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Terrorismus und Islam nach dem 11. September

"Einige notwendige Bemerkungen" von Reiner Bernstein

Reiner Bernstein, der des öfteren Beiträge für unsere Internetseiten ablieferte, schrieb vor kurzem einen Beitrag über den falsch konstruierten Zusammenhang von Islam und Terrorismus. Dabei machte er sich Gedanken um sein eigentliches Thema: den Nahostkonflikt. Sein Beitrag erscheint unter dem Titel "Nach jenem 11. September - einige notwendige Bemerkungen" in "Rhein-Reden". - Der Autor hat zuletzt das Buch "Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) vorgelegt.

Die rot-grüne Koalition in Berlin stand vor dem Scheitern. Die Medien sind von gezielten Desinformationskampagnen verunsichert, die Öffentlichkeit müht sich nach dem 11. September in Suchbewegungen: Welche Ursachen und Faktoren sind für die Terrorakte in New York und Washington mit mehr als viereinhalbtausend Toten aus achtzig Nationen verantwortlich? Sind die Militäroperationen der USA und ihrer Verbündeten die angemessene Antwort auf die "Taliban" ("Koranschüler")? Wer sich in den großen Buchhandlungen umhörte, registrierte den neuerlichen Magnetismus des Buches von Samuel Huntington über den "Kampf der Kulturen" aus dem Jahr 1996, obwohl der Autor selbst seine Thesen als unübertragbar auf die aktuelle Konfliktlage bezeichnete und Kritiker aller politischer Couleur nicht müde wurden, noch einmal der Behauptung zu widersprechen, dass wir uns inmitten eines Krieges zwischen Islam und Christentum befänden.

In den westlichen Sozialwissenschaften war bislang die These weitverbreitet, dass mit dem steigenden Gewicht der Moderne die Bedeutung des religiösen Bekenntnisses als individuelle und gesellschaftliche Prägekraft nachlasse. Daraus folgte die wiederkehrende Behauptung, dass die Politik die Religion als Manipulationsmasse für ihre eigenen Zwecke einsetze. Wenn es noch des Gegenbeweises bedurft hatte, so ist er erbracht: Wenn innen- und außenpolitische Konflikte keine Lösungen finden, weht den Regierenden der heißen Wind einer erstarkten politischen Theologie ins Gesicht, dem öffentlicher Tribut zu zollen ist. Das neue religiöse Selbstbewusstsein äußert sich in Gestalt des "Djihad", der seine pluriforme Bedeutung unter den Auspizien rigoroser Islam-Deutungen zugunsten eines Konzepts der Kriegsführung verändert hat.

Osama Bin-Laden zielte mit seinen Sympathisanten nicht allein gegen die westliche Zivilisation. Wäre dies der Fall, dann wäre ihm der Gedanke gekommen, dass im World Trade Center viele hundert amerikanische Muslime arbeiten. Bin-Laden, 1994 aus Saudi-Arabien zwangsweise ausgebürgert, ging es um mehr: um die Reinigung des Islam von all jenen Faktoren, die für ihn zu den verwerflichen Wesenszügen der westlichen Dekadenz gehören; ihr sind nach seiner Überzeugung im World Trade Center arbeitende Muslime verfallen. Der Vorwurf lautet "Neuheidentum". Evolutionäre Prozesse gesellschaftlicher Veränderungen, westliche Staatstheorien, ethische Wertesystemen einer Zivilgesellschaft oder ein modernes Regierungshandeln, das vom Interessenausgleich und Kompromiss lebt und verfassungsrechtlich gebändigt ist, spielen keine Rolle. Da die Negation mit einer Erwartungshaltung korrespondiert, die sich auf das Kommen des bislang verborgenen 12. Kalifen, des Mahdi, und damit auf den Tag des Jüngsten Gerichts ausrichtet, ist verschiedentlich die Unvereinbarkeit zwischen Islam und Demokratie thematisiert worden.

