Islam in der Türkei
Wissenswertes über Laizismus, Religiosität und Hauptvarianten des Islam
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Artikel aus den "Informationen zur politischen Bildung", (Heft 277) herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung.
Von Udo Steinbach
Laizismus und Religiosität
Die Kemalisten waren der Überzeugung gewesen, dass
es gelingen würde, den Islam aus dem Erscheinungsbild
der Türkei zurückzudrängen und ihn ausschließlich in die
Sphäre der persönlichen Religiosität zu verbannen.
Bereits Ende der vierziger Jahre deutete sich an, dass
sie einen zu rationalen, zu europäischen Maßstab an die
Türkei angelegt hatten.
Lediglich in ihren frühen Jahren hat die Türkische
Republik das Prinzip des Laizismus konsequent
angewandt und streng auf einer Trennung von Religion
und Politik bestanden. Mit der Einführung des
Mehrparteiensystems begannen Politiker jedoch, die
Religion für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Der
Religionsunterricht wurde wieder zugelassen, zunächst
nur wahlweise an den Grundschulen, unter den Militärs
im Jahre 1982 sogar obligatorisch in allen Schulformen.
Noch vor dem erdrutschartigen Wahlsieg der DP im
Jahre 1950 wurde 1949 in Ankara eine neue
theologische Fakultät eröffnet. Korankurse, wenn auch
staatlich organisiert und kontrolliert, erhielten Zulauf,
ein intensiver Neubau von Moscheen setzte ein,
verfallene Moscheen wurden restauriert.
Nach ihrem Putsch von 1980 setzten die Generäle den
Islam dann gezielt ein, um die politische Linke
zurückzudrängen. Als sie 1983 abtraten, gelang es dem
neuen Premierminister Turgut Özal, der selbst dem
Orden der Nak?ibendi (siehe unten) angehörte, die
religiösen Stimmen nahezu geschlossen an sich zu
binden. Zu den meisten Bruderschaften (siehe unten)
unterhielt er gute Kontakte; in seiner
"Mutterlandspartei" waren die - gemäßigten - Islamisten
lange Zeit stärker als der liberale Flügel. Von 1983 bis
1991 übernahmen sie zahlreiche Stellen in der
staatlichen Bürokratie, vor allem in den Ministerien für
Erziehung und Inneres sowie im Planungsamt.
Die Bruderschaften (Tarikat) und Gemeinschaften
(Cemaat) begannen, Zeitungen zu gründen, Schulen zu
führen und Unternehmen zu betreiben. Auch die
marktwirtschaftliche Öffnung begünstigte die
"Islamisierung". Wo der Staat dem gestiegenen Bedarf
an sozialen Leistungen aufgrund leerer Kassen nicht
mehr nachkommen konnte, füllten islamische
Selbsthilfegruppen die Lücke. In den achtziger Jahren
konnte somit eine neue Generation von säkularen, aber
auch urbanen religiösen Intellektuellen heranwachsen,
die sich erstmals zu Fragen der politischen Ordnung
äußerten. Einige von ihnen zählen heute zu den meist
gelesenen Theoretikern der Türkei. Zeitungen und
Zeitschriften mit islamischem Profil etabilierten sich, auch
Fernsehkanäle und Radiostationen. Es entstand ein
islamischer Literaturbetrieb mit eigenen Verlagen und
Vertriebswegen.
Hauptvarianten
Der Islam in der Türkei stellt sich in drei Varianten dar:
als Staatsislam, Volksislam sowie als politischer Islam
(Islamismus). Die erste Variante ist vor allem durch die
Religionsbehörde, das Diyanet I?leri Reisli?i (Präsidium
für religiöse Angelegenheiten, kurz: Diyanet), geprägt.
Ihm oblagen und obliegen die Überwachung der
religiösen Literatur und die Verwaltung der geistlichen
Ämter. Das Diyanet war bis 1950 mit wenig Personal
ausgestattet und hatte lediglich den Koran und einige
religiöse Grundlagenwerke herausgegeben. Seither
wuchs das Amt zu einer komplexen Behörde: Es
beschäftigt 88000 Angestellte - Vorbeter (Imam),
Prediger (Hatip), Gebetsrufer (Müezzin) und islamische
Rechtsgelehrte (Müftü). Ihm unterstehen über 70000
Moscheen, die von der "Generaldirektion für Stiftungen"
unterhalten werden.
Das halbamtliche Konzept einer türkisch-islamischen
Synthese sucht eine Verbindung von Türkentum und
Islam, Staat und Religion herzustellen. Ihre Ideologen
und Wortführer, vertreten durch den
"Intellektuellenclub" (Ayd?nlar oca??), haben sich seit
den siebziger Jahren in Gestaltung und Ausführung von
Verfassung und Gesetzgebung eingeschaltet.
