Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Plädoyer für den Dialog

Warum der Krieg gegen "das Böse" nicht zur Lösung der globalen Konflikte führen kann

Von Gerhard Grote *

Die schlimmste aller Ideologien: zu wissen, wer gut und wer böse ist.
Peter Handke


Im August 1993 wurden in der »Zeit« Thesen von Professor Samuel P. Huntington, Direktor des Olin-Instituts für Strategische Studien an der Harvard Universität, unter der Überschrift »Im Kampf der Kulturen« veröffentlicht. Es handelte sich dabei um eine Übersetzung der Thesen, die in einer erweiterten Fassung zur selben Zeit in der amerikanischen Zeitschrift »Foreign Affairs« unter dem Titel »The Clash of Civilizations?« erschienen.

Die gegenwärtige Kaukasuskrise beweist, dass die Auseinandersetzung über die Frage, ob der Kampf oder der Dialog der Kulturen Priorität bei der Lösung weltpolitischer Konflikte haben sollen, heute noch aktueller ist als zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Thesen. Dabei ist auch ein Vergleich mit der »Kubakrise« im Oktober 1962 nützlich. Damals fühlten sich die USA durch die Stationierung sowjetischer Raketen und die Anwesenheit sowjetischer Militärberater auf Kuba, also in unmittelbarer Nähe ihres Staatsgebietes, in ihrer Sicherheit bedroht, und die Welt stand am Rande eines Atomwaffenkrieges. Entgegen den Ratschlägen ihrer Militärexperten konnten Kennedy und Chruschtschow dieses komplizierte Problem im Wege des Dialogs zum Wohle der Menschheit friedlich lösen, ohne dass eine der beiden Großmächte dabei »ihr Gesicht verlor«.

Heute befinden sich amerikanische Waffen und Militärberater an der Grenze zu Russland, und amerikanische Raketen sollen in Kürze ebenfalls in Grenznähe stationiert werden. Es ist offensichtlich, dass auch dieses Problem nur mit Hilfe eines Dialogs zwischen den Beteiligten und – trotz scharfmacherischer Reden einiger Politiker – nicht im Wege der Konfrontation und durch eine Ausweitung kriegerischer Aktionen gelöst werden kann.

Gegenwärtig tobt in mehreren Regionen der Welt ein Kampf der Kulturen in der Form des »Kampfes gegen den internationalen Terrorismus« unter Führung der USA mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung der betroffenen Länder. Und weil die derzeitige Außen- und Sicherheitspolitik der USA in vieler Hinsicht die in Huntingtons Thesen dargelegten Ideen widerspiegelt, erscheint eine prinzipielle Auseinandersetzung mit diesen Thesen – auch 15 Jahre nach ihrem Erscheinen – sinnvoll bzw. notwendig.

* * *

In der deutschen Öffentlichkeit fand zunächst kaum eine kontroverse Diskussion zu den im August 1993 veröffentlichten Thesen statt. Das änderte sich erst nach dem 11. September 2001. Der Angriff auf das World Trade Center, die Attentate islamistischer Fanatiker in Madrid und London, die Erklärung von Osama bin Laden »dies ist erst der Anfang des Kampfes der Kulturen«, die Reaktionen in der islamischen Welt auf die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in dänischen Zeitungen sowie weitere Angriffe religiöser Fundamentalisten auf amerikanische und westeuropäische Einrichtungen in verschiedenen Regionen der Welt schienen eine Bestätigung vom unvermeidlichen »Kampf der Kulturen« zu sein und lösten ein entsprechendes Echo in vielen Kommentaren in der Presse bzw. dem Fernsehen aus.

Ebenso fand der von George W. Bush als Reaktion auf diese Angriffe verkündete »Krieg gegen den internationalen Terrorismus«, der in erster Linie den Einsatz militärischer Kräfte der USA und ihrer Verbündeten erfordere, breite Zustimmung in der Politik und in den Massenmedien, u.a. auch für den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan. Doch gleichzeitig wurden auch Meinungen geäußert, die für einen »Dialog der Kulturen« plädierten, weil die großen und sehr komplexen Konflikte in der Welt, die auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sind, nur auf diese Weise einer friedlichen Lösung zugeführt werden können, ohne die Spirale von Hass und Gewalt weiter in Gang zu setzen.

Die Meinungen zu dieser Problematik gehen auch heute noch weit auseinander. So erklärt der Philosoph Norbert Bolz, Professor für Medienwissenschaft an der TU Berlin, im »Focus« 17/08 den Dialog der Kulturen zu einer »Maske der geistigen Kapitulation«. Und er stellt die These auf, »dass nicht der islamistische Terror das Problem ist, sondern der Islam selbst«. Eine vergleichbare Haltung nimmt der Publizist Henryk M. Broder ein, wenn er behauptet, dass der »so genannte Dialog der Kulturen« immer nur von einer Seite ausgeht und dass von der Möglichkeit, dass auch die Moslems etwas zur Klimaverbesserung beitragen könnten, keine Rede sei (»Focus« 27/08). In bewusst provozierender Absicht bringt er die dänischen Mohammed-Karikaturen, mit denen die religiösen Gefühle vieler gläubiger Moslems in der Welt verletzt werden, zu jeder seiner Lesungen mit. Und der israelische Politiker und Autor Tommi Lapid erklärt in einem Gespräch mit dem »Spiegel« (Heft 19/08): »Der US-Politologe Samuel Huntington hat Recht mit seiner These vom Kampf der Kulturen, und leider befinden wir uns in Israel an der Spitze dieses Kampfes«. Sein Sohn Jair, ein in Israel sehr bekannter Schriftsteller und Fernsehmoderator, sieht das jedoch völlig anders und vertritt, ebenso wie Amos Oz und andere israelische Intellektuelle, einen gegenteiligen Standpunkt.

In den folgenden Thesen will ich den Versuch unternehmen zu begründen, dass es nur mit einem »Dialog der Kulturen« möglich sein wird, die in der Welt vorhandenen großen Konflikte jetzt und in der Zukunft auf friedlichem Wege zu lösen.

1. Gut gegen Böse

Die Thesen, die Huntington, der damals auch als Berater des amerikanischen Außenministeriums tätig war, 1993 veröffentlichte, sind heute noch von so großer Bedeutung, weil in ihnen die langfristige Strategie der USA in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges dargelegt wurde. Zu kritisieren ist u.a., dass die seit Ende des Zweiten Weltkrieges festzustellende Aufteilung der Welt in die »Guten« und die »Bösen« weiterhin gelten soll. Während Ronald Reagan die Sowjetunion als das »Reich des Bösen« bezeichnet hatte, ist diese Rolle nun China und dem Islam zugefallen. Entsprechend dem Grundsatz »was gut für Amerika ist, ist gut für die Welt«, führen die USA, wenn ihre Interessenlage es erfordert, auch völkerrechtswidrige Angriffskriege wie z.B. gegen Vietnam und jetzt gegen Irak. In Anbetracht der sich verändernden Verhältnisse im 21. Jahrhundert und dem Entstehen anderer großer Machtzentren wie China, Indien, Russland kann aber die Anmaßung der USA, als derzeit einzige Supermacht aufgrund ihres mit Abstand größten Waffenarsenals weiterhin die Rolle eines »Weltpolizisten« wahrzunehmen, den Weltfrieden ernsthaft gefährden, so dass nur ein Dialog auf gleicher Augenhöhe auch mit Staaten der »nicht-westlichen« Welt zur friedlichen Lösung vorhandener Konflikte führen kann.