Ihre Quelle liegt in Saudi-Arabien, dessen "Islam der Wüste" gegen den toleranten "Islam der Flüsse" absticht (Jaber Asfour). Dass die doktrinäre Interpretation der "Sharia" - des Religionsgesetzes - besondere Sympathien unter dortigen Geschäftsleuten und arbeitslosen Koran-Schulabsolventen genießt, belegt die fragile Autorität der Königsfamilie in diesem Land der "halben Moderne" (Bassam Tibi), in dem sich Hochtechnologie und legalistischer Rigorismus unvermittelt gegenüberstehen. Die Wahhabiten herrschen in einem "Haus auf Sand", so schon vor Jahren die britische Orientalistin Helen Lackner. Es zeigt sich, dass das Charisma, das sich auf die direkte Nachkommenschaft des Propheten beruft, die reklamierte Vollmacht des legislativen und exekutiven Handelns nicht schlüssig gewährleistet. Da dem Finanzjongleur Bin-Laden ein sozialpolitisch revolutionäres Profil fremd war, störte ihn nicht das Gefälle zwischen Armut und Reichtum zwischen der sogenannten Ersten und Dritten Welt. Auch die Folgen der Globalisierung für die Länder Afrikas und Asiens finden nicht seine Aufmerksamkeit. Vielmehr könnte ihre Überwindung für die Gemeinschaft der Muslime fatale Auswirkungen haben: Der neue Wohlstand würde sie von den Grundsätzen der schriftlichen und mündlichen Überlieferungen ablenken.

Die Unterschichten und Randgruppen sind der Nährboden und das Rekrutierungsfeld der "Taliban", dessen Protest- und Frustrationspotentiale sie unterwandert und genährt haben, um sich anschließend ihrer agitatorisch zu bedienen. Die allenthalben, so auch noch einmal von Günter Grass in Erinnerung an den Nord-Süd-Bericht Willy Brandts verlangte Neuordnung der Weltwirtschaftsordnung greift zu kurz. Viel plausibler klingen Verweise auf die europäischen Kolonialmächte, die nach dem Zweiten Weltkrieg Afrika und Asien in einem anarchischen und vormodernen tribalistischen Zustand zurückließen. Dass der Aufstieg der "Taliban" in die Zeit des afghanischen Bürgerkrieges seit 1989 fiel, als die Sowjetunion das Land verließ, ist ein weiterer Beleg gegen die Relevanz monokausaler Erklärungsmodelle. Die anfängliche Unterstützung der USA aus eigensüchtigen, vor allem ökonomischen und energiepolitischen Gründen im Herzen Asiens mündete schnell in die politische Emanzipation der "Koranschüler". Allein aus vermehrten entwicklungspolitischen Anstrengungen der westlichen und östlichen Industriestaaten wird die Überwindung der Unruhe unter Muslimen also nicht zu erwarten sein. Die westliche Entwicklungshilfe braucht ein neues Begründungskonzept, wenn sie sich weiterhin auf vermehrte Finanztransfers und die Entsendung zusätzlicher Experten beschränkt.

Noch vor einem Vierteljahrhundert erschien die wirkungsmächtige Renaissance des Religiösen in der islamischen Welt unvorstellbar; erst mit dem Sturz des Schahs 1979 im Iran setzte eine Gegenbewegung ein. Inzwischen hat sie selbst die asiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion erfasst: Aserbeidschan, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Tatarstan, Tschetschenien, Turkmenistan und Usbekistan. Gleichzeitig wuchs die Zahl terroristischer Gruppen mit religiösem Hintergrund rasant. An die Stelle der der Tagespolitik fernstehenden Geistlichkeit machte sich ein doktrinär-militanter Islam konkurrierend breit. Der Kolumnist Thomas L. Friedman von der "New York Times" riet den Militärs seines Landes, nach dem Abschluss der Feldzüge in Afghanistan sofort Pakistan zu verlassen. Die islamischen Seminare hätten eine Generation radikaler Theologen produziert: "Der wahre Krieg um den Frieden in dieser Region findet in den Schulen statt." Im Nachhinein weckt die Epoche, als unter den nationalen Befreiungsbewegungen der Primat des Politischen galt, fast nostalgische Gefühle. Solange der Islam exklusive Authentizität beansprucht, der sich auch gemäßigte Kreise nicht entziehen, sind die Chancen westlicher Plädoyers zur Förderung politischer Reformprozesse gering. Die tiefe Frustration und die rasende Empörung speist sich aus der Art und Weise, mit der die USA ihre hegemonialen Interessen verfolgen und auf regionale und tribale Empfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen.

