Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wir und die Anderen: "Gemeinsamkeiten weit größer als Unterschiede"

Der deutsche Politologe Werner Ruf im Interview über Islam, Integration, Abgrenzung und Religion

Von Christa Hager *


Wien. Stereotype sind wichtig für die Wahrnehmung, man braucht sie, um Ordnung in die Fülle an Information zu bringen. Im Zuge dessen werden Menschen in Kategorien eingeteilt; bei Muslimen kommt es – sei es durch Unwissenheit, sei es durch politische Instrumentalisierung oder gesellschaftliche Klischees – oft zu diskriminierenden und starren Zuschreibungen.

In seinem aktuellen Buch "Der Islam – Schrecken des Abendlands" (erschienen 2012 im Verlag PapyRossa) widmet sich der deutsche Politologe Werner Ruf diesem Thema: er zeichnet den Werdegang der Islamophobie nach sowie der Frage, was denn der "Islam" eigentlich ist. Im Interview mit der Wiener Zeitung spricht er über Religion, die Konstruktion des Eigenen durch die Abgrenzung vom Anderen, über die Scharia in den USA und über die Grundvoraussetzung für gelingende Integration.


Werner Ruf

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Tunesien: Die Wiege des arabischen Frühlings – auch dessen Grab?
Hier geht es zum Programm des Kongresses




"Wiener Zeitung": In der Öffentlichkeit wird Islam und Islamismus oft verwechselt. Wo ist die Grenze?

Werner Ruf: Die Unterscheidung ist noch sehr jung. Zum einen wird mit Islamismus heutzutage oft schon jede Äußerung von Identität bezeichnet. Zum anderen versuchen nach dem "Arabischen Frühling" islamistische Kreise in den Ländern dort eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen, die sich konsequent auf den Islam und seine Gebote bzw. auf das was man heute aus den Geboten und den Offenbarungen herausliest, bezieht. Hier würde ich den Begriff Islamismus benützen.

Kritik an Religionen muss erlaubt sein. Wie soll man über Islam reden?

Bei dieser Kritik ist immer der Kontext wichtig. Leider verdeckt sich hinter Islamkritik oft Rassismus. Bei Muslimen zum Beispiel scheint Religionszugehörigkeit etwas Erbliches zu sein: Muslime bleiben Muslime, auch wenn sie in der dritten, vierten oder fünften Generation so säkular sind wie du und ich und viele andere. Das heißt: die Abstammung aus einer bestimmten Gegend wird benutzt, um Menschen eine Eigenschaft zuzuschreiben. Und diese Eigenschaft wird verbunden mit der Religion.

Für viele ist ein muslimischer Prediger automatisch ein Prediger des Jihad. Das heißt aber nicht, dass es diese nicht auch tatsächlich gibt.

Natürlich gibt es diese radikalen Kräfte. Allerdings sind auch sie zum Teil eine Reaktion auf Ausgrenzung. Diese Dialektik ist sehr wichtig: wenn ich den anderen ausgrenze, dann führt das dazu, dass der andere sich auch weiter auf sich selbst konzentriert, auf seine eigenen Wurzeln schaut, seine Andersartigkeit begründet und artikuliert.

Als ich in den 1980er Jahren Hochschullehrer war, gab es an den Universitäten keine Kopftücher. Die haben seit den 1990er Jahren zugenommen, sie sind vor allem Ausdruck von: "Ich bin eben anders, dann zeig ich’s auch und bekenne mich dazu." Zwar gab es in den 80er Jahren weniger Studentinnen aus dem Migrationsmilieu, doch ein solches Identifikationssymbol war damals trotzdem nicht zu sehen.

Worauf führen Sie diesen Wandel zurück?

1990/1991 kam dem Westen durch den Zusammenbruch des Sozialismus der Feind abhanden. In der Dialektik des sich Definierens braucht man immer einen anderen: "Wir sind gut, die anderen sind böse, bedrohlich, aggressiv." Die NATO spricht ab 1991/92 in ihrer strategischen und analytischen Literatur von den neuen Risiken, angefangen von Ökologie über Kriminalität, Terrorismus bis Migration. Und dann kam Huntingtons "Clash Of Civilisations". Dieser Aufsatz bemüht sich fast wörtlich um die alten auf der "Rasselehre" basierenden antisemitischen Klischees des 19. Jahrhunderts.

Huntington hat dem drei Jahre eins drauf gesetzt indem er sagte: "The west unique, not universal", also "der Westen ist einzigartig aber nicht universell". Dadurch wird Demokratie dem Westen zugeschrieben, die Menschenrechte sind nicht mehr universell sondern gelten nur mehr für uns. Man hat damit den Untermenschen neu definiert und das alte Klischee auf eine neue Gruppe projiziert, auf den Islam. Und das neue Feindbild wurde begierig aufgegriffen.