Hauptanliegen des "Clubs" war es, salopp formuliert,
"2500 Jahre (!) Türkentum, 1000 Jahre Islam und (nur)
150 Jahre westlichen Denkens in der nationalen Kultur
der Gegenwart" zur Synthese zu bringen (nach Petra
Kappert). Dieses Anliegen wurde sowohl von einer
nationalistischen wie einer islamischen Klientel
verinnerlicht, die den Grundkonflikt zwischen
gesteigertem türkischen Nationalbewusstsein und
islamischer Identitätskrise bis dahin nicht zu lösen
vermocht hatte.
Volksislam
Dem puristischen Islamverständnis gegenüber hat sich
in der gesamten islamischen Welt ein Volksislam
entwickelt, der überwiegend die einfachen Gläubigen
anspricht. Er organisiert sich in Bruderschaften und
nimmt Elemente des Heiligenkults auf, aber auch der
Mystik und des Aberglaubens. Die Bruderschaften
vertreten die Einstellung, dass der Mensch Gott
erkennen und zeitweise zu einer Einheit mit ihm
gelangen kann. Der mystische Lehrer, der an der Spitze
einer Bruderschaft steht, führt seine Anhänger auf den
Weg dieser Gotteskenntnis.
1924 wurde nicht nur das Kalifat beseitigt, auch die
Bruderschaften wurden abgeschafft. Gleichwohl war es
schwierig, den Aktionsradius jener Bruderschaften
einzuschränken, die sich informell um Scheichs
gruppierten. Sie überlebten, oft als Wanderprediger, im
Untergrund; zum Fortdauern des türkischen Islam
leisteten sie einen wesentlichen Beitrag. Im Zeichen der
einsetzenden Liberalisierung nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs kamen sie wieder zum Vorschein.
An der Spitze eines der einflussreichsten Orden, der
Nak?ibendi, steht Fethullah Gülen, der 1938 in der
nordostanatolischen Stadt Erzurum geboren wurde.
(Der Orden führt seine Entstehung auf den aus der
Gegend von Buchara stammenden Mohammed
Naqschband, 1317-1389, zurück.) Der "türkische Islam",
den Gülen vertritt, soll wie das Osmanische Reich
gegenüber nichtislamischen Religionen tolerant und
gegenüber den Wissenschaften aufgeschlossen sein.
Gülen strebt nach einer Einheit zwischen den
Traditionen der lokalen Religiosität und den
Anforderungen der Moderne. In seinem Imperium
nehmen daher die privaten Schulen eine zentrale
Stellung ein. Eine zweite Säule seiner Aktivitäten sind
die Medien. Die auflagenstärkste islamische
Tageszeitung "Zaman" der nationale Fernsehkanal
"Zamanyolu" und mehrere Zeitschriften hören auf seine
Stimme.
Politischer Islam
Die dritte Facette des Islam in der Türkei ist der
politische Islam. Bis in die sechziger Jahre hatte der
türkische Islam keinen Anspruch auf politische
Wirksamkeit erhoben. Dies änderte sich mit Mehmet
Zahid Kotku (1897-1980), einem Scheich der
Bruderschaft der Nak?ibendi. Er begann in den
sechziger Jahren in Istanbul einen Kreis politisch
motivierter Studenten um sich zu scharen, verließ den
"kulturellen Islam" der türkischen Konservativen und
entwickelte einen "politischen Islam". Zu seinen
Studenten gehörten Necmettin Erbakan und Turgut
Özal. Auf Anregung Kotkus gründete Erbakan 1970 die
erste islamistische Partei der Türkei. Nach diversen
Verboten durch das Verfassungsgericht (bzw. das
Militär) nannte sie sich in den achtziger und neunziger
Jahren "Wohlfahrtspartei" (Refah Partisi, RP).
Aufgrund der zwei Phasen ihrer Geschichte - Herkunft
aus einer politisierten Bruderschaft, Wählerzuwachs
durch die rasche Urbanisierung - besteht die
islamistische Partei aus zwei Generationen, die ein
unterschiedliches Politikverständnis vertreten. Die erste,
traditionalistische Generation stammt überwiegend aus
der anatolischen Provinz und ist in den hierarchischen
Strukturen der Bruderschaft der Nak?ibendi verwurzelt.
Während der Urbanisierung der achtziger Jahre wurde
die erste Generation um eine junge, modernistische
ergänzt, die nicht mehr in Bruderschaften eingebunden
ist. Die RP trat jetzt moderner auf als ihre
Vorgängerparteien. Themen wie Wirtschaft und
Soziales, Verwaltung und Management ersetzten
religiöse Diskurse und theologische Fragestellungen.