Der 11. September hielt noch eine weitere Lektion parat, dass nämlich der israelisch-arabische Nahostkonflikt die Hauptursache für das Menetekel in New York und Washington sei; auf diesen Topos belieben Kommentatoren und Politiker (unter ihnen an prominenter Stelle Jürgen Möllemann) unentwegt hinzuweisen, obwohl sich Arafat dagegen wehrte, in einem Atemzug mit Bin-Laden genannt zu werden: Er hat mit seinen eigenen Islamisten alle Hände voll zu tun. Die Unterdrückung der Palästinenser entdeckte die "Dritte Welt" erst zu einem Zeitpunkt, als sie sich als wirksame Propagandawaffe herausstellte. Israel ist also mehr Anlass denn Ursache des Zorns, der sich auf eine vermeintliche Konkurrenz stützt: Wie das Konzept des arabischen "Hauses des Islam" keine fremde politische Macht in seiner Mitte dulden will und die Herrschaft über Muslime strikt ablehnt, kann sich die "Land Israel"-Ideologie keine palästinensische Souveränität dulden. Wo enden die Gemeinsamkeiten des exklusiven Denkens? Während der politische Zionismus allein auf jenen Küstenstreifen zwischen Mittelmeer und Jordansenke zielt, lebt der Islam von einer territorialen Entgrenzung.

Das Totalitätskonzept der "Gemeinschaft der Gläubigen" ("umma") liegt dem politischen Panarabismus zugrunde, das gegenüber der Legitimität der arabischen Einzelstaatsordnung neues Gewicht gewonnen hat. Nachdem die Prinzipienerklärung vom September 1993 einstige arabische Aggressionspotentiale gegen Israel gemäßigt hatte, zeichnete sich in der Regierungszeit Benjamin Netanyahus (1996-1999) diese Unversöhnlichkeit ab. Die fortgesetzte Siedlungspolitik kann nur durch das Ende dieses Staates gesühnt werden. Damit wird klar, dass die israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern im eigenen Staat sowie in der Westbank und im Gazastreifen nach Kräften dazu beigetragen haben, dem Islamismus Flügel wachsen zu lassen. Seither stellt sich die Frage, ob der Abbruch der israelischen Repressionspolitik und die Errichtung eines palästinensischen Staates, auf den dieses Volk unzweifelhaften Anspruch hat, die friedenspolitischen Gewichte unter der palästinensischen Bevölkerung und in der arabisch-islamischen Welt stärken würde. Wer in den vergangenen Monaten den Nahen Osten bereist hat, wird sich der Skepsis nicht enthalten können.

Die sogenannten Moslembrüder, jene Urzelle der Abwehr gegen den Einzug der westlichen Moderne, traten zum ersten Mal Ende der zwanziger Jahre auf. Der Bogen reicht von dem Inder Mohammad Iqbal (1877-1938) über den ursprünglich reformorientierten Ägyptern Hassan al-Banna (1906-1949) bis zu Sayyid Qutb (1906-1966). Ihre Parole lautet "Der Islam ist unsere Religion, Mohammad unser Prophet und der Koran unsere Verfassung". Die Ableger der Moslembrüder spielen heute in vielen arabischen Gesellschaften eine Rolle, ob in Sudan mit Sheikh Abdallah Turabi, dem "Philosophenkönig von Khartum mit Killer-Instinkt" in der Spitze, in Libanon mit dem spirituellen Führer der "Hisbollah" ("Partei Gottes") Sheikh Hussayn Fedlallah, in Jordanien mit der "Islamischen Aktionsfront" und der "Verweigerungsfront" - gegen den Friedensvertrag mit Israel - unter Ibrahim Ghawshah und Azzam Hneidi, in Ägypten mit dem Mediziner Ayman al-Zawahri, dem zweiten Mann hinter Bin-Laden, und in Palästina unter den Bezeichnungen "Hamas" ("Bewegung des islamischen Widerstandes") und "Islamischer Djihad" mit Sheikh Ahmad Yassin und Mahmud Zahhar.

