damit die angeblich segensreiche Wirkung von Militärinterventionen der jüngeren Zeit zu charakterisieren: Interventionen im Kosovo (sprich: in Jugoslawien), in Sierra Leone und in Afghanistan.

Was Indien und Pakistan betrifft, so meinte Straw, hätte Großbritannien "ganz schwerwiegende Fehler" gemacht. "Mit dem, was in Kaschmir passierte, waren wir zu selbstgefällig. Der Grenzverlauf auch zwei Tage nach der Unabhängigkeit noch nicht veröffentlicht worden. Eine schlimme Geschichte für uns, die Folgen spüren wir immer noch."
Zu Afghanistan sagte er, dass Großbritannien eineinhalb Jahrhunderte alles andere als eine glorreiche Rolle gespielt habe.
Und er gab Großbritannien die Schuld für viele Schwierigkeiten im Nahen Osten, wo seine Regierung erfolglos Druck ausübt, um einen Weg zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu finden, und wo sie möglicherweise einen Krieg gegen Irak für diesen Winter vorbereitet. "Die alten Markierungen für die Grenzen Iraks wurden von Briten gezogen", sagte Straw. Und er erinnerte an die Balfour-Deklaration und die ihr zuwiderlaufenden Versicherungen, die insgeheim an die Seite der Palästinenser gegeben wurden, zur selben Zeit, als sie auch an die Israelis gegeben wurden - abermals ein interessantes historisches Beispiel, aber eben kein ganz ehrenhaftes."
Aber die für das britische Publikum "provozierendsten" Äußerungen von Straw betreffen Simbabwe, über das Großbritannien mit Präsident Mugabe im Streit liegt wegen der Größe der weißen Farmen und der gewalttätigen Einschüchterung der dortigen Opposition. Straw sagte, er hätte viele gute Argumente gegen Mugabe ins Feld führen können, fügte aber hinzu: "Dennoch: Wenn irgendein Simbabwer, irgendein Afrikaner mir sagt, das Hauptproblem sei das Land ... den früheren Kolonialherren waren auch nur an Land interessiert gewesen."

Die Aufregung über solche Äußerungen von Jack Straw war entsprechend groß - so groß, dass sich Premierminister Tony Blair genötigt sah, seinen Minister gegen die Kritik ausdrücklich in Schutz zu nehmen (vgl. FAZ, 16.11.2002). Der Schatten-Außenminister der Opposition, Michael Ancram warf dem amtierenden Außenminister vor, das Thema verfehlt zu haben. Straw hätte mit seiner Kritik Mugabe angreifen sollen und nicht das Volk, das unter ihm leidet. Und der außenpolitische Sprecher der Liberaldemokraten, Lord Wallace of Saltaire, räumte zwar ein, dass er mit Straws Sicht auf das British Empire übereinstimme, aber ganz entschieden das Konzept des "liberalen Imperialismus" unterstütze, wenn darunter verstanden würde, dass interveniert wird, um Menschenleben in Konfliktregionen wie dem Kosovo oder Sierra Leone zu retten. Wörtlich sagte er: "Liberaler Imperialismus heißt, das Richtige für einen richtigen Zweck zu tun."

Für den Beobachter in Kontinentaleurop ist es doch interessant, wie unbefangen britische Politiker mit Begriffen wie "Imperialismus", und sei er auch "liberal", heute umgehen. In Deutschland würde sicher ein Sturm kopfschüttelnder Entrüstung ausgelöst, wollte man der Bundesregierung mit Blick auf den Jugoslawienkrieg oder auf den Afghanistan-Einsatz einen wie auch immer gearteten "Imperialismus" vorwerfen (vielleicht einen "humanitären Imperialismus"?). Großbritannien hat eben nicht nur eine imperialistische Vergangenheit, sondern steht auch dazu - Deutschland hat zwar auch eine imperialistische Vergangenheit, will aber am liebsten gar nichts mehr davon wissen. Aus Erfahrung wissen wir, das eine solche Verdrängung am allerwenigsten vor der Neuauflage imperialistischer Ambitionen immun macht. Von Jack Straw würde man aber doch noch gern wissen, welche Konsequenzen er aus seiner kritischen Sicht auf die eigene Geschichte zieht. Immerhin ist sein Premierminister gerade dabei, einen (liberal-imperialistischen?) Krieg gegen den Irak vorzubereiten. Das ist sicher nicht die angemessene Antwort auf die Fehler der Vergangenheit, sondern riecht eher nach einer Neuauflage alter Fehler - mit abermals verheerenden Folgen.

Einen anderen sehr zeitgemäßen und gängigen Fehler erlaubt sich der britische Premier auf dem Gebiet des Rüstungsexports und der aktiven Waffenhilfe für andere Staaten. Vom großspurigen Versprechen der Blair-Regierung, eine "ethische Außenpolitik" betreiben zu wollen, ist London heute weiter denn je entfernt. Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie des Institute of Public Policy Research behauptet, die britische Regierung bewaffne seit dem 11. September 2001 bevorzugt Staaten, die für den Kampf gegen den Terrorismus eine wichtige Rolle einnehmen, auch wenn sie in Menschenrechtsfragen einen dürftigen Ruf haben. Namentlich werden Bahrain, Jordanien, Kuwait, Oman, Pakistan, Qatar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate genannt, alles Regime, die den Kampf gegen den Terror nutzen, um mit den Dissidenten im eigenen Land fertig zu werden. Keine Kontrolle könne auch darüber ausgeübt werden, dass die empfangenen Waffen - vom Maschienngewehr bis zum Panzer und Kampfhubschrauber - nicht an andere Staaten weiter veräußert werden. Wenig Ethik kann schließlich darin entdeckt werden, dass Länder wie Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan britische Lizenzen zum Bau von Waffen erhalten würde. Der britische "Observer" titelte pikiert: "Blair bewaffnet Tyrannen, um den Terror zu bekämpfen" (The Observer, 17.11.2002; wir dokumentieren den Artikel weiter unten im englischen Original.)

