Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bart jeder Vernunft

Amnesty-Bericht beklagt Diskriminierung von Islam-Gläubigen in Europa

Von Thomas Mell *

Muslime werden in Europa aufgrund ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts diskriminiert, sagt Amnesty International (AI) in einer neuen Untersuchung. Die Politik müsse mehr tun, um negativen Stereotypen oder Vorurteilen insbesondere in Bildung und Beschäftigung entgegenzuwirken.

Muslimische Frauen und Mädchen, die traditionelle Kleidung wie das Kopftuch tragen, würden auf dem Arbeitsmarkt oder in Schulen benachteiligt, heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten AI-Bericht. Männer müssten eines islamisch anmutenden Bartes wegen mit der Entlassung rechnen. »In vielen Ländern Europas ist die Ansicht verbreitet, dass der Islam akzeptabel ist, solange Muslime nicht allzu sichtbar sind«, äußerte Marco Perolini, der AI-Experte in Fragen der Diskriminierung.

Der Bericht betrachtet die Situation der Muslime in fünf europäischen Staaten: Belgien (laut AI lag dort 2010 der Anteil von Muslimen bei sechs Prozent), Frankreich (7,5 Prozent), den Niederlanden (5,5 Prozent), Spanien (2,3 Prozent) und der Schweiz (5,7 Prozent). Dazu wurden insgesamt mehr als 200 Interviews unter anderem mit Diskriminierten, Vertretern gesellschaftlicher Organisationen, Politikern und Behörden durchgeführt.

AI kritisiert Belgien, Frankreich und die Niederlande dafür, dass es zwar Gesetze gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt gibt, diese aber nicht vollständig greifen. So sei es für Arbeitgeber möglich, religiöse oder kulturelle Merkmale zu verbieten, wenn sie befürchten, dass ihre Firma dadurch Schaden nehmen könnte. »Religiöse und kulturelle Symbole und Kleidung zu tragen gehört zum Recht der freien Meinungsäußerung«, urteilt Perolini. »Es ist Teil der Religions- und Glaubensfreiheit - und diese Rechte stehen allen Glaubensrichtungen zu.«

Der AI-Experte warnt andererseits, niemand dürfe dazu gezwungen werden, religiöse Kleidung zu tragen. Doch grundsätzliche Bestimmungen - wie die als Burka-Verbot bekannt gewordenen Gesetze in Frankreich und Belgien - seien der falsche Weg. Nicolas Beger, Direktor des EU-Büros von Amnesty International, sagte gegenüber »nd«, dass solche Maßnahmen insbesondere in Bezug auf muslimische Frauen »unproportional« seien. In manchen Berufen, zum Beispiel bei Polizisten, sei der Ausschluss religiöser Symbolik aber gerechtfertigt.

Der Bericht konstatiert, dass es Muslime schwer haben, ihre Religion zu praktizieren. Der Schweiz wird die Verfassungsänderung vorgeworfen, wonach keine neuen Minarette mehr gebaut werden dürfen. Bei einer Volksabstimmung im November 2009 hatten sich 57 Prozent der Teilnehmer für das Verbot ausgesprochen. Die Eidgenossen kämen damit ihren internationalen Verpflichtungen nicht nach, anti-islamische Stereotype würden verfestigt. Ein »strukturelles Problem« in ganz Europa wäre, dass »diskriminierende Rede salonfähig« geworden sei und dass eine »Dämonisierung« des Islams stattfinde, sagte Beger.

Im AI-Bericht wird eingeräumt, dass Diskriminierung aufgrund der Religion nicht nur Muslime betrifft.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 25. April 2012


Trugbilder

Von Olaf Standke **

Es gehe doch nicht darum, junge Muslime unter den Generalverdacht des Islamismus und des Terrorismus zu stellen, sagte der Bundesinnenminister unlängst, als er eine umstrittene Studie zum Thema vorstellte - und die »Bild«-Zeitung, vorab gespickt aus seinem Haus, mit ihrem Zerrbild umgehend genau das tat. Die alten Vorurteile und Reflexe funktionieren prächtig hierzulande, wenn etwa das Bild der Muslime auf missionierende Salafisten verengt oder Diskriminierung im Alltag und Arbeitsleben schon durch einen Namen, einen Bart oder ein Kopftuch ausgelöst wird. Islamkonferenz hin, Islamkonferenz her.