Läuft man nicht auch Gefahr, bei der Debatte um das Wir und die Anderen nicht auch den Westen über einen Kamm zu scheren? Die Debatten über das Kopftuch zum Beispiel verlaufen in Österreich ganz anders als in Frankreich, das ja ein laizistischer Staat ist.

Über Frankreich machen wir uns Illusionen. Dort wird debattiert, ab wann ein Kreuz an der Kette ein Bekenntnis ist oder ein Schmuckstück. Da gibt es sogar Größenvorschriften. Auch wenn in den Schulen Frankreichs keine Kruzifixe hängen - das ist nicht die ganze Geschichte! Denn Frankreich ist bei weitem nicht so säkular wie es die offizielle Staatsdoktrin vorgibt.

Man darf nicht vergessen, dass der französische Kolonialismus mehr als 200 Jahre lang die Religion instrumentalisiert hat: der Katholizismus war immer ein Argumentationsmittel für die Herrschenden. Das gilt vor allem für Algerien, wo die Religionszugehörigkeit instrumentalisiert wurde, um die Algerier zu diskriminieren. Algerien galt nicht als Kolonie sondern als Teil Frankreichs, Algerier waren französische Staatsangehörige aber keine Staatsbürger: man verwehrte ihnen die vollen Rechte. Sie durften Kleinigkeiten des Privatrechts oder Erbrechts behalten, und bekamen dafür Gesetze wie die Verpflichtung zum Wehrdienst. Die Gründung von politischen Parteie und Gewerkschaften blieb ihnen verboten, außerdem hatten sie kein Wahlrecht. Sie waren "Les Français musulmans d\'Algérie", also Muslimische Franzosen aus Algerien.

Lehrer erzählen oft von der Schlechterstellung von muslimischen Mädchen in der Schule: Im Vergleich zu ihren männlichen Geschwistern seien sie schlecht ausgestattet, ihre Ausbildung sei den Eltern egal.

Auch bei Familien aus sozial benachteiligten Unterschichten gehen viele Kinder ohne Schulzeug in die Schule. Und ohne Frühstück. Handelt es sich um Muslime, hat man gleich eine Erklärung dafür: dann ist die Religion schuld, die Kultur. Sind es Kinder aus unseren Unterschichten, dann ist das halt bedauerlich.

Wir wissen aber auch, dass gerade Mädchen aus diesem Migrationsmilieu sehr motiviert sind und versuchen, den sozialen Aufstieg zu schaffen, sich zu integrieren. Aber wenn sie permanent abgewiesen werden, dann kann das umschlagen.

In ihrem aktuellen Buch "Der Islam – Schrecken des Abendlandes" widmen sie sich der Kritik am behaupteten "Kampf der Kulturen". Ihr Buch wurde auch auf der einschlägig bekannten Website muslim-markt positiv besprochen. Stört sie das?

Was wäre, wenn Opus Dei ein Buch von mir positiv rezensieren würde? (lacht) Der muslim-markt ist sicherlich eine einschlägige Seite. Dass dort mein Buch nicht verrissen wird, liegt auf der Hand. Die Intention meines Buches war, zur Integration beizutragen: wenn es in islamischen Kreisen diskutiert wird, dann kann das durchaus ein Beitrag dazu sein und so war es auch gemeint.

Wie wir die Anderen definieren, was sagt das eigentlich über uns aus?

Die Debatte über die Anderen sagt viel mehr über den Zustand unserer Gesellschaft aus als über das tatsächliche Verhältnis. Es gibt das schöne Beispiel von dem Finger, mit dem man auf den Anderen zeigt. Es zeigen dann drei Finger wieder auf einen selbst zurück. Diese drei Finger, die auf uns zurück weisen, das sind unsere alten Traditionen von Ausländerfeindlichkeit. Dieser Rassismus hat seine Wurzeln hauptsächlich in der alten Judophobie. Hinzu kommt der Antisemitismus der Nazis. Das sind die gleichen Topoi, die gleichen Interpretationsmuster, die wir heute wieder finden.

Den Klischees eines bedrohlichen Islam steht die Normalität des Alltags der meisten Muslime gegenüber, die in Österreich leben. Wie könnte das Zusammenleben besser funktionieren.

Das wichtigste ist, dass ich den anderen als gleichen und gleichberechtigten Menschen akzeptiere! Wenn ich ihn ausgrenze dann befördere ich dessen eigene identitäre Eingrenzung. Natürlich könnte man anstatt sich Abzugrenzen auch über die vielen Gemeinsamkeiten sprechen und miteinander Feste feiern.