Aus einer in Kauf genommenen oder gar hingebungsvoll gepflegten Paranoia, geboren aus einer auftrumpfenden Rhetorik, die mit auftrumpfendem Pathos die machtpolitischen Defizite zu kaschieren sucht, sind wahnhafte Verschwörungstheorien entstanden, die in "den Amerikanern", "den Zionisten" und "den Juden" die allverantwortlichen Täter erkennen, aber die Systematik der weltanschaulichen "-ismen" meinen: Kapitalismus, Sozialismus, Liberalismus, Faschismus, Pluralismus, Universalismus, Säkularismus, Feminismus, Individualismus, Demokratismus und so weiter. Dass diesen Verirrungen auch autokratische Monarchen, herrische Präsidenten und despotische (Militär-)Usurpatoren verfallen sind, macht ihre Häresie und Gottlosigkeit aus. Die Unsicherheit, wer den mit Privilegien ausgestatteten alten Eliten und neuen Cliquen in Politik, Militär, Bürokratie und Wirtschaft nach ihrem freiwilligen oder erzwungenen Abgang folgt, gehört zu den schwersten Hypotheken dieser Länder, weil das Wirken konkurrierender und demokratisch legitimierter Kräfte - ob unabhängige Parteien, Gewerkschaften oder kulturelle Institutionen - zumindest unerwünscht war, wenn sie nicht gewaltsam unterdrückt wurden.

Was in den vergangenen Jahrzehnten von der westlichen Politik dilatorisch verhandelt worden ist, stellt sich plötzlich als brisante Problemlage: die Suche nach den konkreten Auswegen und Remeduren. Einigkeit dürfte darin bestehen, dass der 11. September eine Zäsur darstellt, deren Bedeutung weit über den publizistischen Streit hinausgeht, ob damit das Ende der vielzitierten Spaßgesellschaft eingeläutet worden sei oder nicht. Viel wichtiger ist die Einsicht, dass bisherige Konzepte der Krisenbewältigung überholt sind, weltweit, regional und lokal. Der hehre Anspruch der "Weltinnenpolitik" hat sich als das erwiesen, was ihm Skeptiker seit langem bescheinigen: als hohle Phrase, die systemische Ungleichgewichte um des eigenen Nutzens willen zu stabilisieren suchte. Empfohlen worden ist von Julian Nida-Rümelin, Antworten auf fünf Strukturelemente der offenen Welt-Gesellschaft zur Entscheidung zu geben: 1) das Geltungsprinzip des normativen Universalismus, 2) die Würde des Individualismus, 3) die begründungsorientierte politische Praxis der offenen Gesellschaft, 4) die unverzichtbare politische und kulturelle Öffentlichkeit und schließlich 5) die Kontrolle der politischen Programme und institutionellen Arrangements (FAZ 9.11.2001).

Es fällt auf, dass der Autor durchgängig eurozentrisch geprägte Werte und Vorstellungen anspricht. Dagegen hat Prinz Hassan von Jordanien nach einem "weiten Humanismus" in der christlich-islamischen Begegnung gerufen, und mit seiner Intervention scheint jene Idee auf, der größere Aufmerksamkeit zuteil werden sollte: dem Versuch einer Synthese aus Politik und Religion, in der beide sich auf ihre ethischen Grundlagen besinnen und dem weitverbreiteten Zynismus abschwören. Wenn der Eindruck nicht täuscht, bemühen sich vor allem wertkonservative junge Theologen im Iran, angesichts der sozialen Verwerfungen (riesige Geburtenüberschüsse, beängstigende Kriminalitätsraten, hohe Jugendarbeitslosigkeit, zahllose Korruptionsaffären und anderes mehr), neue Entwürfe für das gesellschaftliche Leben von morgen zu diskutieren und die Kluft zwischen Rationalität und Traditionalismus einzugrenzen. Ob die von manchen arabischen Intellektuellen wie Mohammed Arkoun oder Taher Ben Jelloun geforderte strikte Trennung von Politik und Religion überhaupt wünschenswert ist, steht dahin. Unsere Politiker müssen Theologie lernen.

