Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Begegnung statt Kampf

Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern

Von Karin Leukefeld *

Die Deutschen haben Angst vor dem Islam. 56 Prozent sollen sich laut dem Allensbacher Institut durch einen »Kampf der Zivilisationen« zwischen Christentum und Islam bedroht fühlen. Eine Umfrage des PEW Forschungszentrums in Washington fand heraus, dass acht von zehn Deutschen Islam gedanklich mit Fanatismus gleichsetzen und laut dem Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung fühlen sich 39,2 Prozent von Befragten wegen der Muslime »wie Fremde im eigenen Land«. Vor dem Hintergrund diffuser Ängste und Vorurteile formieren sich Ideologen, die - nicht zuletzt mit Hilfe unkritischer Medien und des Internets - den Islam bekämpfen. Doch sind »wir« wirklich vom Islam bedroht?

Die renommierten Wissenschaftler Emmanuel Todd und Youssef Courbage vom »Institut für Demographische Studien« in Paris haben einen erfrischend sachlichen Beitrag zu der ideologisch aufgeheizten und wissenschaftlich ungenauen Debatte vorgelegt. Sachkundig lenken sie den Blick hinter die Kulissen der islamischen Welt und lösen Erstaunen aus. »Die unaufhaltsame Revolution -- Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern« lautet der deutsche Titel ihres Buches. Der französische bringt es einfacher auf den Punkt: »Le Rendez-Vous des Civilisations«, heißt die Originalausgabe, also: »Die Begegnung der Zivilisationen.« Die Idee der »Begegnung der Zivilisationen« richte sich gegen das Buch »Kampf der Kulturen« von Samuel Huntington, erläuterte mir Youssef Courbage in einem Gespräch. »Wir wollten die Behauptungen Huntingtons widerlegen und haben bei unseren Studien herausgefunden, dass die muslimische Bevölkerung in den 50 Ländern, die wir untersucht haben, erhebliche kulturelle und demographische Veränderungen durchläuft, die sie den Gesellschaften der westlichen Welt immer näher bringen.«

Der Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd und der Soziologe und Demograph Youssef Courbage haben demographische Daten aus muslimischen Ländern in Afrika, Europa, Zentralasien und der Arabischen Halbinsel ausgewertet und herausgefunden, dass »der Modernisierungsprozess vergleichbar ist mit dem, den Europa im 18. Jahrhundert durchlaufen hat«. Im Pariser Becken war erstmals die Geburtenkontrolle praktiziert worden, nachdem erst die Männer, dann die Frauen mehrheitlich lesen und schreiben konnten und sich in ihrem Sozialverhalten veränderten. »Diese demographische Revolution und der damit einhergehende Modernisierungsprozess hat in der muslimischen Welt vor etwa 30 bis 40 Jahren begonnen«, sagt Courbage. Was in Europa seit zwei Jahrhunderten bis heute andauere, entwickele sich in der muslimischen Welt innerhalb kürzester Zeit. Statistiken lokaler Meldebehörden, arabischer und internationaler Gesundheits- und Bildungsfonds sowie der Vereinten Nationen zeigen, wie rasant sich die Alphabetisierung in der islamischen Welt entwickelt hat. Die Folge ist ein Geburtenrückgang, das Konsumverhalten ändert sich, die Bedeutung der Religion geht zurück.

»Jeder demographischen Veränderung geht ein kultureller Umbruch voraus«, sagt Youssef Courbage. Besonders verunsichert seien die patrilinear geprägten islamischen Gesellschaften durch die Emanzipation der Frauen, was weniger am Tragen oder Nichttragen eines Schleiers festzumachen sei -- im westlichen Denken ein Zeichen von Rück- oder Fortschritt -- als an dem Zustrom von Mädchen und Frauen in Schulen, Universitäten und auf den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig fielen die Geburtenraten, so Courbage. Hätten arabische Frauen vor etwa 30 Jahren noch sieben, acht oder mehr Kinder geboren, seien es heute nur noch zwei oder drei. »Wenn in einer konservativen Gesellschaft die Frauen aktiv Geburtenkontrolle betreiben, kann ihre Sexualität nicht mehr kontrolliert werden. Auch das führt zur mentalen Verunsicherung in der Gesellschaft.«

Ideologen bemühten selten den Blick auf die Details des Lebens und die Medien, so Youssef Courbage, berichteten über soziale Probleme völlig anders als Sozialwissenschaftler. In Frankreich seien beispielsweise viele der Ansicht, die Nordafrikaner seien gewalttätige und ungebildete Anarchisten und Islamisten. »Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die nordafrikanische Gemeinde in Frankreich mehrheitlich säkular eingestellt ist, viele sind mit Franzosen verheiratet und transportieren die kulturelle und geistige Modernisierung in ihre Heimat«, wenn sie dort ihre Familien besuchen.

Die Bevölkerungsforschung, so Courbage, weite den Blick in die Zukunft. Die Bahnen, auf denen sich die Völker der Welt, die verschiedenen Kulturen und Religionen weiterentwickelten, strebten aufeinander zu. Huntington habe die westliche, die christliche Zivilisation als rational bezeichnet, die Muslime aber als irrational.

»Wir zeigen, dass die Menschen überall in der Welt rational denken und handeln, sie befinden sich lediglich historisch auf unterschiedlichen Stufen«, sagt Courbage. Und er ist überzeugt: »Allmählich wird die muslimische Welt die Verspätung aufholen und mit der westlichen Welt gleichziehen.«

Youssef Courbage/Emmanuel Todd: Die unaufhaltsame Revolution - Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. Piper, München 2008. 208 S., geb., 16,90 EUR; ISBN: 3492051316

* Aus: Neues Deutschland, 13. November 2008


Zurück zur Seite "Islam"

Zurück zur Homepage