Braucht es Religion zur Integration?

Wenn man eine wirkliche Integration wollte, dann dürfte man die Religion nicht permanent instrumentalisieren und konstruierte Unterschiede vortragen. Die Spitze des Eisbergs ist hierbei sicherlich Thilo Sarrazin mit seinen Behauptungen, "die sind nicht integrierbar, die wollen sich nicht integrieren".

Argumentiert man auf der religiösen Ebene, könnte man die Gemeinsamkeiten der Religionen herausstellen. Diese sind weit größer als die Unterschiede. Unser gottähnlicher Heilsbringer Jesus ist einer der großen Propheten im Islam, die Ahnväter Moses und Abraham usw. sind die gleichen. Da gibt es eine ganze Menge mehr. Vor Jahrzehnten diskutierte ich mit religiösen Nordafrikanern darüber. Sie fragten: "Habt ihr jetzt einen Gott oder habt ihr drei?" Das ist der eigentliche dogmatische Unterschied.

Warum wird das Gemeinsame nicht mehr beachtet?

Weil man kein politisches Interesse daran hat. Die Migranten bzw. Menschen aus migrantischen Verhältnissen stellen die untere soziale Ebene dar. Hier findet eine andere Form der Ausgrenzung der unteren sozialen Schichten statt: soziale Diskriminierung rassistisch verkleidet.

Geht es vielen Gläubigen auf allen Seiten nicht auch darum, ihre Religion als die wahre Religion darzustellen?

Einigen Kreisen geht es sicherlich darum. Aber unsere Gesellschaften sind schon so säkular, dass Religion diese Rolle nicht mehr spielt.

Warum wird sie dann heute aber so hochgezogen?

Um soziale Unterschiede zu zementieren.

Soziale Ängste nehmen zu, sie bringen Identitäten ins Wanken, werden instrumentalisiert und nähren Sündenbockmentalitäten.

Ja. Soziale Ängste nähren aber auch die Unsicherheiten der Migrantinnen: sie bekommen das Gefühl, dass sie hier nicht dauerhaft bleiben können. Sie versuchen daher das, was ihnen wichtig ist, zu pflegen, damit sie sich im Falle einer Rückkehr entsprechend eingliedern können. Sie knüpfen dabei an eine oft imaginierte Kultur an. Ihr Verhalten entsprechend der Vorschriften dieser Kultur wird plötzlich wichtig, weil es auch um das soziale Überleben geht.

Wie weit soll man gehen: In drei Bundesstaaten der USA zum Beispiel wird ein zivilrechtliches Schariasytsem praktiziert. Ist es überhaupt wünschenswert, dass man in einem Staat verschiedene Rechtssysteme hat?

Dies wäre mit dem europäisch-zentralistischen, teilweise vom Jakobinismus beeinflussten Rechtsdenken, schwer vereinbar. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass in einer konsequent multikulturellen Gesellschaft bestimmte Teile des Zivilrechts durchaus in unterschiedlichen Regeln gelebt werden könnten, ohne dass dies die Identifikation mit dem Staat in Frage stellen muss.

Wir sehen in der Scharia meistens nur Frauenrechte und Körperstrafen. Aber dass die Scharia ein riesiges Rechtssystem ist, mit Privatrecht, Familienrecht, aber auch mit Gesellschaftsrecht und Finanzrecht, das übersehen wir dabei. Dann ist es auch schwer, bestimmte Teile herauszunehmen und andere akzeptieren zu wollen. Darüber müssten sich multikulturell ausgebildete Juristen Gedanken machen. Das geschieht bereits zum Teil. An deutschen Universitäten gibt es inzwischen eine ganze Menge Forschungsbereiche über das islamische Finanzwesen, wo man feststellt, wie herrlich islamische Finanzprodukte mit unseren neoliberalen Finanzmarkideologien kompatibel ist. Das Problem, das der Islam hierbei hat, ist das Zinsverbot. Es ist allerdings kein Problem, wenn man mit Aktien handelt. Da gibt es alle Möglichkeiten und Tricks. Und Länder wie Saudi-Arabien oder Katar sind mächtige Akteure auf den Finanzmärkten. Dort geht es ums Geschäft, um den schnellen Profit, dort spielt Religion keine Rolle mehr!

* Werner Ruf ist emeritierter Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik der Universität Kassel.

Dieses Interview erschien in der Wiener Zeitung vom 15. November 2012; www.wienerzeitung.at
Mit freundlicher Genehmigung der Redakteurin.
URL: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_integration/gesellschaft/501563_Gemeinsamkeiten-weit-groesser-als-Unterschiede.html


Zurück zur Islam-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage