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Steinigungen der Neuzeit - Der Fanatismus schreitet voran

Auch in Malaysia und in Indonesien gibt die Scharia Anlaß zu tiefster Sorge

Von Thomas Berger

Im Norden Nigerias droht erneut einer Frau wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs die Steinigung – bis Anfang übernächsten Jahres soll sie sich noch um ihr acht Monate altes Baby kümmern dürfen. Die Entscheidung der Richter nach dem religiösen Gesetz, der Scharia*, elektrisierte islamische Länder. Auch in Südostasien, wo es mit Indonesien und Malaysia zwei muslimische Mehrheitsgesellschaften gibt, ist man zutiefst besorgt.

Volle eineinhalb Seiten widmete die in Kuala Lumpur erscheinende, englischsprachige New Straits Times dem Thema. Tod durch Steinigung – bald auch bei uns möglich? Nicht ohne Grund, wurde doch 1993 und vor einigen Monaten in zwei malaysischen Teilstaaten die Scharia als offizielle Rechtsprechung eingeführt. Ungehört verpuffte der Hinweis der Kritiker, daß Passagen der Scharia eindeutig gegen die Verfassung Malaysias verstoßen. Premier Dr. Mahathir Mohammad, sonst ein strenger Verfechter der ethnisch-religiösen Vielfalt im Lande, scheut die Konfrontation mit den an Zulauf gewinnenden radikalen Islamisten. In deren Fahrwasser begibt sich, nach anfänglich moderaten Tönen, zunehmend auch die PAS, die größte Oppositionspartei im Land.

Mittelalterlich finster gemahnende Vorschriften sind im weltoffenen und selbst für Westeuropäer futuristisch anmutenden Kuala Lumpur unvorstellbar. Malaysias Hauptstadt und Finanzmetropole mit ihren Wolkenkratzern und den historischen Bauten der Kolonialzeit lebt von seiner Vielfalt, der Einheit von muslimischen Malaien, Chinesen und hinduistischen Indern. Ein Hindu-Tempel, wo Arme und Geschäftsleute am Morgen einen der vielen Götter um Glück für den Tag bitten, befindet sich fast in Sichtweite einer großen Moschee, wo kurz zuvor der Muezzin die muslimischen Gläubigen zum Gebet gerufen hat. Wenige Straßen weiter liegt eines der ältesten taoistischen Heiligtümer der Region. Kuala Lumpur ist gelebte Toleranz, Nachbarschaft über Herkunfts- und Glaubensgrenzen hinweg. Doch nur ein Stück weiter sieht die Realität schon anders aus. In zwei Teilstaaten, ländlich-traditionell geprägt und mit deutlicher muslimisch-malaiischer Übermacht, gilt seit einiger Zeit die Scharia: Jedem Dieb könnte eine Hand abgehackt, ein unverheiratetes Liebespaar zum Tod durch Steinigung verurteilt werden. Ob in Saudi-Arabien, den Norddistrikten Nigerias, dem Sudan, Iran oder Pakistan – überall gelten ähnliche Bestimmungen, wenn auch die Härte der Handhabung variiert.

Eine besonders unerbittliche Variante war in Afghanistan unter dem Regime der Taliban in Kraft. Die sittenstrenge Religionspolizei ließ immer wieder Personen öffentlich hinrichten, die eine der drakonischen Vorschriften verletzt hatten. Dazu wurde u.a. das Stadion in der Hauptstadt Kabul mißbraucht, wo man in der Halbzeitpause von Fußballspielen die Zuschauer zwang, mit anzusehen, wie vermeintliche Ehebrecher oder Frauen, die das Arbeitsverbot unterlaufen hatten, brutal hingerichtet wurden. Die Taliban gingen weit über das hinaus, was im Koran, der heiligen Schrift des Islam, festgelegt ist. Denn abseits einer einzigen Äußerung des Religionsstifters Mohammed gibt es keine religionshistorische Rechtfertigung für eine Steinigung von »Ehebrechern«.

Was heute als Scharia in islamischen Ländern praktiziert wird, entspricht späteren Interpretationen des Koran durch muslimische Gelehrte. Die Vorschriften werden dabei, wie in Nigeria, zunehmend für politische Auseinandersetzungen benutzt. Die zwölf Nordprovinzen des westafrikanischen Landes, in denen es eine muslimische Mehrheit gibt, haben erst vor wenigen Jahren die islamische Rechtsprechung eingeführt. Präsident Obasanjo, der aus dem Süden stammt und ein frommer Christ ist, scheut die offene Konfrontation mit den Islamisten. Und so wurde die geschiedene und nicht wieder verheiratete Amina Lawal (31) zum Tode durch Steinigung verurteilt, weil sie vor acht Monaten eine Tochter zur Welt brachte. Ein Verteidiger wurde ihr verweigert. Der mutmaßliche Vater des Kindes, der versprochen haben soll, Amina zu heiraten, plädierte für seine Unschuld. Solange nicht vier unbescholtene männliche Muslime das Gegenteil beeiden, ist er aus dem Schneider.