2. Kultur oder Markt

Gegenwärtig wird der Kampf der Kulturen in der Form eines »Kampfes gegen den internationalen Terrorismus« seit 2002 vor allem in Afghanistan geführt. Diesem Land, das weder im 19. Jahrhundert von den Briten noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von der Sowjetunion militärisch besiegt werden konnte, dessen Bevölkerung von mächtigen Stammesfürsten beherrscht wird, wo sich im Verlaufe von Jahrhunderten bestimmte – von der westlichen Zivilisation abweichende – Lebensgewohnheiten herausgebildet haben und wo die Taliban nach dem Abzug der sowjetischen Truppen ein islamistisches Herrschaftsregime errichtet hatten, soll nun durch den Einsatz von NATO-Truppen unter Führung der USA mit überlegener militärischer Gewalt innerhalb weniger Jahre ein Modell moderner westlicher Demokratie übergestülpt werden.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass dieses Ziel mit Sicherheit nicht erreicht werden kann. Große Teile des Landes werden weiterhin von den Taliban beherrscht, die Zahl terroristischer Anschläge auf Besatzungstruppen sowie zivile Einrichtungen ist nicht zurückgegangen, und jede Militäraktion, die – ebenso wie in Irak – zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt und als »Kollateralschaden« verbucht wird, erhöht die Bereitschaft von Selbstmordattentätern, den Tod ihrer Frauen, Kinder oder Eltern zu rächen und als Märtyrer zu sterben.

Trotzdem soll dieser aussichtslose Kampf, bei dem es – entgegen Huntingtons Thesen – nicht primär um Fragen der Kultur und Religion, sondern um handfeste politische und ökonomische Interessen der Weltmächte in dieser Region geht, nach dem Willen der verantwortlichen Politiker in den USA und bei ihren Verbündeten weitergeführt werden. Sogar im Europaparlament herrscht diese Auffassung gegenwärtig noch vor. Denn als im Juli über den von André Brie vorgelegten Afghanistan-Bericht abgestimmt wurde, mussten auf Druck der Mehrheit der Abgeordneten jene Passagen im Bericht gestrichen werden, die anstelle eines verstärkten Militäreinsatzes der NATO-Streitkräfte eine Verlagerung des Engagements der westlichen Länder auf den zivilen Bereich forderten.

Der Nahe Osten ist eine weitere Region, in der seit Jahren ein unerbittlicher, mit aller Härte geführter »Kampf der Kulturen« stattfindet, vor allem zwischen Israel und den Palästinensern. Es zeigt sich, dass die von den USA unterstützte bisherige einseitige Politik der Stärke seitens der israelischen Regierung trotz großer militärischer Überlegenheit nicht zur Lösung der komplizierten Probleme geführt hat, sondern dass die Spirale von Hass und Gewalt weiter geschürt wurde mit großen Opfern auf beiden Seiten und einem unerträglichen Leiden großer Teile der palästinensischen Bevölkerung.

Neben zahlreichen israelischen Publizisten fordern auch bekannte amerikanische Politiker wie der Ex-Präsident Jimmy Carter und der republikanische Senator Chuck Hagel eine Änderung dieser Politik und einen Dialog mit allen an diesem Konflikt Beteiligten, einschließlich der Hamas, der Hisbollah und solchen angeblichen »Schurkenstaaten« wie Syrien und Iran. Ob Afghanistan, Irak oder der Nahe Osten, alle hier und in anderen Regionen der Welt schwelenden großen Konflikte können nicht durch Gewalt von außen aufgrund der militärischen Überlegenheit des Westens unter Führung der USA als Hegemonialmacht gelöst werden, sondern sie erfordern zwingend einen umfassenden »Dialog der Kulturen«.

3. »Der Islam«

Sowohl in Huntingtons Thesen als auch in der Diskussion in den Medien wird immer von »dem Islam« als einem der großen Kulturkreise mit auf dem Koran beruhender innerer Homogenität gesprochen, von dem aufgrund seiner angeblichen Aggressivität eine besondere Bedrohung für die westliche Welt ausgeht. Eine solche einheitliche »islamische Welt« existiert aber nicht. Es gibt Sunniten, Schiiten, Alawiten und andere Untergruppen, die sich zum Teil blutige Kämpfe gegeneinander liefern, wie z.B. gegenwärtig in Irak. Ebenso unterscheidet sich der Einfluss der Religion auf das Alltagsleben der Menschen stark von Land zu Land, z.B. zwischen Saudi-Arabien, Dubai und Jordanien, und in einigen Ländern gibt es starke Oppositionskräfte gegen die Regierung, wie die Moslembrüder in Ägypten oder islamistische Terrorgruppen in Algerien, wobei diese Auseinandersetzungen innerhalb einzelner Länder vielfach auf die dort herrschende schlechte soziale Lage, wie z.B. hohe Jugendarbeitslosigkeit, auch unter den Hochschulabsolventen, zurückzuführen sind.