Erst der modernistische Flügel ermöglichte der Partei,
ihren Stimmenanteil von 1987 bis 1995 zu
verdreifachen. Die Früchte dieser Strategie konnte sie
1994 (Sieg bei den Lokalwahlen) und 1996 (Übernahme
der Regierungsverantwortung) ernten.
Die anhaltenden inneren Auseinandersetzungen und
Querelen auch in der Nachfolgepartei ("Tugendpartei",
Fazilet Partisi, FP) haben deren Ansehen in der
Öffentlichkeit jedoch sinken lassen. Das Ergebnis war
der Rückgang der Wählergunst bei den
Parlamentswahlen vom April 1999. Im Juni 2001 wurde
die Partei verboten. Von den beiden Nachfolgeparteien
versteht sich die "Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung" (AKP) als reformistische Kraft im Gegensatz
zur traditionell-religiösen "Glückspartei" (SP). Damit ist
die Spaltung in den Reihen des politischen Islam in der
Türkei unübersehbar geworden.
Anders als in anderen islamischen Ländern, etwa
Algerien oder Ägypten, ist islamisch motivierte Gewalt,
die das islamische Gesetz (?eriat) mit Waffen
durchzusetzen sucht, noch kein verbreitetes Phänomen.
Eine Bedrohung geht jedoch von zwei militanten
Bewegungen aus: der "Front der Soldaten des
islamischen Großen Ostens" (Islami Büyük Do?u
Ak?nc?lar-Cephe, IBDA-C) und der türkischen Hizbollah.
Beide sind für eine Reihe von Terroranschlägen in der
ersten Hälfte der neunziger Jahre verantwortlich: Die
IBDA-C in westlichen Großstädten, die Hizbollah im
kurdischen Südosten. Die IBDA-C ist aus einer
kurdischen Umgebung hervorgegangen und hat einen
großen föderativen islamischen Staat propagiert. Viele
Anhänger der Hizbollah rekrutierten sich indessen aus
islamistischen kurdischen Kreisen, die mit der
Unterstützung der Sicherheitsorgane den "linken"
kurdischen Separatismus bekämpfen sollten.
Ende 1999 begannen die Sicherheitskräfte selbst,
gegen die Hizbollah vorzugehen. In wenigen Wochen
wurden Dutzende von Leichen ermordeter Journalisten,
Intellektueller und Wirtschaftsvertreter entdeckt.
"Kurden", "Linke", "Liberale" und "Unterstützer der PKK"
waren die Kriterien, nach denen sie als Opfer
ausgesucht zu sein schienen. Nur zögernd räumten
Vertreter des Staates ein, dass die Sicherheitskräfte an
der makabren Instrumentalisierung islamistischer
Extremisten und an der Vertuschung ihrer Untaten
Anteil hatten.
Aleviten
Nach den sunnitischen Muslimen bilden die Aleviten die
zahlenmäßig größte Religionsgemeinschaft, der jeder
fünfte Bewohner der Türkei angehört. Die Aleviten
bekennen sich zum Islam. Doch anders als die Sunniten
beherzigen sie die "Fünf Säulen", die grundlegenden
Glaubensvorschriften des Islam (Ablegung des
Glaubensbekenntnisses; fünfmaliges Gebet am Tag;
Abgabe eines bestimmten Vermögensanteils; Fasten im
Monat Ramadan; Wallfahrt nach Mekka) nicht.
Den Koran legen die Aleviten nicht nach den Buchstaben
aus, sondern deuten ihn mystisch. Der Mensch, der im
Zentrum ihrer Frömmigkeit steht, soll nicht Sklave Gottes
sein, sondern seine vollkommene Schöpfung; er soll
autonom und selbstverantwortlich handeln.
Die Aleviten beten nicht in einer Moschee, sondern
treffen sich zu kultischen Handlungen in einem
Gemeindehaus (Cemevi), Männer und Frauen nehmen
daran gleichberechtigt teil. Kultelemente sind religiös
inspirierte Gedichte und rituelle Tänze. Das Alevitentum
ist das Ergebnis einer religionsgeschichtlichen
Entwicklung, die christliche und gnostische Elemente
aufgenommen hat. Am auffallendsten aber sind zugleich
radikal schiitische Züge, die in der Vergöttlichung Alis
gipfeln, des Vetters und Schwiegersohns des Propheten
Mohammed. An die Stelle der Einheit Gottes setzen die
Aleviten die Trinität Allah-Ali-Mohammed.