Für Frauen genügt in Nordnigeria schon die Anschuldigung als Schuldbeweis. Selbst in Fällen von Vergewaltigung ohne hinreichende Zeugen, was selten möglich ist, wurden, wie zuhauf unter den Taliban, nicht die Täter, sondern die Opfer verurteilt. Allein in Nigeria hat es seit Herbst 2001 drei Todesurteile gegeben, von denen aber keines vollstreckt wurde. In Pakistan ist der Fall einer 26jährigen, die in Korat verurteilt wurde, im Berufungsverfahren beim Obersten Gericht anhängig. Im Sudan konnte nur internationaler Druck die Richter des Supreme Court dazu bewegen, ein Steinigungsurteil außer Kraft zu setzen, das ein Gericht gegen eine 18jährige Christin verhängt hatte. Die meisten aktenkundigen Fälle vollzogener Steinigungen gibt es aus dem Iran – 1989 wurden zehn Prostituierte hingerichtet, 1990 fünf weitere Frauen, drei im Jahr 1991. 1992 wurde ein Urteil in der Großstadt Isfahan vollstreckt, im März 1994 eines in der Hauptstadt Teheran.

Die Liste ist lang und unvollständig. Aus Afghanistan und anderen Staaten ist bekannt, daß die (tiefreligiöse) Landbevölkerung bei Ehebrechern Hand anlegt, bevor ein Richter überhaupt entscheiden kann. In Pakistan werden bis zu 80 Prozent der in Gefängnissen einsitzenden Frauen des Ehebruchs oder der Prostitution beschuldigt – viele von ihnen von den eigenen Verwandten. Drei Regierungen waren nacheinander nicht in der Lage, den Machtkampf mit den Islamisten zu wagen und gegen die Scharia vorzugehen. Oft genug wird in Pakistan auch Selbstjustiz geübt. In den Nordregionen, wo archaische Stammesstrukturen dominieren, kann der Blick einer Frau auf einen fremden Mann genügen, um sie der Unsittlichkeit und des potentiellen Ehebruchs zu bezichtigen. Es gibt auch Fälle, wo Kinder »die Familienehre retten« wollten. So ermordete vor rund einem Jahr ein 15jähriger die eigene Schwester, gemeinsam mit seinem elfjährigen Cousin. Nachbarn wollten gesehen haben, daß sich das Mädchen (16) auf dem Feld mit einem jungen Mann aus der Nachbarschaft unterhalten hatte.

Das von Scharia-Verfechtern oft gebrauchte Argument, die harschen Gesetze sollten gerade Frauen schützen, empfinden liberale Muslime und Menschenrechtsgruppen als Hohn. Die malaysische Frauenrechtlerin Zaitun Mohammed Kasim verweist auf den Widerspruch zwischen den Worten des Koran und den Auslegungen der Interpreten. Dr. Chandra Muzaffar, Präsident der Internationalen Bewegung für eine Gerechte Welt (JUST), gibt sich der Überzeugung hin, Urteile wie in Nigeria seien in Malaysia nicht zu erwarten. Andere warnen vor falschem Optimismus. Das religiös-islamische Rechtsbewußtsein in Malaysia speise sich aus den gleichen Wurzeln wie in Pakistan oder Nigeria, gibt Zainah Anwar von der Organisation Sisters-In-Islam zu bedenken. Lediglich Bildung für alle und die moderne Entwicklung der malaysischen Zivilgesellschaft böten eine gewisse Sicherheit.

* Die Scharia (arab. »Weg zur Tränke«) ist Pflichtenlehre und religiöses Recht des Islam. Sie umfaßt kultische Pflichten (Gebet, Fasten, Almosen, Pilgerfahrt), ethische Normen und Rechtsgrundsätze (Ehe, Erbschaft, Vermögen, Wirtschaft, innere und äußere Sicherheit der Gemeinschaft). Sie ist aus der systematischen Arbeit der islamischen Gesetzesgelehrten des 7. bis 10. Jh. hervorgegangen und beruht auf dem Koran

Aus: junge Welt, 12. Oktober 2002



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