Quellen:
Times of London, 15.11.2002; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.11.2002; The Observer, 17.11.2002; Süddeutsche Zeitung, 18.11.2002

Peter Strutynski

Britain to blame for many world problems, says Straw

By Richard Beeston, Diplomatic Editor

BRITAIN’S colonial legacy around the globe is so damaging that Jack Straw devotes much of his time as Foreign Secretary trying to undo its malign influence.

In controversial remarks published this week, Mr Straw said that Britain was to blame for many of the world’s current crises, ranging from the Indian sub-continent to the Middle East and Africa.
“There’s a lot wrong with imperialism,” he told the New Statesman magazine. “A lot of the problems I have to deal with now are a consequence of our colonial past.”
Mr Straw, who described himself as a “democratic socialist”, contradicted the views of Robert Cooper, one of his own senior diplomats, who coined the phrase “liberal imperialism” to describe recent military interventions by the Government in Kosovo, Sierra Leone and Afghanistan.
“India, Pakistan — we made some quite serious mistakes,” Mr Straw said. “We were complacent with what happened in Kashmir, the boundaries weren’t published until two days after independence. Bad story for us, the consequences are still there.” He also singled out Afghanistan, “where we played less than a glorious role over a century and a half”.

He blamed Britain for many of the troubles in the Middle East, where the Government is pressing without success the search for peace between Israelis and Palestinians and possibly preparing for a war against Iraq this winter.
“The odd lines for Iraq’s borders were drawn by Brits,” said Mr Straw. “The Balfour declaration and the contradictory assurances which were being given to Palestinians in private at the same time as they were being given to the Israelis — again an interesting story for us but not an entirely honourable one.” His most provocative remarks concerned Zimbabwe, where Britain has been locked in a dispute with President Mugabe over the seizure of white-owned farms and the violent intimidation of the opposition.
Mr Straw said that he had had “huge arguments” with Mr Mugabe, but added: “However, when any Zimbabwean, any African, says to me land is a key issue . . . the early colonisers were all about taking land.”

Michael Ancram, the Shadow Foreign Secretary, said that Mr Straw was missing the point and should save his criticism for Mr Mugabe rather than the people suffering in his country.
“Jack Straw is fantasising. When did his ‘huge arguments’ with Mugabe take place? Have they been clandestine? The people of Zimbabwe have not heard them and neither have we,” he said.
“When and how does he intend to raise the game against the tyranny of Mugabe in Zimbabwe?” he said. “He is all spin and no action. The suffering people of Zimbabwe deserve better.”

Lord Wallace of Saltaire, the Liberal Democrats’ foreign affairs spokesman, said that he agreed with Mr Straw’s views on the British Empire, but also strongly supported the concept of liberal imperialism when it meant intervening to save lives in conflicts like Kosovo or Sierra Leone.
“We are stuck with far too many problems inherited from our imperial past,” he said. “But I disagree with Jack Straw on the concept of liberal imperialism. There is a real problem in dealing with weak and failing states around the world . . . Liberal imperialism means doing the right thing for the right reasons.”
William Dalrymple, a writer on both India and the Middle East, said that Britain must shoulder much of the responsibility for today’s conflicts in Palestine and Kashmir.
“I think Straw has a point,” the author of White Mughals and From the Holy Mountain said.
“There were some positive aspects of Britain’s relations with India. But there is no doubt that the speed, clumsiness and chaotic withdrawal from India and Palestine left the seeds for the modern conflict,” he said.

Times of London, November 15, 2002

Blair 'is arming tyrants' to beat terror

Kamal Ahmed, political editor

Tony Blair has abandoned his 'ethical foreign policy' in favour of arming key allies in the war against terror, even if they have poor records on human rights.

A former aide to Clare Short says the Government has shown 'serious inconsistencies' over arms exports, deliberately loosening controls to encourage customer-nations to unite against al-Qaeda and Saddam Hussein.
David Mepham, who was the International Development Secretary's special adviser until April, makes the claims in a think-tank report of which he is co-author.
The study, published by the Institute of Public Policy Research, says the Government is making increasing use of arms export licences allowing an unlimited quantity of goods to go to a range of destinations with no specified end-user.

Mepham's attack is thought to reflect the thinking of his old boss, who has raised the issue privately with her colleagues.
'Post-11 September, there is evidence of a loosening of UK controls on arms exports, with a greater willingness to supply arms to countries seen as "on side" in the war on terror, even when they have poor human rights records,' says the report, written with Paul Eavis, director of the Saferworld campaign.
'Yet there are concerns that some governments use the war on terror to justify cracking down on internal dissent.'
Mepham said that 'open' export licences had been granted to Bahrain, Jordan, Kuwait, Oman, Pakistan, Qatar, Saudi Arabia and the United Arab Emirates, 'despite serious concerns about human rights in all these countries'.
He added: 'They are all regions of instability, and there are concerns about the possible diversion of military equipment to other destinations.' Such licences mean that any equipment - from small arms to armoured vehicles, tanks and helicopters - can be exported without further controls.

The study says Tajikistan, Turkmenistan and Uzbekistan have been granted licences despite 'highly critical' human rights assessments by the Foreign Office.

Sunday November 17, 2002, The Observer


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