Die Begründung des westlichen Kriegseinsatzes in Afghanistan treibt wundersame Blüten. Wenn George W. Bush vor der UN-Vollversammlung den Holocaust als Legitimation für die amerikanische Militärintervention bemüht, so wird daran erinnert werden dürfen, dass seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA ein heftiger Disput um die Rolle Washingtons nach Bekanntwerden der deutschen Vernichtungspraxis in Osteuropa tobt; Der langjährige Leiter des Genfer Büros des "World Jewish Congress, Gerhard M. Riegner, hat in seinen Memoiren noch einmal jenes Telegramm thematisiert, mit dem er im August 1942 die Alliierten auf die Dramatik des Massenmordes hinweisen wollte, ohne nennenswerte Resonanz. Der Washingtoner Administration ging es um die Niederwerfung des deutschen Gegners, der ihm 1941 den Krieg erklärt hatte und sich anschickte, eine allen aufklärerisch-liberalen Errungenschaften spottende Weltordnung zu etablieren. Es kann also nicht überraschen, wenn jenseits der bedenklichen Indienstnahme der "Shoah" für aktuelle Zwecke die USA seit Jahren von den Deutschen die "Normalisierung" ihres Geschichtsverständnisses verlangen. Dieses Interesse materialisierte sich in Ronald Reagans Besuch in Bitburg 1986 ebenso wie in amerikanischen Anforderungen deutscher Militärhilfe während des zweiten Golfkrieges 1991 und im Kosovo-Krieg acht Jahre später. Die von Hans-Dietrich Genscher vor kurzem vorgetragene Forderung, wonach die USA eine multipolare Weltordnung akzeptieren sollten, ist bislang ohne Widerhall geblieben.

Es ist schon verwunderlich, dass Sonntagsredner aus Politik und Kultur die talmudische Weisheit "Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung" notorisch im Munde führen, nun aber dafür plädieren, die "Vergangenheit" durch eine "uneingeschränkten Solidarität" zu "bewältigen" und ganz nebenbei die Gegner des Afghanistan-Krieges als Verfechter eines neuen deutschen Sonderweges der politischen Verantwortungslosigkeit zu zeihen. Richtig ist, dass der Ablehnung von Krieg und Terror ein gemeinsam getragenes Verständnis einer neuen Friedensordnung noch fehlt. Wie aber soll es wachsen, wenn schon Nachdenklichkeit in die Nähe unpatriotischer Triebe und mangelnder politischer Tugenden gerückt wird? Statt dessen wird allenthalben zur Pflege der transatlantischen Bindungen eine Grundeinstellung angemahnt, die - wie der Bielefelder Philosoph Karl Heinz Bohrer verlangt - sich endlich auf das "Essentielle" besinnt: die Bereitschaft, mental und physisch "sich souverän als politisch-militärische Mittelmacht darzustellen" und an die Stelle der Realpolitik sich den epochalen "Wechsel der politischen Moral und der Mentalitäten" zu eigen zu machen und die "Modeworte ›Frieden‹ und ›Angst‹ aus den Köpfen zu verbannen". Sind wir so weit, dass die Suche nach einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit mit einem schimpflichen Habitus gleichgesetzt wird? Die Debatten im Bundestag sind ein Seismograph, der das Unbehagen und die Ablehnung in weiten Kreisen in der Gesamtbevölkerung widerspiegelt.