Bei Teilen der Bevölkerung gibt es Tendenzen einer verstärkten Hinwendung zur Religion, verbunden mit einer Abgrenzung gegen Einflüsse des Westens, ebenso bestehen aber auch gegenteilige Bestrebungen, vor allem unter vielen Intellektuellen. Auch die gegenwärtigen Konflikte innerhalb der Türkei zeigen, wie kompliziert und widersprüchlich die Bedingungen und Entwicklungstendenzen innerhalb der Gemeinschaft islamischer Länder sind und dass die von Huntington genannten »Bruchlinien« weniger zwischen »dem Islam« und »dem Westen« verlaufen, sondern verstärkt innerhalb der islamischen Welt.

Auf jeden Fall ist es unzulässig, den Islam insgesamt mit den in einzelnen Ländern aktiven Fundamentalisten, die nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen, gleichzusetzen, wie es z.B. Prof. Bolz macht. Hinzu kommt, dass sich diese Gruppen sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Strukturen als auch ihrer Zielstellung gegen innere und äußere Feinde stark voneinander unterscheiden. Die Auseinandersetzung mit den diversen fundamentalistischen Terrorgruppen muss deshalb grundsätzlich trotz der vorhandenen riesigen Probleme innerhalb der jeweiligen islamischen Länder (z.B. Pakistan, Afghanistan, Somalia) geführt werden. Militäreinsätze von NATO-Truppen im Rahmen des »Kampfes gegen den internationalen Terrorismus« verstärken nur den Hass auf den Westen und die Zunahme von Terroranschlägen durch gewaltbereite Fundamentalisten.

4. In Deutschland

Auch in der Bundesrepublik, wo ca. 3,5 Millionen Menschen leben, deren Familien aus islamisch geprägten Ländern kommen, könnte, oberflächlich betrachtet, der Eindruck entstehen, dass es hier einen »Kampf der Kulturen« gibt. Erscheinungen wie einzelne »Ehrenmorde« in strenggläubigen moslemischen Familien, der »Kopftuchstreit«, die Erziehung türkischer Kinder zum Hass gegen »Ungläubige« durch einen fanatischen Imam an einer Koranschule in Köln, Aktivitäten einiger deutscher Jugendlicher in Al Qaida-Lagern nach ihrem Übertritt zum Islam, überdurchschnittliche Jugendkriminalität in Stadtvierteln mit besonders hohem Ausländeranteil, Proteste deutscher Bürger gegen den Bau von Moscheen in ihrer Wohngegend und ähnliche Fakten könnten zu einem solchen Urteil verleiten.

Dabei wird aber oft übersehen, dass ein Teil dieser Probleme auf Mängel in der deutschen Politik in den vergangenen Jahrzehnten – insbesondere im Bildungswesen – bei der Integration der Einwanderer in unsere Gesellschaft zurückzuführen ist, dass sich die meisten bei uns lebenden Bürger moslemischen Glaubens von Übergriffen einiger Fanatiker in ihren Reihen distanzieren und dass es entgegen der Meinung von Henryk M. Broder bereits eine Vielzahl von Aktivitäten wie Gesprächsrunden, Filme, Publikationen usw. aus diesen Kreisen für einen »Dialog der Kulturen« gibt mit dem Ziel, auch bei unterschiedlichen Auffassungen, z.B. in religiösen Fragen, ein friedliches Zusammenleben in unserem Lande, wo Christen, Moslems, Juden, Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und Atheisten leben, zu fördern.

* Gerhard Grote lehrte bis 1988 Außenwirtschaft an der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) in Berlin-Karlshorst.

Aus: Neues Deutschland, 13. September 2008



Zurück zur Seite "Islam"

Zur Terrorismus-Seite

Zurück zur Homepage