Das Alevitentum war im 13. Jahrhundert in Anatolien als
Volksreligion der ländlichen Bevölkerung und der
nomadisierenden Turkmenenstämme entstanden.
Geprägt ist es von den Bruderschaften, die mit ihrer
volkstümlichen Mystik den religiösen Grundbedürfnissen
der einfachen Bevölkerung mehr entgegenkamen als
der orthodoxe Islam mit seiner Gesetzestreue und
Schriftgläubigkeit. Eng waren zunächst die religiösen
und politischen Beziehungen zum mystischen Orden der
iranischen ?afawiden.
Nach der Niederlage des ?afawidischen Schahs Ismail
gegen die Osmanen bei C,ald?ran im Jahre 1514 fand
die Mehrheit der anatolischen Aleviten eine neue
geistige Leitung im Orden des türkischen Mystikers Haci
Bekta? Veli, den Bekta?is. Dieser Orden war im 13.
Jahrhundert gegründet worden und hatte sich über
ganz Anatolien ausgebreitet.
Wegen ihrer unorthodoxen Auslegung des Korans und
ihrer religiösen Praktiken galten die Aleviten in der
osmanischen Epoche als "Häretiker". Sie wurden an den
Rand gedrängt, sogar verfolgt. Die Republik Türkei
brachte den Aleviten Glaubensfreiheit und die
Anerkennung als gleichberechtigte Bürgerinnen und
Bürger. Das erklärt, weshalb die Angehörigen der
alevitischen Glaubensgemeinschaft politisch durchweg
dem kemalistisch-laizistischen Lager zuzurechnen sind.
Aleviten leben über das ganze Land verteilt, doch liegen
ihre Siedlungsschwerpunkte im Osten Zentralanatoliens.
Die alevitischen Zuwanderer, die in den sechziger und
siebziger Jahren in die Großstädte gezogen waren,
haben den sozialen Aufstieg meist geschafft. Es
entstand eine alevitische Mittelschicht, die Anwälte,
Ingenieure, Unternehmer, Journalisten und ähnliche
Berufe hervorbrachte. Ihnen fallen bei der
Neuorganisation der Gemeinschaft heute
Führungsaufgaben zu. Politisch bekennen sie sich
überwiegend zur Sozialdemokratie und gemäßigten
Linken. Auffallend ist aber zugleich der hohe Anteil von
Aleviten in radikalen linken, teilweise militanten
Organisationen.
Heute bekennen sich zahlreiche Aleviten öffentlich zu
ihrer Identität und zu ihrem lange geheim gehaltenen
Glauben. Konservative und nationalistische Aleviten
behaupten, das Alevitentum habe den "wahren" Islam
der Türkei geschaffen, ihr Islam entspreche den
Eigenheiten der Türken mehr als die den Arabern
entlehnte Orthodoxie. In den neunziger Jahren kam es
zu mehreren gewalttätigen Ausschreitungen zwischen
politisch Konservativen der extremistischen Sunniten auf
der einen und Angehörigen der alevitischen
Glaubensgemeinschaft auf der anderen Seite. Die
Auseinandersetzung um die eigene Identität ist in
vollem Gange.
Laizismus und Islam heute
Ihren sichtbaren Ausdruck findet die
Auseinandersetzung um die Rolle des Islam in der
türkischen Gesellschaft heutzutage in der Diskussion um
das Tragen des Kopftuchs. Das laizistische
Establishment sieht darin eine politische Manifestation
und untersagt es an im weitesten Sinne "staatlichen"
Plätzen. Dazu gehören vor allem das Parlament, die
Regierung und die Verwaltung. Auch Studentinnen ist es
seitens der staatlichen Behörde für die Aufsicht über die
Universitäten nicht gestattet, das Kopftuch auf dem
Campus zu tragen. Protesthandlungen von Frauen, die
das Kopftuch an Orten anlegen, wo dies verboten ist,
lösen in der Öffentlichkeit und in den Medien zum Teil
leidenschaftliche und kontroverse Reaktionen aus.
Heute verfügt in der Türkei keine islamisch orientierte
Gruppe, Bewegung oder Partei über ein Monopol.
Hatten die diversen islamistischen Parteigründungen,
die sich mit dem Namen Necmettin Erbakan verbinden,
früher sozialen Protest in der Sprache des Islam zu
artikulieren gesucht, so hat die islamische Bewegung in
der Auseinandersetzung mit der türkischen Gesellschaft
während der neunziger Jahre an Breite zugenommen.
Inwieweit sie zu einem integralen Bestandteil der
türkischen Demokratie werden könnte, ist eine der
großen Zukunftsfragen an die Türkei.
Aus: Informationen zur politischen Bildung, Heft 277
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