Dass der im Kontext des Protestes auftretende "Anti-Amerikanismus" bisweilen antijüdische Züge trägt, für die die uneinsichtige Politik Israels im Nahen Osten herhalten muss, ist in vielen öffentlichen Diskussionen zu beobachten. Hier verwischen die Grenzen zwischen dem legitimen Recht auf freie Meinungsäußerung und einer neurotischen Fixierung. Deshalb gilt: Wie es keinen Anlass gibt, die Regierung Ariel Sharons zu verteidigen, so steht und fällt die Glaubwürdigkeit des friedenspolitischen Engagements mit der Ablehnung antijüdischer Vorurteile. Sich diesem Zusammenhang zu stellen, sollte denjenigen zu denken geben, die sich ihrer politischen Vernunft rühmen und dennoch pseudotheoretischen Konstruktionen nachlaufen. Es gab eine Epoche in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, als das Recht auf prinzipielle Kritik an der Politik Israels heftig diskutiert wurde. Selbst die Formel von der "kritischen Solidarität" ist Vergangenheit, weil das selbstbewusste Handeln israelischer Regierungen nicht auf sie angewiesen ist. Die breite amerikanische Protestbewegung vermittelt die Hoffnung, dass die Debatten um Krieg oder Frieden auch jenseits des Atlantik in vollem Gange sind. Wir sind alle Amerikaner, doch welche? Darüber gilt es zu debattieren. Sind es die Träger der Behauptung, dass es nichts gebe, was Amerika tun könne, um die Regungen des Hasses in der islamischen Welt zu besänftigen (so der Politologe Michel Ignatieff), oder jene wie die der Schriftstellerin Susan Sontag, die die Nation vor einem kraftmeierischen Patriotismus warnen, der das kritische Denken verbietet?

Der 11. September hält noch eine letzte Botschaft bereit: Die kalten Widersprüche der Globalisierung sind in unserer Mitte angekommen. Es dämmert allen Seiten, dass es mit "Sicherheitspaketen" nicht sein Bewenden haben kann. Auch der im Munde von Politikern und Kulturschaffenden geführte "christlich-islamische Dialog" - andere ethnisch-kulturelle Gruppen außer den Muslimen scheinen in Vergessenheit zu geraten - zum Zwecke vertrauensbildender Maßnahmen hat bislang offenkundig wenig dazu beigetragen, jenes Maß an Selbstverständlichkeit zu entwickeln, die in einem Gemeinwesen soziale Konflikten und gewalttätige Übergriffe abfedert. Worauf also beruft sich der plötzliche Optimismus in die Zukunftsfähigkeit dieses Dialogs? Entspringt er lediglich neuerlichen Ängsten vor unberechenbaren Gefahren? Zuwanderer aus Afrika und Asien müssen eine Phasenverschiebung kulturhistorischer Prozesse verarbeiten: Sie kommen als politische Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten aus Ländern und Kulturen, denen die Erfahrungen von kritischer Aufklärung, individueller Emanzipation und kollektiver demokratischer Willensbildung fremd sind.

Von uns sind Geduld, langer Atem und der Wille gefordert, den Alltagsproblemen der "Fremden unter uns" den verantwortlichen Respekt zu zollen - jenseits eines allgemeinen Bekenntnisses. Andererseits hat die in intellektuellen Kreisen vielfach verschämte "political correctness" dazu geführt, dass wir vor manchen Zumutungen zurückgeschreckt sind, obwohl sie uns einleuchtend erschienen. Deshalb: Eine normative Modernisierung ist zumutbar. So können wir nicht hinter die Verpflichtung zur Gleichberechtigung der Frau im privaten und öffentlichen Leben zurück, wenn wir ihr universale Gültigkeit beimessen. Wir dürfen nicht die Prinzipien der körperlichen Integrität und der uneingeschränkten Loyalität gegenüber dem liberal-demokratischen Rechtsstaat beschädigen lassen, die jedem Staatsbürger selbstverständlich abverlangt wird. Trotz der ideologischen Gegenwehr ist Deutschland ein Einwanderungsland. Die Angst vor einer Multikulturalität, die Bedürfnisse nach identitätsstiftender Besonderheit untergrabe, sind historisch nicht gerechtfertigt: Denn jede Kultur entwickelt sich aus der Interaktion verschiedener Traditionskomponenten - ob Sprache, Philosophie und Naturwissenschaften.

Gerechtigkeit schafft Frieden. Nach dem 11. September und den ihm folgenden Kriegshandlungen ist allen Seiten das aktive Bekenntnis zur Lernfähigkeit abzuverlangen. Die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strategien lässt sich nicht auf die lange Bank schieben, es sei denn um den gefährlichen Preis der Huntington'schen Prophetie vom "Kampf der Kulturen" - in der Innenpolitik.


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