Aber das alles ist kein deutsches Phänomen. Im französischen Wahlkampf etwa ging und geht es auch um Minarette, Burka-Verbot, Beten auf der Straße oder Terrorgefahr, zumal nach den jüngsten Attentaten eines muslimischen Einzeltäters. Nicht allein die Le Pens machten da Stimmung, auch der in Bedrängnis geratene Amtsinhaber Nikolas Sarkozy versucht, mit diesen Themen im rechtsextremen Wählerbecken nach Stimmen zu fischen. Die Muslime im Lande fühlen sich durch seine Regierung zunehmend diskriminiert.

Amnesty International sieht hier in einer jetzt vorgelegten Studie ein europäisches Problem, das nicht nur in Paris durch gesetzliche Bestimmungen mitverursacht und verschärft wird. Doch der in Sonntagsreden so gern beschworene Rechtsgrundsatz, dass die Religionszugehörigkeit keine Benachteiligung verursachen dürfe, darf nicht zur Chimäre verkommen - im Interesse aller.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 25. April 2012 (Kommentar)


Den ganzen Bericht können Sie hier herunterladen: pdf-Datei [externer Link]
Den folgenden Kurzbericht haben wir der Website von amnesty international ennommen.


Muslims discriminated against for demonstrating their faith

European governments must do more to challenge the negative stereotypes and prejudices against Muslims fuelling discrimination especially in education and employment, a new report by Amnesty International reveals today.

“Muslim women are being denied jobs and girls prevented from attending regular classes just because they wear traditional forms of dress, such as the headscarf. Men can be dismissed for wearing beards associated with Islam,” said Marco Perolini, Amnesty International’s expert on discrimination.

“Rather than countering these prejudices, political parties and public officials are all too often pandering to them in their quest for votes.”

The report Choice and prejudice: discrimination against Muslims in Europe, exposes the impact of discrimination on the ground of religion or belief on Muslims in several aspects of their lives, including employment and education.

It focuses on Belgium, France, the Netherlands, Spain, and Switzerland where Amnesty International has already raised issues such as restrictions on the establishment of places of worship and prohibitions on full-face veils. The report documents numerous individual cases of discrimination across the countries covered.

“Wearing religious and cultural symbols and dress is part of the right of freedom of expression. It is part of the right to freedom of religion or belief – and these rights must be enjoyed by all faiths equally.” said Marco Perolini.

“While everyone has the right to express their cultural, traditional or religious background by wearing a specific form of dress no one should be pressurized or coerced to do so. General bans on particular forms of dress that violate the rights of those freely choosing to dress in a particular way are not the way to do this.”

The report highlights that legislation prohibiting discrimination in employment has not been appropriately implemented in Belgium, France and the Netherlands. Employers have been allowed to discriminate on the grounds that religious or cultural symbols will jar with clients or colleagues or that a clash exists with a company’s corporate image or its ‘neutrality’.

This is in direct conflict with European Union (EU) anti-discrimination legislation which allows variations of treatment in employment only if specifically required by the nature of the occupation.

“EU legislation prohibiting discrimination on the ground of religion or belief in the area of employment seems to be toothless across Europe, as we observe a higher rate of unemployment among Muslims, and especially Muslim women of foreign origin,” said Marco Perolini.

In the last decade, pupils have been forbidden to wear the headscarf or other religious and traditional dress at school in many countries including Spain, France, Belgium, Switzerland and the Netherlands.

“Any restriction on the wearing of religious and cultural symbols and dress in schools must be based on assessment of the needs in each individual case. General bans risk adversely Muslims girls’ access to education and violating their rights to freedom of expression and to manifest their beliefs.” Marco Perolini said.

The right to establish places of worship is a key component of the right to freedom of religion or belief which is being restricted in some European countries, despite state obligations to protect, respect and fulfil this right.

Since 2010, the Swiss Constitution has specifically targeted Muslims with the prohibition of the construction of minarets, embedding anti-Islam stereotypes and violating international obligations that Switzerland is bound to respect.

In Catalonia (Spain), Muslims have to pray in outdoor spaces because existing prayer rooms are too small to accommodate all the worshippers and requests to build mosques are being disputed as incompatible with the respect of Catalan traditions and culture. This goes against freedom of religion which includes the right to worship collectively in adequate places.

“There is a groundswell of opinion in many European countries that Islam is alright and Muslims are ok so long as they are not too visible. This attitude is generating human rights violations and needs to be challenged,” said Marco Perolini.

Source: amnesty international, 23 April 2012; http://www.amnesty.org




Zurück zur Seite "Islam, Islamophobie"

Zurück zur Homepage